Call Center - Jobmaschine oder böser Dämon?
In zwei Folgen der Fernsehserien "Akte X" und "Millenium" organisieren Sekten ihre Mitglieder mithilfe von Call Centern. Diese medialen Kommentare zur Gestaltung der modernen Arbeitswelt verweisen auf zweierlei - zum einen auf den Trend, Belegschaften in Call Centern auf eine "corporate identity" einzuschwören, die eine Unterwerfung des Einzelnen unter eine als nicht hinterfragbare, metaphysische und streng hierarchisch strukturierte Konzernethik verlangen, zum anderen auf das nahezu unbegrenzte Verwendungsspektrum der kombinierten Telefon-Computer-Arbeitsplätze.
Call Center sind an sich kein Phänomen der 90er Jahre: Telefonzentralen gibt es beinahe, seitdem es das Telefon gibt. Doch die Einbindung des Computerterminals in die Telefonie-Tätigkeit schafft Arbeitsplätze mit völlig neuen Bedingungen und Belastungen - und das nicht zu knapp: die Call-Center-Branche, als "Branche von Branche", mäandart hydragleich in den Arbeitsmärkten der globalen Wirtschaft und schafft Millionen von "Jobs" (wobei noch strittig ist, ob sich das Wort "job" vom altenglischen Wort für "Happen" oder von "Hiob" ableitet), die schlicht und ergreifend durch Rationalisierung in allen Bereichen der Wirtschaft entstehen. Die Berichterstattung ist einseitig: es ist kaum die Rede davon, daß Call Center als Outsourcing-Vehikel insgesamt eher Symptom des Abbaus von Arbeit im "Terror der Ökonomie" sind, als Instrumente additiver Schaffung von Arbeitsplätzen. Wo immer Call-Center in größerem Ausmaß entstehen, kann man beinahe sicher sein, daß sie den Wegfall von besser bezahlten Dauerarbeitsplätzen unvollständig kompensieren, Vollzeit- durch Teilzeitarbeitsplätze ersetzen, tariflich gesicherte Arbeit durch Niedriglohnarbeit substituieren und in der Summe weniger (und häufig ungeschützte) Arbeitsverhältnisse erzeugen, als genau durch ihre Implementierung anderswo wegfallen.
Die Arbeitsplätze in Call Centern bieten von vornherein präkarisierte Beschäftigungsverhältnisse: der Arbeitsplatz im Call Center ist immer ein von vornherein gefährdeter Arbeitsplatz und gerade dies setzt Call Center-Beschäftigte unter einen enormen Anpassungsdruck. Von technischer Seite droht die Ersetzung von Call Center-Tätigkeiten durch Spracherkennungssysteme und Online-Dienste, von Arbeitgeberseite wird mit Standortwechseln gedroht, für die sich kaum geeignetere Betriebsstätten finden als die "schwebende Betriebsstätten Call Center", die immer tendenziell virtuell ist und aufgrund der Leichtigkeit der Verlagerung der Tätigkeiten permanent bedroht ist von Hegels Furie des Verschwindens. Ein Knopfdruck: und die deutsch sprechenden Kollegen in Dublin ersetzen die zu teuren Agenten in Frankfurt. Im Kontrast zur Monotonie der Dauertelefonie, die eine permanente Dialektik von Überforderung durch die hohe Frequenz der Anrufe und Unterforderung durch die Monotonie der Tätigkeit in Gang hält, lassen die Anforderungsprofile in den Stellenausschreibungen vermuten, man bewerbe sich auf einen Posten in der Geschäftsleitung. Nicht selten rückt man Bewerbern in Assessment-Centern auf Leib und Seele, so als wolle man wie in einer Schauspielschule Wille und Persönlichkeit der Absolventen vorab brechen, um sie möglichst formbar und programmierbar zu machen.
Das macht aus Sicht der Betreiber von Massen-Call-Centern Sinn, die den monotonen Singsang gleichgeschalteter ("standardisierter") Zwangskommunikation, die nur aus zu repitierenden Sprachhülsen besteht umdeuten zu religiösen Litaneien. Denn um nichts anderes als devote Litaneien einer metaphysischen "corporate identity" handelt es sich bei dem Singsang der Agenten, die für die Dauer der Schicht in einen sinnentleerten Trancezustand versetzt werden. In Call Centern findet das Gegenteil von Kommunikation statt, weil die "Quasi-Gespräche" aus vorgebenen Formeln bestehen, die auch die Gesprächsteilnehmer am anderen Ende der Leitung zwangsanpassen an einen starren Gesprächsverlauf. Mit Kundenorientierung hat das ebensowenig zu tun, wie die Umstellung von Münz- auf Kartentelefone Reaktion auf einen Bedarf beim Kunden war, sondern Vorgabe von Standards, an die der Verbraucher sich anzupassen hatte. Die Agenten der Kommunikation zu entheben, indem man Sie zu säuselnden Dummies reduziert, ist eine prohylaktische Maßnahme: wenn Kommunikation die heiße Ware der Informations- und Wissensgesellschaft ist, dann steckt in diesem Umstand erheblicher sozialpolitischer Sprengstoff. Sprache ist geistiges Nitroglyzerin - manch Arbeitskampf wäre nicht ohne Flüsterpropaganda in den Werken möglich gewesen. Ungleich gefährlicher wird es, wenn Kommunikation selbst zum Werkstoff wird. Call Center Agenten sitzen an der wichtigsten Stelle in ihren Unternehmen: an der Schnittstelle zwischen Kunden und Unternehmen. Was im klassischen Produktionsbetrieb Privileg weniger war, die Kommunikation mit den Kunden, die über Erfolg und Mißerfolg des Vertriebes und des Unternehmens entschied, wird zur Qualifikation, die von der Majorität der Erwerbstätigen gefordert wird. Man stelle sich vor, in Call Centern entwickele sich ein Bewußtsein der nicht nur numerisch-physischen Überlegenheit der Werktätigen, sondern Ihrer kollektiven Überlegenheit in Sachen kommunikativer Kompetenz. Wozu noch Teamleiter oder Chefs, wenn die qualifizierteste Tätigkeit und damit auch die Entscheidung über Weh und Wohl des Unternehmens von der überwältigenden Mehrheit der Beschäftigten getroffen wird? Die klassische Machtpyramide tayloristischer Organisationen würde auf den Kopf gestellt, das Prinzip herrschaftsloser Selbstorganisation würde regieren und sehr rasch wären Call Center-Belegschaften die Kernzellen global ausgerichteter Revolutionen.
Damit es so weit nicht kommt, nimmt man sogar Effizienzverluste in Kauf, die durch den Mißmut der Kunden über die Ödnis der Hotline-Kommunikation entstehen, und die vermieden werden könnten, wenn die Call Center Agenten, die aufgrund des direkten Kundenkontaktes die wahren Experten in Sachen Kundenbedürfnisse sind und eigentlich die Auswertung der Gespräche ebenso selbst vornehmen könnten wie die strategischen Entscheidungen des Unternehmens, als Entscheider und nicht als Lakaien definiert wären. Das aber geht natürlich nicht: man müßte die Lohnpyramide ebenso auf den Kopf stellen, wie die Machtverhältnisse. Das die so bleiben wie sie sind, das einige wenige über sehr viele herrschen und dies im Call Center-Geschäft ersichtlich oft im umgekehrten Verhältnis zu Kompetenzen und Qualifikationen, bleibt nur gewährleistet durch die totale Entschärfung der Kommunikation durch Standardisierung und die Abwertung der Funktion des Agenten durch eine Betriebsorganisation, die nicht umsonst den Begriff "Galeere" für die Großraumbüros der Call Center hervorgebracht hat. Devot und nicht pfiffig sollen die Agenten sein: die Philosophie der Konzerne im Banken- und Versicherungsbereich predigt unisono das Prinzip der totalen Unterwürfigkeit unter die Doktrin der Kundenorientierung und die Doktrin des Konzernerfolgs, des Service-Levels und der corporate identity. Corporate identity heißt: die sorgsam herangezüchtete Ich-Schwäche vieler, die Kennzeichen religiöser Unterwürfigkeit ist, zementiert das Über-Ich des Unternehmens.
