Dokumentation: Auszug aus dem "Handelsblatt"-Gespäch mit DGB-Referatsleiter Joachim Kreimer-de Fries und dem EMB-Generalsekretär Reinhard Kuhlmann, Handelsblatt-Ausgabe vom 10./11.09.99

Die Lohnformel von Doorn wurde 1999 in Deutschland und den Beneluxländern weitgehend eingehalten

Kerneuropa will die Tarifpolitik stärker koordinieren

HANDELSBLATT, Donnerstag, 9.9.99
pt DÜSSELDORF. Vor einem Jahr trafen sich die Gewerkschaftsbünde Belgiens, Deutschlands, Luxemburgs und der Niederlande im niederländischen Doorn und verpflichteten sich, bei künftigen Tarifabschlüssen den "neutralen Verteilungsspielraum" auszuschöpfen. Die Lohnerhöhungen sollten sich zusammen mit den Kosten anderer auch beschäftigungswirksamer Vereinbarungen an der Summe aus nationaler Preissteigerungsrate und Produktivitätszuwachs orientieren.

Am heutigen Freitag treffen die Teilnehmer von damals erneut zusammen, um unter anderm eine Bilanz der Tarifrunde 1999 zu ziehen. Joachim Kreimer-de Fries, zuständiger Referatsleiter im Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), ist sicher, dass sie positiv ausfallen wird. Im jeweiligen nationalen Durchschnitt seien die Tarifeinkommen in den vier Ländern 1999 um plus/minus drei Prozent erhöht worden, berichtet er. Hinzu kamen in einigen Bereichen Vereinbarungen zur Verbesserung anderer Arbeitsbedingungen. "Im nationalen Durchschnitt dürften die Tarifabschlüsse damit in jedem Fall der Summe von Preis- und Produktivitätsentwicklung des jeweiligen Landes entsprechen."

Ein weiterer Schwerpunkt des Meinungsaustauschs in Haltern werden die beschäftigungspolitischen Komponenten der Tarifpolitik sein. Nach der Erklärung von Doorn sollen Verteilungsspielräume nicht nur zur Stärkung der Kaufkraft ausgeschöpft werden, sondern auch für beschäftigungspolitische Massnahmen wie eine Verkürzung der Arbeitszeit genutzt werden können. Auch die Frage, ob die tarifpolitische Kooperation der Vier für einen Europäischen Beschäftigungspakt nutzbar gemacht werden kann, steht auf der Tagesordnung. Hauptstreitpunkt hier ist das auch in Deutschland viel diskutierte Thema "staatliche Lohnleitlinien".

Prominentester deutscher Gastredner auf dem Treffen ist der ehemalige Staatssekretär im Bundesfinanzministerium, Heiner Flassbeck. In seiner Zeit als Mitarbeiter des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung hat er das Rezept einer rein produktivitätsorientierten Lohnpolitik zur Vermeidung einer Abwärtsspirale bei den Lohn- und Arbeitsbedingungen entwickelt und wissenschaftlich untermauert.

Die Initiative von Doorn hat im europäischen Gewerkschaftslager überwiegend Zustimmung gefunden. Die deutsche IG Metall übernahm die Lohnformel. Die Internationale der Chemiegewerkschaften (ICEM) wirbt offensiv für die Initiative von Doorn. Auf seinem Kongress Ende Juni beschloss der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB), die europäische Tarifkoordinierung zu einer zentralen Aufgabe zu machen. Streit unter den Gewerkschaften gibt es aber gerade um die Rolle des EGB. Für Kreimer-de Fries ist klar, dass vom EGB keine konkreten Vorgaben für die Lohnpolitik auf EU-Ebene kommen können. Schon gar nicht könne er Tarifverträge abschliessen. Doch könne er wichtige Anstösse geben und bei allgemeinen tarifpolitischen Zielen wie Arbeitszeitverkürzung und produktivitätsorientierte Reallohnpolitik eine koordinierende Rolle übernehmen. ....

Der Widerstand gegen eine starke Rolle des EGB bei der Entwicklung einer EU-weit abgestimmten Tarifpolitik ist denn auch nicht so prinzipiell, wie es den Anschein hat. So spricht der Generalsekretär des Europäischen Metallarbeiterbundes (EMB), Reinhard Kuhlmann, von einer "Synergie der Initiativen", zu denen die Doorn-Gruppe gehöre.

Gleichwohl setzt er vor allem auf die Branchengewerkschaften, die selbst Tarifverträge abschliessen. Viele kleine Netze von Kooperationspartnern, die in der Summe zu einer gleichgerichteten Tarifpolitik in der EU führen, dies hält Kreimer-de Fries für das realistischste Ergebnis der Initialzündung von Doorn. Eine Ausweitung der Doorn-Gruppe auf weitere Länder sei dazu nicht unbedingt erforderlich. Europäische Tarifverträge wird es deshalb seiner Ansicht nach so bald nicht geben. Die nationalen Gewerkschaften und ihre unterschiedliche starken Dachverbände würden sich auf keinen Fall ihre Autonomie beschneiden lassen. Dies sei auch niemals das Ziel gewesen.