Grenzüberschreitende tarifpolitische Kooperation am Beispiel BeNeLux-Deutschland und ihre politisch-ökonomische Begründung

 

Auf einem Gipfeltreffen der verantwortlichen Tarifpolitiker im niederländischen Doorn haben die Gewerkschaften und Gewerkschaftsbünde Belgiens, Deutschlands, der Niederlande und Luxemburgs am 5. September in Doorn (NL) eine gemeinsame Erklärung zur tarifpolitischen Kooperation verabschiedet. Der dänische Europäische Arbeitsmarktdienst (EA) bezeichnet das Ereignis zu Recht als "möglicherweise historischer Schritt".

Dieses Projekt der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zwischen den Gewerkschaftsbünden hatte mit einer Anfrage der beiden belgischen Gewerkschaftsbünde an die deutschen und niederländischen Bünde bereits1996 seinen Anfang genommen. Anlass war das belgische Gesetz zur Lohndämpfung, das den Durchschnitt der von der OECD vorhergesagten Lohnerhöhungen in den Nachbarländer Frankreich, Niederlande und Deutschland als Maximalgrenze für die zweijährigen belgischen Tarifabschlüsse setzt.

Daraus wurde die Idee geboren, durch nachbarschaftliche Kooperation - Informationsaustausch und Absprachen - grenzüberschreitende Tarifunterbietung zu verhindern.

Es ist klar, dass dies im Zeichen des europäischen Binnenmarktes und des EURO ein europaweites Anliegen sein muss, die Beteiligten hielten es aber für erfolgversprechender, zunächst im kleinen Kreis Benelux-Deutschland zu konkreten Ergebnissen zu kommen.

Das erstes Gipfeltreffen im Juni 1997 konkretisierte diese Idee in Form einer seither regelmäßig zusammentretenden Expertengruppe, die den Informationsaustausch und die Zusammenarbeit koordiniert und auch die jährlichen Gipfeltreffen vorbereitet.

Der harte Kern der "Erklärung von Doorn" - im Hinblick auf die Vermeidung von Unterbietungskonkurrenz - ist zweifellos die tarifliche Orientierungsformel:

Tarifabschlussvolumen =
Preisentwicklung + Produktivitätssteigerung

Der Charme dieser Formel ist ihre universelle Anwendbarkeit. Es wurde bewußt keine Prozentzahl vereinbart, um auf die möglicherweise unterschiedliche Produktivitätsentwicklung in verschiedenen Ländern Rücksicht zu nehmen.

Die Stoßrichtung der Vereinbarung (eine Art Selbstverpflichtung der beteiligten Gewerkschaften) lautet: Verhinderung von tariflicher Unterbietung, wobei die vereinbarte Formel der Orientierung dient. Niemand wird eine Gewerkschaft kritisieren, wenn sie besonders günstige Bedingungen des Wirtschaftszweiges ausnutzt, um einen höheren Abschluß zu tätigen. Außerdem bietet die Formel volle Flexibilität bei der Frage, ob und in welchem Verhältnis das angestrebte Abschlussvolumen auf Reallohnerhöhungen und/oder Arbeitszeitverkürzungen (oder andere kostenwirksame beschäftigungswirksame Maßnahmen) aufgeteilt werden soll.

Offensichtlich machen grenzüberschreitende tarifliche Absprachen nur Sinn, wenn sie von den Mitgliedsgewerkschaften mitgetragen und umgesetzt werden. Daher war auf deutscher Seite neben dem für Wirtschafts- und Tarifpolitik verantwortlichen DGB-Vorstandsmitglied auch der stellvortretende Bundesvorsitzende der DAG sowie die verantwortlichen Tarifpolitiker der vier größten DGB-Gewerkschaften IG Metall, IG BCE, ÖTV und IG BAU an dem Treffen beteiligt. Mit den andern sektoralen Mitgliedsgewerkschaften erfolgte die Rückkopplung vor und nach dem Gipfeltreffen in Doorn.

Die Ergebnisse von Doorn zeigen zugleich, dass die gewerkschaftlichen Dachverbände eine initiiernde, fördernde Rolle für die grenzüberschreitenden tarifpolitischen Kooperation wahrnehmen können.