Wieder einmal sind es die Kapitalisten, die ohne großen Drang zur Eitelkeit, der sich so gerne in Publikationen niederschlägt die wichtigen Schriften eher verstanden und umgesetzt haben, als diejenigen, deren Aufklärung und Mobilisierung sie dienen. So wie "Das Kapital" eine Gebrauchsanweisung für Kapitalisten zur Prävention der intendierten Revolution ist, so ist Marshall McLuhans "Understanding Media" für die Konzernstrategen eine einzige Fundgrube zur Instrumentalisierung von Medien in der Arbeitswelt mit dem Ziel, die Erwerbstätigen zu disziplinieren und sie Ihrer Arbeit zu entfremden. McLuhan begreift Medien, insbesondere elektronische Medien als Extensionen von Organen des menschlichen Körpers und Extensionen des zentralen Nervensystems. Allerdings neigt McLuhan dazu, Medien als Extensionen der Organe der Rezipienten zu sehen. In der Arbeitswelt der "Neuen Märkte" ist das anders - Computer, Telefon, keyboard, mouse sind Extensionen des "Konzernkörpers" (der "corporate identity"), die zugreifen auf den Bediener. Sie vollenden einen Prozess der Entfremdung von Arbeit, der im industriellen Zeitalter und im produzierenden Gewerbe am physischen Apparat ansetzte. Das Fließband gab den motorischen Ablauf der Tätigkeit vor, es disziplinierte den Körper in einem Sinne, wie Foucault es in "Die Geburt der Klinik" beschrieb. Die Produkte waren dem Arbeiter enteignet, aber die Arbeit nahm ihm nicht seine Sprache, seinen Jargon und seine Gedanken. Der Wirkungskreis Foucaults "panoptischen Turmes", der das Prinzip der Ersetzung von Fremd- durch Selbstkontrolle symbolisiert (und dessen Entsprechung im Werk die abgesetzte Etage ist, durch dessen Glasfront die Führungskräfte auf die Werktätigen zumindest kontrollierend herabsehen könnten) endete beim "hidden knowledge" der Arbeiter, bei Ihrer Flüsterpropaganda und Ihrer Gedankenfreiheit, beim schweifenden Blick und beim lauschenden Ohr. Ganz anders im Call-Center: das Prinzip totaler Kontrolle und Enteignung macht hier weder vor den Sinnen, noch der Sprache, noch den Gedanken, der Ethik, der gesamten Persönlichkeit des Einzelnen Halt. Nebeneffekt: die Krankheiten sind weitgehend psychosomatisch, ungreifbarer Natur. Während der Hammer, der auf den Fuß des Werktätigen fällt, Spuren hinterläßt, die sichtbarer Beweis eines Arbeitsunfalls und Indiz der Arbeitsunfähigkeit sind, steht der Erwerbstätige im Call Center bei Krankheitsbildern wie "RSI", "Sick Building Syndrome", Migräne, Kopfschmerzen, Depressionen etc. unter permanenter Beweisnot. Die Arbeitsbedingungen sind als Ursache der erst noch nachzuweisenden Krankheitsbilder ebenso schwer nachweisbar. Dabei ist evident, daß die permanente Beanspruchung sämtlicher Sinne (Taktil beanspruchen keyboard und mouse die Aufmerksamkeit der Hände, visuell der Bildschirm, akkustisch das Telefon, zudem ist die Sprache eine Vorgegebene) zu gravierenden Belastungen führt und das der zusätzliche Mangel an geistigem und körperlichem Spielraum die Agenten zu Legehennen degradiert, selbst wenn die Bildschirmrichtlinien eingehalten werden. Das Perfide am Call Center-Arbeitsplatz ist jedoch, daß dem Agenten absolut nichts eigenes mehr bleibt: er redet im Namen eines Anderen, ohne seine eigene Sprache zu sprechen, sein Blick ist fixiert auf den Monitor, die einkommenden Telefonate werden "direct to ear" über französische Kopfhörer an ihn durchgestellt, seine linke Hand huscht nach Angaben des Kunden über die Tastatur, seine rechte Hand bewegt nach Angaben der Kunden die mouse. Entweder die Anruffrequenz ist hoch und hält den Agenten in totaler physischer und psychischer Beanspruchung, oder sie ist gering und er verharrt in permanenter Erwartungshaltung. Jedes längere Gespräch, jeder längere Gedankengang wird - anders als am Fließband - immer wieder unterbrochen. Das oft die corporate identity des Konzerns auch noch Eingang findet in sogenannten "Qualitätstrainings" (in denen nicht selten das Managment sofort mit Aufhebungsverträgen zur Stelle ist, sobald sich jemand weigert den "Service Shuffle" des Unternehmens mitzutanzen) die gehirnwäscheartig auch noch die letzten Reste eigenständigen Denkens und Verhaltens ausmerzen sollen, so radikal, das der Agent auch in der ohnehin durch flexible Arbeitszeiten diskontinuirlichen Freizeit Agent bleibt, was dadurch begünstigt wird, daß die Medien seiner Freizeit oft mit denen seiner Arbeitszeit identisch sind (Handy, Computer), rundet die Totalkontrolle über die Person ab.
Ideale Call Center Agenten hocken homogen an homogenen Arbeitsplätzen und verhalten sich wie Klone - jedem Kunden weltweit den gleichen Service anzubieten ist Ideal beispielsweise der Citibank. Das setzt Agenten voraus, die sich nicht voneinander unterscheiden. Man sieht: die Entfremdung ist im Call Center eine Totalenteignung, die nicht an der Schwelle vom Physischen zum Psychischen Halt macht - die von McLuhan präzise analysierte hypnotische Wirkung von Medien bindet den Agenten an seinen Arbeitsplatz, sie leitet seine Bewegungen, die Okkumulatorik, sein Hören, sein Reden und sein Denken und Verhalten, dem nach und nach die "defects" ausgetrieben werden. Davon erholen kann er sich dann im Internet-Cafe oder am Fernsehen, wo dann auch noch der Werbespot des Konzerns in dem er nie er selbst ist, immer wieder daran erinnert, was er für wen ist.
Hinter der Gestaltung von Arbeitsplätzen wie diesen verbergen sich Menschenbilder: Diener sollt Ihr alle sein, Agenten im Dienste Eurer Majestät, des Königshauses, das maßgebliche Anteile an dem Konzern hält, für den Ihr buckelt. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß mit der "NWO" die Renaissance der Monarchie als Herrschaftsprinzip wieder auflebt, nur daß die Herren sich nicht mehr mit Pomp feiern, sondern sich längst mit einem Prinzip arrangiert haben, das sich die reichen Bürgerlichen in den Spitzen der Weltkonzerne zu eigen machten: handele, ohne Dich sehen zu lassen. Veranstaltungen wie die "Millenium Round" der WTO finden selbstverständlich hinter verschlossenen Türen statt. Auch wenn diese satirische Akzentuierung nach Verschwörungstheorie riecht, so ist doch auffällig, daß die Mythen technischen Fortschrittes, so wie sie Massenmedien erzählen (etwa: "Krieg der Sterne") immer eine sozialpolitische Regression implizieren, in der es wieder Könige und Monarchien sind, die über die ach so fortschrittlichen TecWorlds herrschen. Verschwörungstheorien müssen nicht schon deswegen falsch sein, weil sie welche sind. Der galoppierende Call Center Wahn, der in Deutschland auch die Politik als Ausdruck öffentlichen Willens erfaßt, ist jedenfalls nicht einfach eine job-machine-Extase, sondern ein Transformationsprozess von für jede Demokratie dringend notwendigen mündigen Erwerbstätigen hin zu total gleichgeschalteten Dienern. Gleichschaltung heißt auf die Arbeitsprozesse bezogen das Gegenteil von Mobilmachung: die völlige Fesselung der Agenten an die Medien, die ihren Arbeitsplatz gestalten, ist eine körperliche und geistige Immobilmachung. Vom "servant" zum "slave" ist es ein kleiner Schritt.
Diese Zustandsbeschreibung ist natürlich anderer Natur, als die Debatte um Call Center als Outsourcing-Instrument, als "job-opportunity", als Niedriglohnsektor etc. Wenn der Ist-Zustand auch nur annährend zutreffend beschrieben ist, dann gehen all die Diskussion um "lebenslanges Lernen", Arbeits- und Gesundheitsschutz, Weiterbildung und -qualifizierung insofern am Kern des Problems vorbei, als hier an den Symptomen und nicht am Syndrom angesetzt wird. Wenn es gewollt ist, daß Call Center Brutstätten der Unterwürfigkeit derer sind, die man in sie auslagert, Brutstätten einer Stupidität, in der elektronische Zeiterfassung, Call-Monitoring (das Mithören von Kundengesprächen ohne Wissen des Agents), predictive dialing (das vom Agent nicht zu beeinflussende elektronische Anwählen von Adressaten), elektronische Leistungskontrolle und das Überwachtwerden von Führungskräften, die deswegen so loyal sind, weil sie häufig geringer qualifiziert sind als diejenigen, die sie zu ihrer eigenen Schadenfreude überwachen, die Totalkontrolle über Physis und Psyche der Sub-jecte im Sinne von Unter-Worfenen herstellen, dann gilt es, sehr viel tiefgreifendere gesellschaftliche Veränderungen anzustreben, als die Steigerung des gewerkschaftlichen Organisationsgrads in den neuen Unternehmen. Im Prinzip müßten sich - frei nach dem Motto: Konsumenten aller Länder vereinigt Euch! - im Rahmen von großangelegten Imagekampagnen die Kunden dazu aufgefordert werden, die Services von Call Centern nicht mehr in Anspruch zu nehmen, jedenfalls dann nicht, wenn in Ihnen nachweislich Verhältnisse wie die oben geschilderten herrschen und herrschen sollen. Bevor hier aber der Eindruck entsteht, hier solle eine "Branche von Branchen" insgesamt diskreditiert werden, sollen Entwicklungsperspektiven der Call Center-Branche aufgezeigt werden, und zwar ebenso gegen den Strich gebürstet, wie die Beschreibung des Ist-Zustandes.
Ist die schnöde neue Welt einsprachig? Vom Call-Center zum Communication Center, vom Communication zum Competence-Center, so stellt sich der anglizistische Dreischritt dar, der die Weiterentwicklung der Call Center-Branche beschreibt. Drei ist ja immer eine gute Zahl, klingt nach Bibel und Dialektik, und taucht seltsamerweise in fast jeder Hotline-Nummer auf (Ist die Betonung des dritten Buchstaben des Alphabetes in all diesen Begriffskombinationen Zufall?).
