Erklärung der AG Betrieb & Gewerkschaft der PDS zur Novellierung
des Betriebsverfassungsgesetzes
Die Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes von 1972 zählt mit Sicherheit
zu den größeren Vorhaben der jetzigen Bundesregierung, weil mit dieser
Novelle weitreichende ordnungspolitische Entscheidungen fallen. Und obwohl ihr
weniger spektakuläre Schlagzeilen vorauseilen, als etwa der Steuer- oder
Rentenreform, prallen an der Reform der Betriebsverfassung unversöhnliche
Positionen gegeneinander. Die Gewerkschaften fordern eine Erweiterung der Mitbestimmungsrechte,
die Arbeitgeber drohen bereits mit dem Gang zum Bundesverfassungsgericht und
die Regierung Schröder will wie bei den Konsensgesprächen zum Atomausstieg
keine Novelle einbringen, die nicht die Zustimmung der Unternehmerseite findet.
Vor diesem Hintergrund halten wir eine öffentliche Auseinandersetzung
und die Mobilisierung der gewerkschaftlichen Basis für unverzichtbar, um
zu verhindern, dass ein weiterer Stützpfeiler des deutschen Sozialstaatsmodells
der Standortkonkurrenz geopfert wird. Voraussichtlich wird die PDS bei der Novellierung
des Gesetzes als einzige Bundestagsfraktion die von DGB und DAG vorgelegten
Gesetzesentwürfe in die Debatte einbringen. Gleichzeitig werden wir jedoch
alles unternehmen, um im außerparlamentarischen Raum für eine demokratische
Weiterentwicklung der Betriebsverfassung zu werben. Dabei lassen wir uns von
folgenden Eckpunkten leiten:
- Wichtigstes Ziel muss es sein, die Zahl der gewählten Betriebsräte
deutlich zu erhöhen. Dass heute nur noch 39,5 Prozent der Beschäftigten
den Schutz eines Betriebsrates genießen, während es vor 20 Jahren
noch mehr als die Hälfte waren, signalisiert einen drastischen Verlust
an Demokratie. In diesem Zusammenhang kritisieren wir die Empfehlungen der
"Kommission Mitbestimmung", die die Zahl der Betriebsräte hauptsächlich
ausweiten möchte, um betriebliche Unterschreitungen des Tarifvertrages
zu ermöglichen. Damit sich die Zahl betrieblicher Interessenvertretungen
wie auch die Zahl der durch Betriebsräte vertretenen Beschäftigten
deutlich erhöht, halten wir folgende Reformen für unverzichtbar:
- Betriebsräte müssen bereits in Betrieben mit in der Regel mindestens
drei Beschäftigten wählbar sein und nicht wie bisher ab fünf.
- Das Wahlverfahren ist insbesondere in Klein- und Mittelbetrieben mit bis
zu 100 Beschäftigten zu entbürokratisieren und deutlich zu vereinfachen,
die OrganisatorInnen der Wahl sind besser vor Repressalien des Arbeitgebers
zu schützen und die Rechte der Gewerkschaften bei der Initiierung oder
Unterstützung der Wahl sind auszuweiten.
- Wir unterstützen den Vorschlag des DGB, dass bei den Berufsgenossenschaften
ein öffentlich zugängliches Register über die Verbreitung von
Betriebsräten geführt wird. Die Behinderung von Betriebsratswahlen
muß rechtlich schärfer sanktioniert werden und Kündigungen
in Betrieben mit in der Regel mehr als drei Beschäftigten müssen
unwirksam sein, wenn kein Betriebsrat gewählt wurde. Betriebsratslose
Betriebe müßten dann davon ausgehen, dass jede so begründete
Kündigungsschutzklage vor dem Arbeitsgericht Erfolg hat.
- Konzern- und Gesamtbetriebsräte müssen das Recht erhalten, in
betriebsratslosen Betriebsteilen Wahlvorstände einzusetzen und Wahlen
durchführen zu lassen.
- Der Arbeitnehmerbegriff muss im neuen Gesetz so formuliert werden, dass
dazu alle weisungsgebundenen und/oder wirtschaftlich abhängigen Beschäftigten,
also auch TelearbeiterInnen, Scheinselbständige sowie LeiharbeitnehmerInnen
mit einer Beschäftigungsdauer von mehr als drei Monaten als Arbeitnehmer
gelten. Einzubeziehen sind auch alle, die zu ihrer Berufsausbildung beschäftigt
sind oder auf der Basis von Werkverträgen beziehungsweise als Beschäftigte
von Fremdfirmen mehr als drei Monate im Betrieb eingesetzt wurden. Wir unterstützen
die inhaltliche Tendenz der Vorschläge von DGB und DAG und setzen uns
für eine Aufhebung der Trennung in Arbeiter- und Angestelltengruppen
ein.
