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Krise des Einzelhandels - Krise der Gewerkschaft HBV

Von Anton Kobel

I. Der Karstadtkonzern schluckte 1994/95 den Hertiekonzern. Oder haben die Hertie-Stiftung bzw. die Hertieerben auf diesem Wege steuersparend - die Rede ist von Hunderten Millionen Mark - den Karstadtkonzern geschluckt?

1998 übernahm die Familie Schickedanz Karstadt/Hertie und ergänzte so ihr Einzelhandelsimperium (Quelle, Schöpflin, Neckermann).

Der Metrokonzern (99 Milliarden DM Umsatz) kauft und verkauft seit Jahren Einzelhandelsfirmen als bzw. wie normale Waren. Der US-amerikanische Einzelhandelsriese WalMart (205 Milliarden DM Umsatz) kauft Wertkauf für 1,6 Mrd. DM und Interspar für 1,1 Mrd. DM und veränderte in wenigen Monaten Einzelhandelsstrukturen durch radikale Preissenkungen, neue Unternehmenskultur, Einstellung von Personal(!) und Ausweitung der Ladenöffnungszeiten. Zusätzlich bietet er jedem EinzelhandelUnternehmen in Deutschland die "freundliche Übernahme" an.

Im Bereich des Lebensmitteleinzelhandels kauft Spar den Karlsruher Mittelständler Pfannkuch mit ca 4.000 Beschäftigten, die AVA Bielefeld verscherbelte ihre Nanz-/Allfrisch-/Preisfux-Filialen in Baden-Württemberg an Edeka/Neukauf.

Das sind nur einige der zahlreichen Beispiele für Konzentrationsprozesse, verschärfte Kokurrenz und eine Internationalisierung der Konzerne. Milliarden DM, politische und wirtschaftliche Macht wechseln so ihre Besitzer.

 

Krisenerscheinungen...

II. Die konkreten rechtlichen und materiellen Erscheinungen sind ebenso vielfältig:

- Neben dem gemeinen Konkurs gibt es den Konkurs ohne Masse (Dyckhoff, Textil-Einzelhandel)

- Neben der gemeinen Betriebsschließung nach einer "Fusion" (s.u.) steht die perfide "Betriebsschließung nach erfolgter Ausgliederung aus dem Konzern mit Eigentümerwechsel". So gliederte der Metrokonzern die Möbelfirma Unger aus, übergab Unger mit einem finanziellen Zubrot an einen privaten Eigentümer (Modell "Neue Heimat - haste mal ne Mark"); dieser gestaltet die Ungerfilialen in rechtlich selbständige Unternehmen mit geringer Kapitalausstattung um. Danach werden diese geschlossen; für Sozialpläne ist wenig Geld da. Der Metrokonzern bleibt außen vor, ist aus der Haftung entlassen und die Ungerbelegschaften sind örtlich isoliert.

- Neben diesen Formen der Betriebsschliessung gibt es solche, die mit einer Standortverlagerung verbunden werden.

1. Beispiel: der Quellekonzern will zum 31.7.99 seine Tochter, das Großversandhaus Schöpflin mit noch 900 Beschäftigten, schließen und den Versand nach Nürnberg/ Fürth bzw. Leipzig verlagern.

2. Beispiel: die Wertkauf-Zentrale mit 400 Beschäftigten in Karlsruhe soll nach dem Kauf durch WalMart nach Wuppertal (neue Sparzentrale) verlegt werden.

- Die 'gewöhnliche' Betriebsschließung nach Übernahme (s.o.) gehört mittlerweile zum Standard. So geschehen mit der Pfannkuch-Zentrale und ihren 450 Beschäftigten in Karlsruhe, der Kriegbaum-Zentrale, Hertie Mannheim oder Hertie Ulm. Gleiches gilt für Filialschließungen an sogenannten Doppelstandorten und zwar sowohl bei Kaufhäusern als auch bei Supermärkten.