Die Call Center Branche ist von sich selbst begeistert: in Deutschland gibt es die Call Center-Offensiven, die Ausbildung zum Call Center Agenten, die Call Center Akademien, das European Centre for Media Competence etc., etc. Diese ganzen Initiativen sollen vor allem Signalwirkungen für Investoren großer nationaler und transnationaler Konzerne haben: da man auf die Call Center Branche als internationale Wachstumsbranche baut, buhlen Staaten, Länder und Kommunen mit allen möglichen aus der öffentlichen Hand finanzierten Initiativen um die Gunst großer Call Center-Betreiber.
Dies führt zunehmend zu Kapriolen, die so politisch eigentlich gar nicht gewollt sein können: das Praxisbeispiel Citibank wird hier deswegen besonders hervorgehoben, weil es richtungsweisend ist. Da kündigt im Anschluß an die Fusion von Travelers und Citicorp zu Citigroup die Doppelspitze des Weltkonzerns die Streichung von 10600 Stellen weltweit an (vor allem im Call-Center-Bereich in England, Deutschland und Spanien), kurze Zeit später schließt die Citibank in und außerhalb Nordrhein-Westfalens 6 Call-Center, gründet ein neues Service-Center in Duisburg, bietet den Kollegen in den geschlossenen Centern keine Übernahme an, reduziert in der Summe die Zahl der Arbeitsplätze, stellt trotzdem noch einen Antrag auf öffentliche Fördermittel für neugeschaffene Arbeitsplätze in der Stadt Duisburg und hätte mit diesem Anliegen Erfolg gehabt, wenn nicht die Kollegen in den von Schließung bedrohten und betroffenen Call Centern massiv öffentlich mobil gemacht hätten. Das Land NRW war durchaus geneigt, dem Förderantrag stattzugeben, denn: man befürchtete, in der Konkurrenz der Länder einen weiteren Abbau von Arbeitsplätzen in NRW, wenn man dem Anliegen der Bank nicht entspricht und wollte für andere ausländische Investoren, etwa Unternehmen wie Lucent Tecnology und Microsoft, die mit der Citibank kooperieren, günstige Ansiedelungsbedingungen demonstrieren. Der Kampf um Arbeitsplätze, die gerade in Call Centern entstehen, stellt sich in Deutschland als Erosion des Föderalismus dar, der sich zunehmend als ein Wettbewerb der Länder und Kommunen darstellt, der so scharf geführt wird, daß von einer Solidargemeinschaft nicht mehr die Rede sein kann. Es ist wohl nicht weit hergeholt, daß auch der EU Verhältnisse dieser Art drohen, in denen die Staaten ihrerseits einander gegenübertreten, wie konkurrierende Konzerne.
Dieses Beispiel zeigt, daß es eigentlich keiner Freihandelsabkommen wie des MAI bedarf, um eine Kapitulation der Politik als Ausdruck öffentlichen Willens vor den Drohgebärden von Konzernen zu bewirken. Gerade die extrem "luftigen" Call Center können wie in "StarTrek" in Instantangeschwindigkeit von Region zu Region gebeamt werden - irgendein Wurmloch führt für die Betreiber immer in einen Niedriglohnsektor.
Dabei ist es mehr als zweifelhaft, ob Call Center mehr sind als ein vorübergehendes Experimentierfeld der Touristik-, Banken- und Versicherungskonzerne, um Kompromittierbarkeit und Resignation der Politik vor der gewaltigen Finanzmacht von "global players" zu testen, denen durch Abkommen wie das NAFTA zudem noch der Status globaler Verfassungsorgane zukommt, die sich um nationale Gesetze kaum scheren müssen. Angesichts dieser Umstände muß man geradezu "schlaflos in Seattle" sein.
Während nämlich Kommunen, Länder und Staaten allzu bereitwillig und vorm Strukturwandel stehend wie die Kaninchen vor der Schlange auf das Märchen "Wachstumsbranche Call-Center" hereinfallen, wird um die junge Branche von zwei Seiten die Rationalisierungsschraube angezogen. Da in der Darstellung der Unternehmen die Kundengewinnung und -bindung gerade in den Branchen, in denen sich die Produkte mehr oder minder nur noch durch das Image voneinander unterscheiden, durch die Qualität und Quantität der den Kunden zusätzlich offerierten Dienstleistungen hergestellt wird, müssen einerseits Personalkosten gesenkt werden, um in den Service-Bereich investieren zu können, andererseits die Services gleichzeitig qualitativ und quantitativ angereichert werden. Schon jetzt - während die Call-Center-Branche noch als Wachstumsbranche gilt - werden dem gerade skizzierten Trend gehorchend schon wieder Arbeitsplätze abgebaut. Steigende Produktivität durch verbesserte Technik und standardisierte Tätigkeiten, sinkende Löhne und verminderter Kündigungsschutz durch Outsourcing und Tarifflucht sind der eine Teil der Daumenschraube, Reduzierung der Tätigkeitsfelder durch Implementierung von Spracherkennungssystemen und Internetservices die andere. Mag sein, daß das Internet Arbeitsplätze schafft, aber kaum soviele, wie durch das Internet bedroht sind. Es soll an dieser Stelle gar nicht einmal die Frage sein, ob die rein numerische Bilanz entscheidendes Kriterium dabei ist, wenn es darum geht zu bewerten, welche Perspektive die gesamte IT- und Multimedia-Branche bietet. Daß selbst eine positive Bilanz in der Summe vernichteter und geschaffener Arbeitsplätze statistisch geschönt ist, wenn sowohl 40-Stunden-Arbeitsplätze, als auch 32-Stunden-Arbeitsplätze gleichermaßen als Vollzeitarbeitsplätze gelten und nie die Frage ist, ob die neuen Arbeitsplätze auch nur annährend die Löhne, die Sicherheit, die Arbeitsbedingungen bieten, die den gestrichenen zu eigen war, nein, diese Debatte um die Hintergründe der "Job-Wunder" in den USA und den Niederlanden braucht man hier gar nicht führen, es genügt der Hinweis darauf, daß die qualitative Anreicherung der Dienstleistungen immer höhere Qualifikationen von immer weniger Erwerbstätigen fordern werden. Im Gleichschritt zur weiteren Technisierung und Standardisierung der Call Center-Arbeit entstehen Communication-Center, die spezialisiert sind auf second-level-support auf hohem Niveau unter Integration von Internet-Telefonie und Multimediaanwendungen (screen-pop-ups) und Competence-Center, die zusätzlich Coaching und Consulting feilbieten.
Es steht an eine weitere Konzentration diverser Arbeitsfelder verschiedener Komplexität, die - parallell zur Reduzierung des Personalbedarfs - immer höhere und ständig erweiterbare Qualifikationen fordern. Lebenslanges Lernen soll eben aus Sicht der Unternehmen bedeuten: lebenslanges Lernen als Anpassung an einen numerisch reduzierten aber qualitativ immer komplexeren Bedarf. Hochqualifizierte software-Experten mit totaler Dienermentalität, möglichst mit dreijährigem Aufenthalt in den USA, Harvard-Studium und mindestens zwei Hirnen und sechs Händen verlangen die Stellenausschreibungen der Zukunft. Die Frage ist: wo bleiben die anderen? Und was nützen alle Qualifizierungsmaßnahmen, wenn von 100 hochqualifizierten Bewerbern nur einer das Assessment-Center übersteht?
In den USA ist die Wachstumsrate der klassischen Call-Center-Arbeitsplätze bereits rückläufig, ohne, daß im Communication- und Competence-Center-Bereich entsprechender Arbeitsbedarf besteht: wohl, was die Qualifikation betrifft, nicht aber, was die Anzahl an Angestellten betrifft. Spätestens daran wird klar, was gemeint ist, wenn gelegentlich Banken und Versicherungen als die "Stahlarbeiterbranche des neuen Milleniums" bezeichnet werden. Allein in Deutschland, so fürchtet man, werden durch die Auslagerung von Dienstleistungen in outgesourcte, nicht tarifgebundene GmbHs über 100 000 hochqualifizierte Angestellte arbeitslos werden. Für die "normalen" Arbeitslosen, gar für Langzeitarbeitslose bleibt da nur noch die Flasche und die Zigarette: es sei an dieser Stelle nur am Rande darauf hingewiesen, daß mittlerweile Herzinfarkt nicht mehr eine den Managern vorbehaltene Todesursache ist, sondern längst eine der Haupttodesursache in der arbeitenden (und arbeitslosen) Bevölkerung ist.