- Der Begriff des Betriebes muss künftig so gefasst werden, dass er der
neuen Arbeitswirklichkeit angepasst wird. Ein Betrieb wird durch die organisatorische
und technische Zusammenarbeit der Beschäftigten sowie ihre sozialen Gemeinsamkeiten
gebildet, selbst wenn sie verschiedenen Unternehmen angehören.
- Werden Unternehmen gespalten oder geteilt, ohne dass sich die Organisation
des Betriebs oder der Betriebe grundlegend ändert, müssen auch die
Betriebsräte bestehen bleiben. Entstehen wirklich neue Betriebe, so muß
durch verlängerbare Übergangsmandate gewährleistet sein, dass
die Beschäftigten durch Spaltung oder Ausgliederung nicht den Schutz
einer Betriebsvertretung verlieren.
- Die Ausnahmeregelungen des Tendenzschutzparagraphen sind einzuschränken
und auf den engen Bereich religiöser Verkündung oder politischer
Angestellter in den Parteien zu begrenzen.
- Wir sehen die große Gefahr, dass die Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes
von Seiten der Arbeitgeber und der Bundesregierung genutzt wird, um die Bindungswirkung
des Flächentarifvertrages weiter zu schwächen und die Verbetrieblichung
der Tarifpolitik voranzutreiben. Wir mißtrauen deshalb auch den Beteuerungen
der Bundesregierung und der sie tragenden Parteien, den § 77 Abs. des BetrVG
nicht anzutasten. Sie möchten es zwar dabei lassen, dass durch Betriebsvereinbarungen
keine Entgelte oder andere Bedingungen geregelt werden, die üblicherweise
Gegenstand von Tarifverträgen sind, bleiben aber bei ihrem Ziel der Deregulierung
des Tarifvertragssystems. Es ist zu befürchten, dass den Betriebsräten
mehr Möglichkeiten zum Unterbieten der Standards von Konkurrenzunternehmen
gegeben werden sollen. Als geradezu unverschämt erweist sich dabei die
Absicht der Grünen, das geltende Günstigkeitsprinzip in sein Gegenteil
verkehren und auch den Verzicht auf tarifliche Leistungen als günstig
einzustufen. Wenn Betriebsräte ermächtigt werden tarifliche Leistungen
zu unterbieten, werden sie zwangsläufig zu Opfern unternehmerischer Erpressungsversuche.
- Gewerkschaften müssen durch eine Präzisierung des § 77 BetrVG
das Recht erhalten, die Vereinbarkeit von Betriebsvereinbarungen mit dem Tarifvertrag
vom Arbeitsgericht überprüfen zu lassen.
- Lässt ein Tarifvertrag betriebliche Unterschreitungen seiner Standards
zu, müssen sowohl die betroffene Gewerkschaft als auch der zuständige
Arbeitgeberverband der Betriebsvereinbarung zustimmen.
- Wenn im Gesetz die Möglichkeit ausgeweitet wird, Abteilungen oder Arbeitsgruppen
Mitbestimmungsrechte zu übertragen, dann ist das grundsätzlich begrüßenswert.
Wir lehnen jedoch alle Novellierungsvorschläge ab, die die Stellung des
Betriebsrates schwächen und die innerbetriebliche Konkurrenz verschärfen.
Auf die gleiche Weise wie verhindert werden muss, dass die Belegschaften konkurrierender
Betriebe von ihren jeweiligen Arbeitgebern zur Absenkung tariflicher Standards
gepresst werden können, darf die Novellierung auch keine neuen innerbetrieblichen
Konkurrenzsituationen schaffen. Die Pflicht des Betriebsrates, sich für
das Wohl aller Beschäftigten einzusetzen, darf durch die Rechte von Abteilungen
oder Arbeitsgruppen nicht eingeschränkt werden.
- Der technische Wandel, die wachsende Bedeutung des betrieblichen Umweltschutzes,
die Veränderung der Unternehmenskulturen und die höheren Anforderungen
an die Beschäftigten verlangen nach neuen Mitbestimmungsrechten der Betriebsräte.