- Nicht unüblich sind auch Umstrukturierungen der Filialen mit Sortimentswechsel, d.h. Betriebsänderungen. Beispiele hierfür sind die Umstellungen auf Sport- oder Textilartikel statt Lebensmittel und auf Schuhe statt Textil.

- Schließlich ist auf die sogenannte Privatisierung von Filialen, d.h. neue Franchisesysteme hinzuweisen. Insbesondere im Lebensmittel-Einzelhandel bilden Konzerne wie Edeka, Spar oder Rewe neue Unternehmensnetzwerke. Einzelne Filialen werden an private Kleinhändler vermietet, die dann über den Konzerngroßhandel beliefert werden und vom Konzern Dienstleistungen kaufen wie Werbung oder Warenwirtschaftssysteme. Das Personal geht rechtlich vom Konzern an den Kleinhändler über. Der "Private" trägt das Unternehmerrisiko, der Konzern behält alle wirtschaftlichen und strategischen Vorteile.

 

III. Die Deregulierung der Betriebe und Unternehmen mit weitreichenden Folgen für die Beschäftigten und die Gewerkschaft geht weiter:

- Die Ausgliederung von Abteilungen und Betriebsteilen, das sogenannte Outsourcing, ist immer noch an der Tagesordnung: Ausgegliedert werden Restaurants, Lebensmittelabteilungen, Kundendienst, Wach- und Schließdienst, Kantinen, Backshops, Fuhrpark, das Auffüllen der Regale oder Erstellen der Inventuren, die Reinigung, Lagerhaltung und Logistik, Werbung usw.

- Tarifflucht ist gewinnträchtig und wird entsprechend praktiziert. Ausgliederungen sind i.d.R mit Tarifflucht verbunden. Die ausgegliederten Teile werden rechtlich verselbständigt. Diese "neuen" Betriebe fallen nicht mehr unter den Einzelhandels-Tarif, sondern regelmäßig unter "billigere" Tarife der NGG und ÖTV. In einigen Fällen gibt es überhaupt keine Tarife (z.B. für Verwaltungs-GmbH, Werbung, Inventur- oder Auffülltrupps).

- Ausgliederung und Tarifflucht (ver-)führen die Interessenvertretungen bisher regelmäßig zur Konzessionspolitik, "um noch Schlimmeres zu verhindern".

- Diese Deregulierung der Betriebe führt auch zur Zunahme betriebsratsfreier Zonen. In Kleinfilialen entstehen Kleinbelegschaften. In Kauf- und SB-Warenhäusern oder gerade auch in Einkaufszentren gibt es neben der Stamm- bzw. Hauptbelegschaft mehrere Kleinbelegschaften, oft im Verhältnis 2:1.

- Eine weitere Folge dieser Deregulierungen der Betriebe sind neue Unternehmens- und Konzernstrukturen: Netzwerke entstehen ebenso wie überregionale, bundesweite "Spartenorganisationen", in denen die einzelnen Fachmärkte zusammengefaßt sind. Gezielt wird dabei auf die Konkurrenz "vor Ort", z.B. zwischen reinen "Mediamärkten" und den Media-Abteilungen in den Kaufhäusern des selben Konzerns, gesetzt.

So hat der Metrokonzern im Rhein-Neckar-Raum (Mannheim, Ludwigshafen, Heidelberg, Speyer, Worms) in seinen Sparten ca. 90 Betriebsstätten mit ca. 7.000 Beschäftigten. (Stand: Oktober 1998)

Zu diesen Metro-Betriebsstätten zählen Kaufhof, Horten, Kaufhalle, real, Multistore, Reno, Basar, Adler, Mediamärkte, Roller und divi.

Der Metrokonzern wird zentral gesteuert. Die Steuerungsparameter bestehen in einer Eigenkapitalrendite von 15 Prozent nach Steuern und in einer Nettoumsatzrendite von 3 Prozent, die jede Sparte für sich erwirtschaften muß. Außerdem müssen die Sparten auf den entsprechenden Ranglisten der weltweiten Konkurrenz einen der drei ersten Plätze belegen.