Jedem ist einleuchtend, welche verheerenden Auswirkungen es für eine Volkswirtschaft hat, wenn Deregulierung und Wettbewerb einseitig zur Schaffung von Niedriglohnsektoren, zur Aufweichung von Kündigungsschutz, zu Personalabbau führen: sinkende Einnahmen des Staates, sinkende Kaufkraft (nebenbei: eine Katastrophe für den Mittelstand) und wachsende Arbeitslosenzahlen lähmen die sozialen Sicherungssysteme entweder durch fehlende Einnahmen oder eine zunehmende Staatsverschuldung, die dazu führt, daß die wachsenden Zinslasten der Steuerzahler trägt, der einen immer größeren Teil seiner Bezüge als Gewinne an die Banken abführt, die als Darlehensgeber der Weltbank auftreten. Es ist - in Anbetracht des Gesagten - geradezu absurd, welche Hoffnungen nicht nur in Call-Center gesetzt werden, sondern insgesamt in all die Märkte, die mit dem label "innovativ" versehen werden, sei es Mikroelektronik, Biotechnologie oder Multimedia. Abgesehen davon, daß in Deutschland und anderswo komischerweise immer das als "innovativ" gilt, worin andere schon längst weiter sind und "Innovation" immer die Forderung beinhaltet, bereits bestehenden und von anderen beherrschten Märkten hinterherzuhecheln, ist es dringend notwendig darauf hinzuweisen, wie eng die Zugangskorridore dieser "Neuen Märkte" gerade in Anbetracht der globalen Konkurrenz für Erwerbstätige sind - es gilt also auch aus politischer und gewerkschaftlicher Sicht, den Blickwinkel nicht einseitig darauf zu richten, wie eine Vielzahl von Menschen für Märkte qualifiziert werden können, die nur wenigen Eintritt gewähren und die insgesamt auf eine Begrenzung des Personalbedarfs ausgerichtet sind (Qualifizierungsmaßnahmen nach dem Motto "einer kam durch" wären die Konsequenz) - eine solche (Gewerkschafts)politik würde verkennen, das auch im Sinne der Mitbestimmung ein höherer Organisationsgrad in Call-Centern aufgrund ihrer geringen Halbwertszeit ein Pyrrhus-Sieg wäre. Ein solches "Den-Entwicklungen-Hinterherhinken" ist reaktiv und wenig erfolgversprechend. Stattdessen ist das Augenmerk darauf zu richten, welche "human resources" gerade die Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft aufgrund ihrer Tendenz zur Standardisierung und zur kommunikativen Demenz brachliegen läßt, und wie diese brachliegenden "human resources" widerum zu bündeln sind, um erfolgreich Bedarf bei Abnehmern wecken zu können, die momentan alternativlos durch die einfältige Vielfalt der Dienstleistungsödnis surfen und zappen. Der Schlüssel zu einer Emanzipation von Standortdrohungen gerade der Call-Center-Betreiber liegt in der Ausnutzung der Differenz des Potentials an Wissen, Ideen und Fähigkeiten das in den Call Center Belegschaften schlummert und des Stumpfsinnes, der als "kundenorientiert" verkauft wird. Ein einfaches Beispiel aus meiner Praxis soll erläutern, was gemeint ist:
Die Auffassung, es handele sich bei Call-Centern um ein vorübergehendes Phänomen, wurde zu Beginn auch von den Gewerkschaften geteilt - doch in Gewerkschaftskreisen verwechselte man "vorübergehd" mit "unbedeutend". Das ist etwa so, als ob ein Metereologe einen Taifun für ein "laues Lüftchen" erklärt, weil er schnell vorbei ist. Die Unlust der Gewerkschaften, sich frühzeitig mit dem Thema Call-Center zu befassen und damit die Initiative zu ergreifen, statt - wie jetzt - nachorganisieren zu müssen, hatte Gründe, wenn auch keine guten: eine heterogene Belegschaft, bunt zusammengesetzt aus Studenten, Berufswiedereinsteigern, jungen Menschen, die den "Job" immer nur als vorübergehende Etappe und nicht als dauerhafte Basis ihrer Identifikation sehen, dazu durch diversifizierte Arbeitszeiten extrem individualisiert, läßt sich schwer solidarisieren. Zwar ist im Call-Center für den einzelnen alles monoton, aber nichts ist im Kollektiv gleichmäßig: da gerade der 7X24-Stunden Dienst mit seinen von Person zu Person unterschiedlichen Schichtplänen Call-Center tendentiell für Erwerbstätige mit allen möglichen Biografien und Nebentätigkeiten öffnet, fehlt den Belegschaften von vornherein die in der Industrie und im produzierenden Gewerbe übliche, gemeinsame biographische Klammer und natürlich die auch gemeinsame, gewerkschaftliche Tradition. Zudem existiert nicht die temporale Klammer gemeinsamer Arbeitszeiten: es gibt nicht "die" Mittagschicht, in der der Schichtbegriff auch eine zumindest tage- bis wochenweise gleichbleibende personelle Besetzung (eine Mannschaft mit einer bestimmten Spielzeit) impliziert, sondern jeder hat einen persönlichen Schichtplan, der aussieht wie ein unvollendetes Mosaik. Eine kollektive, zeitliche Schnittmenge, in der die Mehrheit der Belegschaft sich vor Ort versammelt, existiert nicht: das ist wie eine Fußballmannschaft, die aufgrund permanenter Ein-und Auswechselei keine 5 Minuten ibn derselben Besetzung spielt. Wie aber solidarisiert man eine "variable Belegschaft", deren Gemeinsamkeit die ist, daß sie alle gleich sind, was die von ihnen verlangte Tätigkeit betrifft, aber ohne sonstige gemeinsame Konstante, insbesondere gemeinsame Interessenlage (außer der des Lohnes)? Gerade die Kombination homogene Tätigkeit und heterogene Belegschaft erschwert jede kollektive Identifikation: im Werk begreift sich die Arbeitnehmerschaft gerade aufgrund der Spezialisierung der Tätigkeiten als Körper, als Organismus. Das Ineinandergreifen der differenzierten Tätigkeiten der einzelnen Handelnden gibt jedem das Gefühl "seinen" Platz und "seine" Funktion in einem Kollektiv zu haben, das zusammengehört. Dieses Empfinden, das Nährboden auch gewerkschaftlichen Engagements ist, muß Call Center-Belegschaften fremd sein, weil niemand "seinen" Platz und eine spezielle Funktion hat. Call-Center-Belegschaften sind lose Verbunde von Einzellern. Die Konfiguration bleibt zwar gleich, vorgegeben durch die Anzahl der Terminals, aber die Einzeller docken am Dispositiv Arbeitsplatz an und ab, ohne überhaupt einen Anreiz zur Kommunikation mit den anderen "Einzellern" zu haben - da die Tätigkeiten identisch sind, entsteht kaum die Differenz von Ich und Anderem, die Impuls von Kommunikation ist, kurz gesagt, es entsteht keine Neugier, allenfalls eine erotische. Eine funktionale Notwendigkeit der Verständigung besteht angesichts der Homogenität der Tätigkeiten ohnehin nicht. Die einzige "kollektive Identität" die bleibt, ist Effekt der durch Rückkoppelung mit der geschürten Angst um den Arbeitsplatz intensivierten Hypnose der isolierten Individuen, die - gefangen in der magnetischen Aura der Medien, mit denen der Konzern physisch und psychisch zugreift - gebetsmühlenartig eingeschworen werden auf den Erfolg des Unternehmens. Das Unternehmen und sein Erfolg werden metaphysischer Ersatz für den Verzicht jedes einzelnen auf Persönlichkeit, auf Löhne, auf Privilegien. Dies ist das Erfolgsrezept fundamentalistischer Religionen, aber auch faschistischer Systeme: für die demütige Selbsterniedrigung werdet ihr im Großen Ganzen erhöht sein. Selbstverständlich ist die Religionsgemeinschaft das Gegenteil einer Solidargemeinschaft. Da die Glaubenssätze und Überzeugungen vorgegeben sind, sind die Bestandteile der Gemeinschaft homogen, aber dennoch voneinander isoliert. In Glaubensgemeinschaften nämlich sind Kommunikation, Meinungsbildung, Debattenkultur unerwünscht. Sie gefährden die Wirkungsmacht der vorgebenen Axiome und unterminieren die erhabene Position ihrer Prediger - allerdings: auch Gewerkschaften haben gelegentlich diese verhängnisvolle, sakrale Tendenz.