Auch die bestehenden Informations- oder Beteiligungsrechte entsprechen in
weiten Teilen nicht mehr der betrieblichen Realität. Vielfach ist es
notwendig sie in wirkliche Mitbestimmungsrechte zu verwandeln und den Betriebsräten
ein gesetzliches Initiativrecht einzuräumen.
- Die Stellung des Betriebsrates gegenüber dem Arbeitgeber muss von der
ideologisch überhöhten Verpflichtung zur "vertrauensvollen"
Zusammenarbeit "zum Wohl des Betriebs" befreit werden. Wir unterstützen
deshalb die Formulierung des DGB für den § 2 BetrVG, der die Betriebsvertretung
ausschließlich auf das "Wohl der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer"
und die "Verwirklichung der Grundrechte" verpflichtet.
- Die Zahl der freigestellten Betriebsratsmitglieder muss den heutigen Anforderungen
angepasst werden. Die volle Freistellung für die Betriebsratsarbeit muss
in Betrieben mit mehr als 100 Beschäftigten beginnen. Frauen sollen mindestens
ihrem Anteil an der Belegschaft entsprechend sowohl im Betriebsrat als auch
bei den Freistellungen berücksichtigt werden.
- Wir unterstützen die Vorschläge von DGB und DAG, die Aufgaben
des Wirtschaftsausschusses auf den Betriebsrat, den Gesamtbetriebsrat oder
Konzernbetriebsrat zu übertragen. Die Einschränkung auf eine bestimmte
Betriebsgröße muss entfallen. Dabei müssen die Informationsrechte
der Betriebsräte so ausgeweitet werden, dass ihnen alle notwendigen Unterlagen
einschließlich der Investions- und Personalplanung übergeben werden
und eine Umweltbilanz zur Verfügung gestellt wird.
- Der Katalog wirklicher Mitbestimmungsrechte, das heißt der zustimmungspflichtigen
Unternehmensentscheidungen, muss der gewandelten Arbeits- und Unternehmenswirklichkeit
angepasst werden. Dabei geht es insbesondere um Mitbestimmungsrechte, die
den neuen Technologien, der veränderten kapitalistischen Betriebsweise,
den neuen Formen der Arbeitsorganisation und der gestiegenen Bedeutung des
Umweltschutzes entsprechen. Die Erweiterung der Mitbestimmungsrechte in diesen
Bereichen verschafft den Betriebsräten keine qualitativ neue Macht und
ist erst recht keine "kalte Enteignung" wie die Unternehmer klagen,
sondern gibt den Betriebsräten lediglich Handlungsmöglichkeiten
zurück, die sie in den vergangenen Jahren in Folge der veränderten
Bedingungen eingebüßt haben.
- Der nach § 102 BetrVG begründete Widerspruch des Betriebsrates gegen
eine Kündigung muss aufschiebende Wirkung haben. Hat der Betriebsrat
einer Kündigung widersprochen, muss der Arbeitgeber eine Aufhebungsklage
vor dem Arbeitsgericht anstrengen.
- Die Arbeitgeber müssen zur systematischen Personalplanung verpflichtet
werden. Hierbei ist dem Betriebsrat nicht nur ein Informations- und Beratungsrecht,
sondern ein volles Mitbestimmungsrecht einzuräumen. Bei allen technischen
oder arbeitsorganisatorischen Änderungen der Betriebsabläufe sind
die Folgen für die Beschäftigung darzustellen.
- Frauenförderung oder Wiedereingliederung nach Erziehungspausen muss
in gesonderten Vereinbarungen zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat vereinbart
werden. Die Erfüllung dieser Vereinbarungen ist bei allen Neueinstellungen,
Ein- bzw. Umgruppierungen und Kündigungen zu überprüfen.
- Der Betriebsrat muss ein Initiativrecht für die rechtzeitige Durchführung
von Qualifizierungs- oder Umschulungsmaßnahmen erhalten.
Wir erklären abschließend, dass wir gemeinsam mit den Gewerkschaften
gegen alle Versuche mobilisieren werden, die Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes
zu einem Gegenstand des "Bündnisses" zu machen. Die Novellierung
des Betriebsverfassungsgesetzes muß entsprechend ihrer zentralen ordnungspolitischen
Bedeutung dem Parlament und seinen Gremien vorbehalten bleiben. Die Bundestagsfraktion
der PDS wird gebeten, alle parlamentarischen Mittel auszuschöpfen, um die
aufgeführten Forderungen und die Vorschläge der Gewerkschaften in
die parlamentarische Debatte einzubringen.
Juni 2000
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