Trotz zentraler Steuerung agieren die Betriebsstätten jeder Sparte vor Ort selbständig. Jede Betriebsstätte hat eine eigene Belegschaft und gegebenenfalls einen Betriebsrat. Beziehungen über einen Gesamtbetriebsrat gibt es nur innerhalb der jeweiligen Sparte.

Von den genannten 90 Betriebsstätten mit 7.000 Beschäftigten bei Metro haben nur zwei Belegschaften mehr als 300 Beschäftigte und damit je ein freigestelltes BR-Mitglied. Würden die 7.000 Beschäftigten eine gemeinsame Belegschaft bilden, hätten sie 8 - 9 freigestellte BR-Mitglieder. Das Metrokonzern-Netzwerk basiert arbeitnehmerseitig auf dem Prinzip "spalte und herrsche".

Die Deregulierung der Betriebe, die Auflösung der Normalbetriebe und der "Normalbelegschaften" führt damit auch zur Erosion der bisherigen gewerkschaftlichen Strukturen.

IV. Die Krise des Einzelhandels hat noch andere Erscheinungen:

- Formen der Überakkumulation (deutlich sichtbar z.B. im "Verkaufsflächenüberhang") entsprechen Formen der Kapitalentwertung und -vernichtung (Vernichtungswettbewerb, Konzentrationsprozesse). Entwertet wird dabei nicht nur "fixes" Kapital, sondern ebenso "variables": Dauerarbeitslose, ehemalige Einzelhandels-Beschäftigte, die dort keinen Job mehr finden, "Unterbeschäftigte" (durch erzwungene Teilzeitarbeit, Kürzung der persönlichen Arbeitsstunden), ehemalige Einzelhandels-Beschäftigte in Umschulungskursen und im erzwungenen Vorruhestand kennzeichnen dies ebenso wie leerstehende Verkaufsflächen.

Hierzu einige Zahlen: Von 1994-97 wurden 176.000 (10,6 Prozent) der vormals 1,656 Mio. Vollzeitarbeitsplätze vernichtet, jetzt sind es noch 1,48 Mio. Die Anzahl der Teilzeitarbeitsplätze ohne die 630-DM-Kräfte fiel um 137.000 (15,2 Prozent) auf 764.000. Die Anzahl der sozialversicherungsfreien Mini-Teilzeitarbeitsplätze stieg dagegen um 62,5 Prozent (250.000) auf 650.000.

Das Arbeitszeitvolumen insgesamt wurde zwischen 1994 und 1997 um 8,5 Prozent gekürzt. Dies entspräche einer Verkürzung der tariflichen 37,5-Stundenwoche um 3,2 Stunden auf 34,5 Stunden.

- Stagnation der Umsätze (ca. 700 Mrd. DM jährlich) sowie eindeutig deflationäre Tendenzen sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Zur allgemeinen, niedrigen "Inflationsrate" von 0,2 - 0,9 Prozent trug der Preisverfall insbesondere im Textil-, Lebensmittel- und Möbeleinzelhandel bei. Die Auswirkungen dieser Deflation - insbesondere Personalabbau und Betriebsschließungen - sind offensichtlich.

- Fehlende Kaufkraft durch geringe Tarif-, Renten-, Bafög-, Sozialhilfeerhöhungen, hohe Arbeitslosigkeit und steigende Armut auf der einen Seite, riesige Gewinne der Einzelhandels-Konzerne und immer reicher werdende Einzelhandels-Familien auf der anderen Seite.

Beispiele: Privatvermögen in Milliarden DM

- Leerstehende Einzelhandels-Flächen, auch in Top-Einkaufslagen der Innenstädte, Einkaufszentren und auf Bahnhofsgeländen.