Aus gewerkschaftlicher Sicht war aufgrund all dieser Hemmnisse die Vergabe des Betreuungsbereiches Call-Center für einen Funktionär wohl etwa, als habe er in einem Greyhound-Bus den Platz an der Toilette zugewiesen bekommen. Statt zu erkennen, daß eben damit ein strategisches Ziel der Implementierung des tools Call-Center bereits erreicht war, verpaßte man auf seiten der Gewerkschaft die Gelegenheit die Initiative zu ergreifen und verstärkt an den Universitäten präsent zu sein, aus denen zunächst die überwiegende Mehrheit des Personals rekrutiert wurde. Zu wenig entsprachen die Belegschaften der Call-Center den klassischen Zielgruppen gewerkschaftlicher Arbeit. Was die Gewerkschaften versäumten, leisteten die Betriebsräte vor Ort: eine Analyse der gesellschafts- und arbeitspolitischen Auswirkungen des beginnenden Call Center Booms und (noch wichtiger) eine Bewußtseinsbildung innerhalb der Belegschaften hinsichtlich der Tragweite dieses "Booms" für die Paradigmen, unter denen die zukünftige Welt, in der sie arbeiten und leben werden steht. Im Telebanking der Citibank existierte bereits 1991 ein hochpolitischer Betriebsrat, der früh das sah, was den Gewerkschaften erst sehr viel später klar wurde:
Im Call-Center der Citibank gelang es den Betriebsräten, mittels einer extensiven und intensiven Öffentlichkeitsarbeit ein gemeinsames Bewußtsein der gesellschaftlichen Tragweite des dort stattfindenden "Pionierversuches" zu schaffen. Die betreuende Gewerkschaft hbv brachte sich aufgrund einer gewissen Quotenfixiertheit auf Branchen mit numerisch stärkerem Betreuungsbedarf um die Chance, nachhaltig Fuß zu fassen. Man erkannte nicht, daß das Maß an Bedeutung des Citibank-Call-Centers als Vorreiter für eine Vielzahl von Branchen im umgekehrten Verhältnis zur vergleichsweise geringen Mitarbeiterzahl stand. Das Gefühl "etwas Besonderes" zu sein, einte die Belegschaft. Es entstand eine die Absichten des Konzern konterkarierende, lebhafte Kommunikation in der Belegschaft, eine Streit- und Debattenkultur, die im diametralen Gegensatz zur geplanten inhaltlichen Aushöhlung der Kommunikation durch vorgegebene Floskeln und Sprachhülsen stand. Nicht nur das - im selben Maße, in dem man sich globalen Strategien des Konzerns widersetzte, dessen Ziel in der kulturübergreifenden Schaffung einer einheitlichen "Service Kultur" bestand (Einführung der Sonntagsarbeit als Standardarbeitszeit, total quality management etc.) stieg der Druck des Konzerns auf die Belegschaft, sich gefälligst anzupassen. Diese Kompression hatte einen für den Konzern unerwarteten Effekt: sie führte die heterogenen "Einzeller" zusammen und wurde von ihnen als Beleg für die globale Tragweite des gemeinsamen Tuns ausgelegt. Der Widerstand gegen Maßgaben des globalen Konzerns wurde von allen Beteiligten - auch vom Konzern -zunehmend nicht mehr nur als lokaler "Störfaktor" interpretiert. Wenn Philip Jennings sagt: "every local member must be a global player", dann kann die Citibank-Belegschaft als Vorbild dienen. Es ist das größte Kompliment für die Belegschaft des Citibank-Call-Centers, das die Konzernführung es letztlich für nötig hielt, diesen "Störfaktor" durch Schließung der Betriebsstätte zu eliminieren. Sämtliche Drohungen, sämtliche Maßnahmen waren nicht hinreichend, um das eigenständige Profil dieser gerade 400 Personen starken Belegschaft "glattzuschmirgeln" - ratlos und in gewisser Weise ohnmächtig griff man zur ultima ratio und entlarvte sich damit selbst. Mit dem Beschluß zur Schließung der Bochumer Betriebsstätte war genau das nicht mehr zu vermeiden, was der Konzern - der im Sommer 1998 groß in den Investment-Markt einsteigen und Neukunden gewinnen wollte - tunlichst vermeiden wollte: öffentliche Turbulenzen, die einerseits den Fokus der nicht nur bundesweiten Aufmerksamkeit statt auf das scientologyblaue, innovative Image der Bank auf ihre geschäfts- und personalpolitischen Machenschaften lenkte, andererseits die betreuende Gewerkschaft wachrüttelte und zum Handeln zwang. Daß auch der Weltdachverband der Angestelltengewerkschaft, die FIET, die Rationalisierungswelle bei der Citibank zum zentralen Thema macht, belegt endgültig, daß der Globalisierungsbegriff nicht einseitig belegt sein muß durch puren Ökonomismus. das Beispiel Citibank-Call-Center zeigt, das Gegenmacht ausgehend von lokalen Epizentren global organisiert werden kann. Die mediale Vernetzung mit Internet macht die globale Verbreitung von Information in Instantangeschwindigkeit für jeden nutzbar, auch für Gewerkschaften. Und es muß nicht immer das Internet sein: Solidargemeinschaften von Erwerbstätigen in Schweden, Brasilien und Südafrika oder sonstwo, deren Gemeinsamkeit nicht die geographische Nähe ist, sondern die Vergleichbarkeit der Mißstände in ihren Lebens- und Arbeitsbedingungen lassen sich trefflich - über Call-Center, also über das Telefon organisieren. Wie es gehen kann, zeigt der "Internationale Call Center-Aktionstag" der CI und der FIET am 04.11.1999.
Dieser Exkurs führte zwei Themen des Vortrags zusammen: gewerkschaftliche Gestaltungsmöglichkeiten bezüglich der Call-Center-Branche und die Zukunft der Call-Center-Branche - es wäre verhängnisvoll, würde man diese beiden Themen nicht verknüpfen ("Text" kommt von tacere, verknüpfen). Der vorherige Absatz spielt darauf an, daß Call Center nicht per se "Teufelszeug" sind. Aber: wenn sie genau betrachtet aus perfiden Gründen der Verhinderung von Kommunikation wie oben dargestellt dienen, dann müssen Call-Center, dann muß das Medium Telefon der "echten" Kommunikation wiedergeben werden. Call Center müssen - um mit Marx zu reden - vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Der vorangegangene, historische Exkurs hat ein Element ausgelassen: parallell zu einem Arbeitskampf, der zu den ersten Streiks weltweit in Call-Centern führte ohne indes (wie aus genannten Gründen zu erwarten war) den Erhalt von Arbeitsplätzen durchzusetzen, fand in der Belegschaft der Bank eine Rückbesinnung auf die eigenen Qualifikationen und auf die hohe Verantwortung des Call Center Agenten als Schnittstelle zwischen Kunden und Unternehmen statt. Nicht nur das: der streng standardisierte "Gesprächsleitfaden" verfehlte auf die Agents insofern seine intendierte, tranceartige Wirkung, als der offenbare Bedarf nach "echter" Kommunikation auf Kundenseite immer wieder auf die eigentliche Funktion des Mediums Telefon verwies, die in der Telefonseelsorge erheblich prägnanter zur Geltung kommt, als in der die reine Kundenabwicklung intendierenden Fließbandtelefonie. Telefonieren nämlich bedeutet Anteilnahme, Achten auf Nuancen, Eingehen auf den Anderen. Paradoxerweise führt gerade die aggressive Kreditpolitik der Banken dazu, daß es am Telefon zu Gesprächssituationen kommt, in denen das individuelle Eingehen auf die Lebenssituation des Gesprächspartners die eigentliche, nur mit viel psychologischem Gespür zu bewältigende Aufgabe der Agenten ist. Um kurz vor Weihnachten einen Hochverschuldeten, der keine Weihnachtsgeschenke für seine Kinder kaufen kann, weil jedes Geld in Raten und Darlehen fließt, am Selbstmord zu hindern, bedarf es hoher kommunikativer und sozialer Fähigkeiten. Gesprächssituationen wie diese heben die Trance auf, die die Standardisierung des Gesprächsablaufes auf beiden Seiten mit sich bringen soll: sie verweisen ferner auf den nie versiegenden Bedarf an Kommunikation (zynisch gesagt: auf die Unendlichkeit eines Marktes), auf die eigenen Fähigkeiten des "Agents", auf sein hohes Maß an sozialen Fähigkeiten, auf seine Fähigkeiten, im Moment Entscheidungen zu treffen, kurz: auf Fähigkeiten, die zur Führungskraft oder zum Unternehmer prädestinieren, und nicht zum Rangniedrigsten in einer Organisation, die einem systematisch die Wertlosigkeit solcher individuellen Kompetenzen vorgaukelt.
Als Strategie gegen drohenden Arbeitsplatzverlust entwickelten die Agents ein Konzept zur Ausgründung eines eigenen Telekommunikationsunternehmens. Die Bank unterschätzte auch diese Initiative: man gab bei der Verkündung der Schließung des Call-Centers großmütig bekannt, es werde (zwecks Vermeidung von einklagbaren Rechten) den Beschäftigten kein Übernahmeangebot unterbreitet, aber jeder dürfe sich im neuen Unternehmen der Citibank in Duisburg bewerben. Man rechnete mit über 350 Bewerbungen - doch die Beschäftigten hielten es mehrheitlich, auch mit Blick auf die öffentliche Wirkung, für sozialpolitisch unvertretbar, dem Konzern, der sie gerade vor die Tür setzt, auch noch nachzulaufen und bereiteten stattdessen die Gründung Ihres eigenen Unternehmens vor. Ganz nebenbei konzipierten Sie in Zusammenarbeit mit Bildungsbeauftragten der Gewerkschaften das Curriculum einer neuen Berufsausbildung, des Telekommunikationsfachwirtes, der als Pilotprojekt von ehemaligen beschäftigten des Call-Centers absolviert wird und sich nicht nur für den deutschen Raum eignet. Das Signal auch an die Politik war deutlich: erweist man sich aufgrund der Arbeitsplatzmisere als erpressbar und "käuflich", so behalten Konzerne ala Citibank mit ihrer Vorgehensweise recht. Stattdessen muß man Mittel und Wege der Emanzipation von Standortdrohungen finden. Dieser couragierte Ansatz zielte auch in Richtung Gewerkschaft: allzu ähnlich sind sich Gewerkschaften und Konzerne in Ihrem Interesse an der Aufrechterhaltung der Lohnabhängigkeit. Für Unternehmen ist diese Abhängigkeit ein Druckmittel, die Gewerkschaften fürchten das Wegbrechen ihrer Übervaterfunktion, wenn ihr Betreuungsklientel allzu unabhängig wird. Dabei sind genau die Berührungsängste der Gewerkschaften gegenüber Selbständigkeit als persönlicher Eigenschaft, nicht als gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Status mit ein Grund dafür, warum sie an Attraktivität verlieren. Beharrlich wird "Selbständigkeit" mit "unsolidarisch" gleichgesetzt - die Förderung von Initiativen, die dem Modell der Lohnabhängigkeit von Arbeitnehmerseite etwas entgegenzusetzen haben, sind geradezu Voraussetzung, dem Mitgliederschwund zu begegnen und auch international handlungsfähig zu werden. Es bedurfte seitens der Belegschaft des Telecenters der Citibank erheblicher Überzeugungsarbeit, um die betreuende Gewerkschaft davon zu überzeugen, daß die Ausgründung eines eigenen Unternehmens eben nicht einen gesellschaftspolitischen "Seitensprung" bedeutet, sondern die gewerkschaftlichen Bemühungen um eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen in den Neuen Märkten ideal flankiert, indem sie der Standortdrohung durch Bündelung eigener Qualifikationen und Fähigkeiten etwas Nachahmenswertes entgegensetzt. Gewerkschaften sollten um Selbständige werben, denn es gibt gute Gründe, warum Selbständige und KMUs dem Gedanken gewerkschaftlicher Solidarität gewogen sein könnten, wenn man ihn entsprechend - ja, sagen wir es ruhig - "verkauft": da Gewerkschaften Einfluß auf die Lohnpolitik nehmen, nehmen sie auch Einfluß auf die Kaufkraft in einer Volkswirtschaft. Sinkt diese, verschlechtert sich automatisch auch die Position der KMUs und Selbständigen.