In den Monaten vor dem Gipfeltreffen ging es in der transnationalen Vorbereitungsgruppe vor allem um Inhalte einer Erklärung der Teilnehmer, in der erstmals gemeinsame Ziele der nationalen Tarifverhandlungen niedergelegt werden sollten. Dabei wurden die gewerkschaftlichen Diskussionen von auch keynesianisch orientierten Wissenschaftlern beeinflußt, deren ökonomische und politische Analysen zu den lohn- bzw. tarifpolitischen Konsequenzen der europäischen Währungsunion im Zuge des politischen Klimawechsels in Europa erstmals wieder eine stärkere öffentliche Aufmerksamkeit fanden.

Die Analysen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) und des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung münden in dem Plädoyer für eine erneute Hinwendung der europäischen Gewerkschaften zu einer produktivitätsorientierten Reallohnpolitik; zugleich widersprechen die Institute der neoliberalen These, nur durch Tarifabschlüsse unterhalb des verteilungsneutralen Spielraums könne die deutsche und europäische Wirtschaft weltweit konkurrenzfähig sein.

Bekanntlich spielt sich der Austausch zwischen den EU-Volkswirtschaften ganz überwiegend im europäischen Binnenmarkt selbst ab, nur ein kleiner Teil des Warenhandels (in der Größenordnung von 10 Prozent) findet mit der übrigen Welt statt. Gleichwohl wird immer wieder ins Feld geführt, insbesondere die südostasiatischen Länder und die Wirtschaften des ehemaligen Sowjetblocks bedrohten aufgrund ihrer geringfügigen Arbeitskosten die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Die Zahlen sprechen eine andere Sprache:

Abbildung 1 zeigt die Exporte und Importe Deutschlands in und aus diesen Ländern sowie den Saldo des Handels. Seit Beginn der 90er Jahre - also seit Beginn der viel beschworenen "neuen" Herausforderung - hat Deutschland im Handel mit diesen Ländern seine Position ständig verbessert. Die zuletzt erzielten Überschüsse bedeuten übrigens, dass Deutschland aus dem Handel mit diesen Ländern per Saldo Arbeitsplatzgewinne verbucht und nicht etwa den Verlust von Beschäftigung.

Dass der dem deutschen Handels- und Leistungsbilanzüberschuss notwendigerweise entsprechende Kapitalexport auch Direktinvestionen enthält, ändern nichts an der erfolgreichen Behauptung und Verbesserung der deutschen Position. Den Platz an der Spitze der weltweiten Lohn- und zugleich Produktivitätsskala aufzugeben, um selbst noch mehr Direktinvestitionen anzuziehen wäre - wie DIW-Forscher Heiner Flassbeck (in der kurzen Episode Lafontaine Staatssekretär im Bundesfinanzministerium) kürzlich formulierte - gerade so, "als wenn ein Läufer auf den Sieg in einem Rennen verzichtet, nur um in den Genuß des Windschattens zu kommen".

Werfen wir nun einen Blick auf die Entwicklung der deutschen Lohnstückkosten (Abbildung 2) im internationalen Vergleich. Die Lohnstückkosten, in denen sich sowohl die Arbeitskosten als auch die Produktivität widerspiegelt, sind zweifellos ein wesentliches Kriterium für die Wettbewerbsfähigkeit, denn:

Der empirische Befund für Westdeutschland ist eindeutig:

Der Vergleich der Lohnstückkostenentwicklung in US-Dollar (in welche die Ausgleichs-, aber auch Störfaktoren durch Wechselkursveränderungen eingehen) zeigt Westdeutschland insgesamt eng am Durchschnitts-Pfad der übrigen Industriestaaten (Abbildung 3).

Man kann das auch so ausdrücken:

all zu lange und all zu sehr können sich die Lohnstückkosten (in heimischer Währung) nicht stärker oder geringer entwickeln, bis hier - in der mittleren Frist - eine Korrektur durch Wechselkursveränderungen erfolgt.

Eben diese Puffer- oder Schleusenfunktion der Wechselkurse, mit denen auseinderlaufende Lohnstückkostenentwicklungen verschiedener Länder zeitweilig ausgeglichen werden, entfällt ab 1. Januar 1999 für alle 11 Euroländer. Innerhalb des Festkursblocks, zu dem neben Deutschland auch Belgien, Dänemark, Frankreich, Niederlande und Österreich gehören, ist dies schon seit 1987 der Fall.