Aus der Initiative der Call-Center-Agenten der Citibank ist Unternehmen hervorgegangen, daß in mehrerlei Hinsicht Modellcharakter für die Call-Center-Branche, aber auch die gewerkschaftliche Arbeit haben soll:
Die Implementierung von Call Centern ist aus Gründen der Organisation von Mitgliedern, der Mitgliederwerbung und -bindung im globalen Kontext für Gewerkschaften unabdingbar. Ist es ein generelles Ziel von TEKOMEDIA, die Gründung selbstorganisierter Call Center zu fördern, die standardisierter Pseudokummunikation (übrigens ohne Scheu vor Multimedia) kundenbedarfsorientierte Kommunikation entgegensetzen, um dem Medium Telefon die Kommunikation zurückgeben, so sind Gewerkschaften und Ihre Kooperationspartner aus unternehmerischen und politischen Gründen die Hauptzielgruppe von TEKOMEDIA.
Call-Center werden nur eine Zukunft als arbeits(platz)schaffende Unternehmensgattung haben, wenn dem Angebot standardisierter Kommunikation entgegen ein Bedarf an nichtstandardisierter Kommunikation erzeugt wird - denn nur die nichtstandardisierte Kommunikation ist unersetzbar durch Spracherkennungssysteme und Technik. Dies gilt auch für die Kommunikation im Internet.
Die skizzierten Entwicklungsmöglichkeiten für "alternative Call Center" sind aus unserer Sicht alternativlos, wenn Call Center den in Ihnen Beschäftigten eine positive Perspektive bieten sollen. Daß Call Center in der eben beschriebenen Form ein hohes, dauerhaft erneuertes Qualifikationsniveau der Agenten verlangen ist evident, nicht umsonst engagiert sich TEKOMEDIA auch in der Weiterbildung - es ist aber ein Unterschied, ob dieses Qualifikationsniveau nur einigen wenigen Spezialisten letztendlich eine Chance auf dem Arbeitsmarkt schafft, was der Fall ist, wenn "Competence Center" hochspezialisierte Beratung für Firmenkunden und solvente Endkunden bieten, oder ob Call-Center dauerhaft als Kommunikationszentren etabliert werden, die den Beschäftigten ein hohes Maß an "echter" Kommunikationsfähigkeit abverlangen.
Damit sind wir bei den Gestaltungsmöglichkeiten der Gewerkschaften bzgl. der Call Center Branche: so richtig es ist, wenn Gewerkschaften Ihre Beiträge zur Weiterbildungs- und Qualifizierungsdebatte leisten, weil etwa höhere Preise für eine Dienstleistung im Wettbewerb mit Anbietern anderer Länder nur durch höhere Qualität zu rechtfertigen sind, so wichtig es ist, den Organisationsgrad in Call Centern zu erhöhen und so wichtig es ist, sich durch Beseitigung von Barrieren zwischen den Branchengewerkschaften, durch Stärkung der internationalen Dachverbände, durch Abkehr von nationalistischen Tendenzen, durch Bündelung von Kräften mithilfe von nationalen und transnationalen Fusionen an ein globales Denken und Handeln heranzutasten, das die Vernetzung und Orchestrierung lokaler Initiativen zuläßt, so entscheidend die "Glokalisierungsdebatte" ist, die das gezielte Zusammenwirkung der Konzentration von Kräften im regionalen Bereich und der Expansion von Initiativen und Kooperationen mit Netzwerkpartnern vorbereitet, entscheidend nicht nur für die gewerkschaftliche Handlungsfähigkeit in bezug auf Call-Center, sondern generell sind andere Voraussetzungen.
Gewerkschaftliche Kampagnenarbeit muß sich in Form von Boykott-Aufrufen und Image-Kampagnen direkt an die Verbraucher richten. Die Gewerkschaft hbv macht zur Zeit in Deutschland im Falle Citibank erstmals Erfahrungen mit dieser Art von aggressiver Kampagnenarbeit. In den USA sind Image- und Boykottkampagnen, die ein hohes Maß an öffentlichem Interesse wecken, gang und gebe - auch als Reaktion auf sinkende Mitgliederzahlen gelangte man, sozusagen aus der Not eine Tugend machend, zu der Einsicht, daß es ohne öffentliche Inszenierungen die auf Massenmedien und damit auch auf Unterhaltungswert zielen, keine Renaissance der Gewerkschaften geben kann. Es gibt bezüglich der gewerkschaftlichen Gestaltungsmöglichkeiten im Call-Center-Bereich aber noch einen spezifischen Grund, verstärkt an die Konsumenten heranzutreten: während im produzierenden Gewerbe und in der Industrie aufgrund spezialisierter Tätigkeiten die Rollen der Werktätigen und der Verbraucher klar geschieden waren, es eine überaus deutliche Trennung zwischen Arbeitszeit und Freizeit, zwischen der Umgebung am Arbeitsplatz und am Wohnort und wenig Schnittstellen zwischen beiden gab, gilt dies in der modernen Arbeitswelt nicht mehr. Zum einen ist zu konstatieren, daß im Call-Center akut eine deutliche Analogie zwischen der Situation und Umgebung des Erwerbstätigen und des Kunden besteht - beide kommunizieren nach vorgegebenen Sprachmustern mithilfe des gleichen Mediums. Zum anderen gleichen sich Arbeits- und Lebenswelt infolge der Dominanz von elektronischen Medien als Arbeits- und Freizeitinstrumente immer mehr an. Überspitzt gesagt: Konsumenten und Werktätige befinden sich zunehmend in vergleichbaren Situationen und wissen aufgrund einer noch so rudimentären Kommunikation mehr voneinander, als je zuvor. Hinzu kommt, daß die Anzahl derer ständig zunimmt, die selbst sowohl Telefondienstleister, als auch Adressat oder Kunde von Call Center-Services sind. Während es früher wenig Sinn gemacht hätte, wenn sich Branchengewerkschaften auf der Suche nach Mitgliedern, Solidarität und Kooperation werbend an die Konsumenten gewandt hätten, weil die Schnittmenge zwischen den Inhalten und der formalen Gestaltung der branchenspezifischen Arbeitsumgebungen und der Umgebung der Konsumenten zu gering gewesen wäre, rücken in der mediengestützten Dienstleistungsgesellschaft Arbeits- und Lebensbedingungen beinahe bis zur Ununterscheidbarkeit zusammen. Geht es mir darum, Mitglieder für eine Dienstleistungsgewerkschaft zu gewinnen, deren Kernbetreuungsbedarf Call-Center werden, so kann ich aufgrund der Vertrautheit der Konsumenten mit der Arbeitsumgebung (wenn auch nicht unbedingt mit allen Arbeitsbedingungen) der Agents direkt und unmittelbar die Konsumenten ansprechen - die entweder selbst Dienstleister sind und als Mitglieder in Frage kommen, oder aber aufgrund der Analogien zwischer ihrer Lebenswelt und der Arbeitswelt der Agenten für Solidaraktionen leichter zu gewinnen sind denn je. Wer mit Handy durch die Fußgängerzone läuft und vielleicht gerade ein Call Center in Anspruch nimmt, wird leichter Verständnis für denjenigen (und seine Kollegen) entwickeln, der gerade sein "Agent" war, als für die Nöte des Opel-Werkarbeiters, mit dem er (vermutlich) wenig gemeinsam hat.
Kampagnen mit dem Thema "Call Center" sollten an öffentlich wirksamen Stellen inszeniert werden - immer mit dem Verweis auf die formalen Analogien zwischen dem Tun der Verbraucher und der Call Center Agenten.
2) . Voraussetzungen, um Kampagnen dieser Art über Länder-, Zeit- und Sprachzonen hinweg organisieren zu können, aber auch lokal attraktiv zu sein für Erwerbstätige (und Selbständige) in neuen Unternehmensformen (beispielsweise Mikrounternehmen im Bereich der Mikroelektronik, der Medienindustrie, der Werbung etc.) ist ein fundiertes Verständnis veränderte Wahrnehmungs- und Lebensgewohnheiten im Zeitalter der Dominanz elektronischer Medien.
Elektronische Medien haben nicht nur die Arbeitswelt, sondern die Lebenswelt tiefgreifend verändert: Mobiles Telefonieren, die Programmvielfalt des Kabelfernsehens, PCs und Internet haben grundlegende soziale Veränderungen mit sich gebracht. Im allgemeinen wird unterschätzt, das vor allem Kabelfernsehen und Internet aufgrund der Teilhabe der Konsumenten an vielfältigen Ereignissen in aller Welt, die in Instantangeschwindigkeit abrufbar sind aus jedem Rezipienten eine global vernetzte Person machen, für die sich die Bedeutung räumlicher Distanz im selben Maße reduziert, wie die Abrufbarkeit von Ereignissen jenseits der physischen Reichweite und die Erreichbarkeit von Kommunikationspartnern unabhängig von Zeitpunkten und Standorten (Handy, e-mail) in Ihren Ausmaßen zunimmt. Für Gewerkschaften nehmen die Image-Probleme zu, wenn Sie in Ihren Aktivitäten allzu provinziell sind und einseitig auf Massenkundgebungen setzen. Die gewerkschaftlichen Aktivitäten der Zukunft werden im Zeichen der Synchronisation von "events", der Vernetzung von Aktivitäten stehen. Auch lokale Maßnahmen gegen lokale Gegner werden nur dann Durchschlagskraft haben, wenn Sie als Teil eines neuronalen Netzes (eines "Rhizoms") verstanden werden, zwischen dessen zahlreichen Synapsen (medialen Interfaces) eine permanente Informationsdistribution mit Rückkoppelungen und rekursiven Schleifen erfolgt.
Lokale Ereignisse gibt es nicht mehr - jedes Ereignis ist ein Ereignis innerhalb von Netzwerken. Auch lokale Initiativen, die Erfolg haben sollen, müssen innerhalb des Netzwerkes möglichst hohe und weitreichende Resonanz haben, die nur durch permanente Rückkoppelung zu bewirken ist.
Zwar ist es verständlich, wenn man beklagt, daß die Dominanz der elektronischen Medien in Arbeits- und Lebenswelt den Menschen und seine Arbeit "entkörperliche", indem die Gischt von Information (als Unterhaltung in der Freizeit, als Ware im Handel und als Werkstoff in der Arbeit) die physische Kontur des Menschen als identitätsbestimmenden Limes der Person und als Filter und Schutzfilm zwischen Innen- und Außenwelt entwertet; und in der Tat liegen im Zeitalter der elektronischen Medien "die Nerven blank", ist das Innere ungeschützt den äußeren Reizen ausgesetzt. Doch die Ablösung der mechanischen Medien als Extensionen von Händen, Augen und Ohren (Werkzeuge, Ferngläser, Grammophon) durch elektrische Medien, (deren modernste Synergien die Internet-Telephonie und "virtual reality" sind) als Extensionen zentraler Nervensysteme in einem immer engmaschigeren, globalen und dezentralen "nervösen Netzwerk" bietet auch enorme Chancen: elektronische Medien ermöglichen eine enorme, an die Lichtgeschwindigkeit grenzende Beschleunigung der Vergabe und des Austausches des aktuell wichtigsten Gutes - Informationen müssen nicht mehr linear und zeitraubend von einem Empfänger an einen Adressaten gerichtet werden, sondern jeder Adressat und Empfänger ist im Zeitalter des Internet und der Call-Center tendenziell globaler Verteiler und globaler Empfänger, und zwar ein äußerst sensibler Verteiler und Empfänger, dessen Horizont die Welt ist. Seine Bereitschaft, lokale Appelle im Kontext des globaler Vernetzung aufzunehmen und wiederzugeben und vice versa abstrakte, globale Zusammenhänge auf lokale Emergenzebenen herunterzubrechen ist groß: es ist an den Gewerkschaften, auf diese "globale Sensibilität" einzugehen (und sie selbst als Teil des Netzwerkes zu entwickeln), indem sie sich die Medien offensiv zunutze machen, deren "elektrischer und elektrisierender Wirkungskreis" Basis dieser Sensibilität ist.
Zumindest in der von elektronischen Medien geprägten Welt gibt es keinen Menschen mehr, der nicht mindestens zugleich lokal und global, also "glokal" ist. Dies führt zu Pausengesprächen in der Arbeitswelt, die zwischen Familientratsch und der Kommentierung von Ereignissen in Seattle hin- und herpendeln, und in der zunehmend ethnisch vermischten Welt oft zum Hin- und Herpendeln zwischen verschiedenen Sprachen in ein und demselben Gespräch, sei es in den realen Sozialräumen oder den chat-rooms. Systemtheoretisch wird die Autopoeisis jeder personalen (Id)-Entität im "globalen Dorf" gespeist durch Interpenetrationen im Zeichen der geographischen Entgrenzung: sieht man den einzelnen Menschen als "psychisches" System, so erfolgt die Interpenetration der Operationen der psychischen Systeme als wechselseitige Resonanz nicht mehr primär in der persönlichen Begegnung von "Mensch zu Mensch" in geographisch umgrenzten, linearen Räumen, sondern spätestens mit dem Aufkommen des Internet ist die gesamte Welt das Forum und die Sphäre jedes Einzelnen. Die Schrumpfung der Räume, die Implosion der Distanzen, die Weltreisen im Zustand der Immobilität werden nicht zur Aufhebung des physischen Bewegungsdranges führen: Menschen werden sich weiter im psychischen und physischen Sinne bewegen, organisieren und mobilisieren lassen. Es wird weiterhin Transrapids, Concordes, die Generation Golf, den Verwandtenbesuch und die gewerkschaftliche Sprechstunde geben. Im globalen, neuronalen Netz bleiben Menschen auch weiterhin Bewegungsimpulse, doch sind sie zugleich stationär und ambulant: der Handybenutzer, zumal derjenige, dessen Handy die Funktionen Television, Internet und Mobiltelefonieren integriert führt sein Informations-Dialyse-Zubehör permanent mit sich, es bleibt ebenso stationär wie eine Haftmine am Bug eines Schiffes. Die Symbiose von Mensch und Medium ist überall und nirgends erreichbar und kann als Sender, Empfänger und Verteiler ortsunabhängig Informationen vergeben und abrufen.
In Deutschland schließen sich fünf Gewerkschaften zur "Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft" (ver.di) zusammen. Kein Zweifel, daß da Musik drin ist, aber eine Komposition und nicht etwa großes Getöse kommt nur dann dabei heraus, wenn die "Dienstleistungsgewerkschaft" auch eine dienstleistende Gewerkschaft wird.
Sie muß Ihr Angebotsspektrum überdenken, umstellen und erweitern - durch angewandte Telegenität. Mit Telegenität ist nicht nur ein gutes Wegkommen in Talk-Shows gemeint, sondern die Anwendung des kompletten Spektrums der Telematik als Informationsweg, als Vertriebsweg, als Generatoren der Mitgliederbindung, -gewinnung, der Kampagnenorganisation, des Beziehungsmarketing etc. Neue Solidarität ohne neue Medien herstellen zu wollen wäre der Versuch, per Rauchzeichen zwischen New York und Genf kommunizieren zu wollen.
Das mit dem Gewerkschaftsbeitritt verbundene Spektrum der Leistungen muß der durch die elektronischen Medien veränderten "conditio humanae" Rechnung tragen. Der bereits erwähnte DETAA.-Schutzbrief sollte von den Gewerkschaften aktiv mitvertrieben werden - auch in Kooperation mit Unternehmen der freien Wirtschaft, die mit gewerkschaftlichen Forderungen sicher nicht rüpelhaft umgehen werden, wenn Gewerkschaftsmitglieder Zielgruppe ihrer unternehmerischen Aktivitäten sind.
Gewerkschaften müssen insgesamt Ihre Zielgruppen erweitern: Arbeitslose, Rentner und all diejenigen, die außerhalb des aktiven Erwerbslebens stehen, sind für die identitätsstiftende Funktion von Gewerkschaften empfänglich.
Es muß die Einsicht erfolgen, daß das Verhältnis von Unternehmen und Gewerkschaften nicht festgelegt ist auf die Rituale alter Feinde - je nach konkreter Situation kann dieses Verhältnis das gesamte Spektrum von der Partnerschaft bis zur Gegnerschaft durchlaufen.
Nur soviel zur flexiblen, netzwerkfähigen und vor allem -bereiten Gewerkschaftsarbeit, deren Traditionen gelegentlich als Legitmation zum Festhalten an liebgewonnen Vorurteilen zweckentfremdet werden.
Es ist wohl deutlich, was dies den Gewerkschaften abverlangt: es kommt nicht auf einen Verrat der Traditionen an, sondern darauf, wie Gewerkschaften mit dem Anspruch umgehen, jederzeit und allerorten erreichbar zu sein. Es kommt darauf an, Traditionen telegen aufzubereiten. Es kommt darauf an, globale Kommunikation jederzeit über Sprach- und Zeitzonen hinweg aufrechtzuerhalten. Resonanz ist die gewerkschaftliche "solution for a small planet".
Call-Center, das Internet und auch theoretisch fundierte Medienkompetenz sind der Schlüssel, um lokale Ereignisse (etwa einen Arbeitskampf) innerhalb des Netzwerkes Resonanz zu verschaffen. Sie sind auch ein Schlüssel, um abstrakte Sachverhalte, die rigoros die Mikrokosmen individualisierter Lebens- und Arbeitswelten bestimmen, plastisch darzustellen. Die ökonomistische Globalisierung geht und greift jeden an, umgekehrt sind lokale Ereignisse wie der Arbeitsplatzabbau Verweis auf globale Dynamik. Die AFL-CIO hat mit ihrem erfolgreichen Aufruf zu Demonstrationen anläßlich der WTO-Konferenz in Seattle den Zusammenhang in optimaler Weise weil global öffentlichwirksam dargestellt. Seattle war der seltene (gewerkschaftliche) Glücksfall einer Implosion der ohnehin nur scheinbaren Distanz zwischen den Begriffen "Globalisierung" und "Individuum" auf einer temporal-spatial exakt begrenzten Bühne. Dies muß öfter geschehen - denn ohne "Szene", die immer noch ein geographisch und zeitlich eng begrenztes Kontinuum ist, gibt es keine wirkungsvolle Inszenierung. Und darin - in der wirkungsvollen Inszenierung lokaler Aktivitäten - haben Gewerkschaften nun wirklich einschlägige Erfahrung.