Das bedeutet:

Die Entwicklung der Lohnstückkosten, damit letztlich die Tarifpolitik, ist zu einem direkt durchschlagenden Konkurrenzfaktor zwischen den jeweiligen Volkswirtschaften geworden:

Die Konsequenz für den Kurs der Gewerkschaften der Festkurs- bzw. Euroländer liegt auf der Hand:

Bleibt die Frage: auf welchem Pfad soll das geschehen? Welchen Maßstab setzen wir hier sinnvollerweise an?

Man braucht kein Anhänger der Kaufkraft-Theorie zu sein, um die Einsicht zu haben, dass in einem relativ geschlossenen Euromarkt die Reallohnentwicklung nicht auf Dauer hinter der Steigerung der Arbeitsproduktivität zurückbleiben darf, wenn der volkswirtschaftliche Kreislauf funktionieren und ein stabiles Wirtschaftswachstum erreicht werden soll.

Abbildung 4 zeigt sehr deutlich, dass seit 1982 eine solche Parallelität von Produktivitäts- und Reallohnentwicklung praktisch nicht mehr erreicht wurde, sondern dass die Reallöhne systematisch hinter der Produktivität zurückgeblieben sind.

Für die Zeit seit 1993 ist aus Abbildung 5 ersichtlich, dass sowohl in der EU der 15 Länder, als auch in den Ländern des Festkursblocks in keinem Jahr der verteilungsneutrale Spielraum zur Nominallohnerhöhung ausgeschöpft wurde.

Mit andern Worten: de facto haben die beteiligten Ländern grenzüberschreitende Lohnunterbietungs-Konkurrenz betrieben!

Einen der zahlreichen Belege, dass die Politik der Lohndämpfung oder Lohnmäßigung kein Patentrezept für mehr Arbeitsplätze sein kann, liefert Abbildung 6:

Zwar gibt es im Unterbietungswettlauf auf Arbeitnehmerseite auf lange Sicht wohl nur Verlierer, aber trotzdem kann das eine oder andere Land zeitweilig dabei die "Nase vorn" oder exakter gesagt "tief unten" haben.

Abbildung 7 zeigt Dreierlei:

1. sind die Lohnstückkosten im Festkursblock seit 1987 geringer gestiegen als in den USA oder in Europa insgesamt,

2. haben sich die Lohnstückkosten Westdeutschlands zwischen 1987 und 1994 ziemlich parallel zu denen der anderen Länder im Festkursblock entwickelt,

3. hat Westdeutschland seit 1994 bei der Senkung der Lohnstückkosten ununterbrochen "den Vogel abgeschossen"!

Dass dieser fragwürdige "Sieg" im Unterbietungswettlauf bei uns kein Jobwunder erzeugt hat, ist allgemein bekannt, nach dem bisher Gesagten aber auch nicht verwunderlich.

Soviel zur politisch-ökonomischen Begründung der Doorner Orientierungsformel.

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Dass sich durch den Regierungswechsel in Deutschland auch auf europäischer Ebene zumindest die Chance für einen Politikwechsel, für eine Ablösung der neoliberalen Hegemonie ergeben würde, konnten die beteiligten Organisationen in Doorn noch nicht wissen. (Wie brüchig diese Chance allerdings ist, zeigte sich wenige Monate danach in der veränderten politischen Konstellation, die im Rücktritt des Finanzministers Oskar Lafontaines, der mit seiner Mannschaft für einen solchen Politikwechsel in Europa eintrat, zum Ausdruck kommt.)

Wenn - wie in Doorn erneut gefordert - auch die anderen politischen Akteure (Gesetzgeber und Regierungen, Europäische Zentralbank und Arbeitgeber) ihren Teil der beschäftigungspolitischen Verantwortung auf sich nähmen, könnte sich daraus in der Tat eine soziale und wirtschaftliche Wende in Europa ergeben. Eine soziale und wirtschaftlich vernünftige Alternative zur bisherigen neoliberalen Politik müsste u. a. die folgenden Elemente enthalten:

 

Joachim Kreimer-de Fries
(DGB-Bundesvorstand, Referat Europäische Tarifpolitik)

Dieser Beitrag ist erschienen in: ötv-Hintergrund Nr. 3 - Mai 1999, Info-Dienst für Vertrauensleute und Mandatsträger des ÖTV-Bezirks Nordrhein Westfalen (NW1).