Wünschenswert - und hier eröffnet sich ein enormer gewerkschaftlicher Gestaltungsspielraum, den jetzt zu gestalten keine Kosten gescheut werden dürfen, weil es gilt die Zukunftsmusik jetzt zu komponieren - wären 7X24 Stunden erreichbare gewerkschaftliche Hotlines zu lokalen und globalen, zu glokalen Themen also. Das Telefon ist immer noch das zugänglichste, im Sinne seiner Aktualität "heiße" Medium. Call-Center eignen sich vorzüglich als Logistik-, Kampagnen- und Informationszentralen, sowohl zur Koordinierung der gewerkschaftsinternen Kommunikation, als auch der Mitgliederkommunikation und Mitgliedergewinnung. Trotz des Vormarsches des Internet eignet sich das Telefon für "Sofortkommunikation" (die im Zeitalter der Instantangeschwindigkeit Maß aller Dinge ist) besser, als die e-mail weil die e-mail die Sofortantwort des Adressaten nicht sicherstellt. Das Medium Telefon allerdings muß mit seinen formalen Bedingungen erst noch begriffen werden: das Telefon ist formal ein "kaltes", das heißt detailarmes Medium, das den Adressaten - also beide Gesprächspartner - extrem zum "Mitmachen" animiert, Mitmachen verstanden als Ergänzung der rein akkustisch-verbalen Information durch Deutung, plastische Vorstellung etc. Gewerkschaftliche Kommunikation muß das Telefon als aktivierendes Medium nutzen: appellativ und plastisch muß die Telekommunikation geführt werden.
Selbstverständlich ist die mediale Modernisierung von Gewerkschaften nicht möglich, ohne externe Dienstleister einzubinden. Zynisch gesagt: Inzeßt führt zur Degeneration. Das Beispiel TEKOMEDIA GmbH, deren "unique point of sale" die Kombination von gewerkschaftlichem background, Mehrsprachigkeit und Medienkompetenz ist, sollte richtungsweisend sein. Die gesamte Entstehungsgeschichte der Tekomedia und ihre weitere Entwicklung sollten als "product in progress" so wie hier vor Ort gewerkschaftlich "vermarktet" werden, sie ist pure gewerkschaftliche Wertschöpfung und bedarf dringend eskalierender Resonanz auch im Kontext internationaler gewerkschaftlicher Kooperation. Wenn denn die betreuende Einzelgewerkschaft hbv der TEKOMEDIA nachhaltig verzeiht, daß die ihr vorangegangene Arbeitnehmerinitiative den gewerkschaftlichen Organisationsgrad im jetzt der Vergangenheit angehördenden Call Center der Citibank mit dem Slogan "Wenn Ihr die Gewerkschaft blöde findet, tretet ein um sie zu verändern" binnen kürzester Zeit verdoppelt hat, dann tut sie gut daran die Kooperation TEKOMEDIA und hbv auszubauen: sowohl die in der TEKOMEDIA praktizierte Selbstorganisation, als auch die "glokale" Orientierung, die Offenheit für Netzwerkpartner sind das "missing link" zwischen überkommenen Branchengewerkschaften und offenen Gewerkschaften, die vorurteilsfrei vorübergehende und dauerhafte Allianzen zur Durchsetzung globaler Ziele mit lokalen Auswirkungen eingehen.
Der Mensch in der Informations- und Wissensgesellschaft ist aufgrund permanenter Rückkoppelung mit weltweiten Sendern, Empfängern und Verteilern ein sich permanent veränderndes Mosaik, und es gibt keine Opposition zu sich kaleidoskopisch wandelnden Mosaiken. Heißt konkret: Gegensätze zwischen Gewerkschaftlern und Nichtgewerkschaftlern sind allerhöchstens tendenziell und temporär. Kein Mensch ist per-se festgelegt darauf Nichtgewerkschaftler zu sein, es kommt nur darauf ein, seine gewerkschaftliche Disposition durch gezielte gewerkschaftliche Initiativen in globalen Netzwerken mit lokalen Transformatoren so stark zu stimulieren, daß sich das Mosaik rot färbt.
Zu erkennen, daß es bei erfolgreicher globaler und lokaler Gewerkschaftsarbeit nicht mehr um Grundsatzüberzeugungen, sondern -wie bei diversen Insekten- um dominierende Färbungen und Tönungen kaleidoskophafter Menschen geht, derem schillernden Farbenspiel eine ebensolche gewerkschaftliche Vielfalt entsprechen muß, bedeutet auch: durch kommunikative Rückkoppelung permanent auf Menschen unterschiedlichster Coleur einzuwirken und zwischen Ihnen (auch: für sie) Berührungspunkte zu generieren. Sich Call Center nutzbar zu machen als aktive (Sender) und passive (Empfänger) mediale Schnittstelle von gewerkschaftlicher Organisation und Personen, die sich keinem Lager fest zuordnen lassen (wollen) heißt, das dialektische Spielfeld der Interessengegensätze nicht mehr als Schachbrett zu verstehen, in dem sich feindliche Truppen gegenüberstehen. Gewerkschaftliche Umstrukturierungen zu totaler Netzwerkfähigkeiten auf allen Emergenzebenen, global, lokal, als Boykotteure, Dialogpartner der Wirtschaft, Weiterbilder, Bewahrer, je nach konkreter strategischer Maßgabe verlangen Vituosität im "GO"-Spiel: anders als Schach ist das japanische "GO" ein Spiel, bei dem es darum geht, am Ende der strategischen Auseinandersetzung mehr Terrain abgesteckt zu haben, als der Gegner. Die schwarzen und weißen Spielsteine unterscheiden sich nur in einem: der Farbe. Sie stehen sich nicht gegenüber, sondern umkreisen sich. In der Netzwerkterminologie gesprochen geht es darum, in einem sich vergrößernden Netzwerk am Ende den größten Teil des Terrains mit seiner Tönung "eingefärbt" zu haben. Dabei sind die einzelnen Spielsteine "neuralgische" Punkte oder auch Verteiler in einem kommunikativen Netzwerk, das um so engmaschiger und umso reichhaltiger an effektiven Rückkoppelungen ist, je günstiger und zahlreicher die Relais des Netzwerkes positioniert sind. Call Center sind solche Relais, die ihrerseits konstituiert sind aus zahlreichen kompetenten Transformatoren, die eine "echte" Kommunikation zwischen Gewerkschaften und der Welt garantieren - vor der Implementierung von Instrumenten zurückzuscheuen, die den Lebens- und Wahrnehmungsgewohnheiten und den daraus abgeleiteten Ansprüchen des medial vernetzten Menschen Rechnung tragen, weil man die erfolgreichen Rezepte des Kapitals nicht nachahmen mag, ist halsstarrig. Schließlich kommt es darauf an, wie man diese Instrumente handhabt, nicht wer sie zuerst benutzt hat.
Bei Fusionen ist man weniger arrogant, da ist vielleicht sogar eine Prise Imitation im Spiel. Sollen die "megamergers" der Gewerkschaften nicht zu einem reinen "Was Du kannst, kann ich auch" geraten, müssen Call Center im gewerkschaftlichen Kontext einen ganz anderen Zweck erfüllen, als den des Kommunikationskomposteurs, der allen Beteiligten, ob Kunden, ob Erwerbstätigen jedwede "echte" Kommunikation austreibt. Um Call Center Beschäftigte (und Call Center Kunden) aus Ihrer Trance und Lethargie zu reißen, müssen gewerkschaftliche Call Center vorexerzieren, was Call Center sein könnten, wären sie nicht als Silo serviler Unterwürfigkeit zweckentfremdet: neuronale Relais für echte Kommunikation oszillierender Sender, Empfänger und Verteiler in nichthierarchischen Netzwerken. Oben und unten spielen in Netzwerken keine Rolle - während in Call Centern der Konzerne die Beschäftigten dazu angehalten werden, mit den Kunden eben nicht zu kommunizieren und sie ihr eigenes hypnotisches "Was kann ich für sie tun"-Gesäusel empfänglich macht für medial vermitteltes Bramabarisieren ihrerseits medienscheuer (eben: lichtscheuer) Götter in fernen Vorstandsetagen, sind gewerkschaftliche Call Center Räume der Häresie, der Transparenz, des Disputes, der echten, instantanen und ungezwungenen Kommunikation aller mit allen, jedwede formale Hierarchieebene transzendierend.
Erst wenn der oberste Gewerkschaftsfunktionär des Weltdachverbandes UNI sich selbst als Call Center Agent begreift, sind die Gewerkschaften auf dem besten Wege, globale Macht zu erlangen - wohlgemerkt: Macht, nicht Gegen Macht.
LabourNet Germany: http://www.labournet.de/
Der virtuelle Treffpunkt der Gewerkschafts- und Betriebslinken / The virtual
meeting place of the left in the unions and in the workplace
2000-01-0