- Die fehlende Nahversorgung der Bevölkerung in vielen Stadtteilen und kleineren Gemeinden durch Schließung der kleinen Läden (von Privaten und Konzernen) führt zu heftigen Diskussionen in Stadtparlamenten und an Stammtischen. Vernichtungswettbewerb und Konzentrationsprozesse gepaart mit sogenannten Skalenerträgen/Produktivitätsgewinnen des großflächigen Einzelhandels und Mietspekulationen bilden dabei eine menschen- und umweltfeindliche Allianz. Insbesondere Ältere, Behinderte, Menschen mit kleinen Kindern, weniger Betuchte, Arme sind jedoch auf "fußläufig" erreichbare Läden in den Wohngebieten angewiesen.

- Die Orientierung am Shareholder value und die Millionengehälter in den Top-Etagen der Einzelhandel-Konzerne lassen kein Geld übrig für Ausbildungsplätze. Die Privatisierung der Gewinne erfordert offensichtlich eine Vergesellschaftung der Ausbildungskosten.

- Zwecks weiterer Verbesserung ihrer Akkumulationsbedingungen fordern die Konzerne nunmehr eine Beseitigung des Ladenschlußgesetzes, das erst 1996 wesentlich zuungunsten der Beschäftigten sowie der Klein- und Mittelbetriebe geändert worden war. Von den vom damaligen Wirtschaftsminister Rexroth und dem Ifo-Institut prognostizierten 20 Milliarden Mark mehr Umsatz und 50.000 zusätzlichen Arbeitsplätzen gibt es jedoch keine Spur. Eine erneute Ausdehnung der Ladenöffnungszeiten wird den Vernichtungswettbewerb anheizen und die Konzentrationsprozesse fördern. Die neue Ladenschlußdebatte wird neben den Konzernen u.a. von Sachsens Ministerpräsident Biedenkopf (CDU) und von Ministerpräsident Clement aus NRW (SPD) gepuscht. Als ob es in diesen Bundesländern nicht hinreichend sichtbare Beispiele für die Krise des Einzelhandels gäbe. Wieviele Einzelhandels-Ruinen, alte und neue, werden denn in Sachsens Städten bzw. um diese herum noch gebraucht!

 

... und Krisenerlebnisse

Die Unzufriedenheit beim Einzelhandels-Personal ist groß. Weniger Lebensstandard durch finanzielle Einbußen und weniger Lebensqualität durch steigende Arbeitshetze sowie verschlechterte Arbeitszeiten durch verlängerte Ladenöffnungszeiten (abends, samstags, sonntags) prägen die Situation der Beschäftigten.

Die Deregulierung der Betriebe, Belegschaften und Interessenvertretungen ist für alle spürbar - nicht zuletzt durch die verschwindend kleine Anzahl freigestellter Betriebsräte. Durch die Ausweitung der Ladenöffnungszeiten, die Umwandlung von Vollzeit- in (Mini-) Teilzeitarbeitsplätze und die Anpassung der Arbeits- an die Umsatzzeiten gibt es deutlich weniger gemeinsame Zeiten für die weniger gewordenen Beschäftigten im Betrieb: Die Kantinen sind halbleer, auf Betriebsversammlungen sind weniger Leute da als früher. Bei (Warn-)Streiks nehmen jetzt nicht mehr Hunderte teil, sondern selbst bei voller Beteiligung nur noch zig. Beschäftigte von Fremdfirmen (beispielsweise im "shop in shop"-System), die nicht unter den Einzelhandels-Tarif fallen, beteiligen sich kaum an den Streiks.

In vielen Belegschaften herrscht Frust und Resignation. Das Kapital hat sich in der Krise mit seinen Konzepten durchgesetzt. Nur wenige Abwehrstrategien waren erfolgreich, Niederlagen - individuelle und kollektive - gab es zuhauf. Gerade Aktive - Betriebsräte und Vertrauensleute - wurden besonders gebeutelt. Für sie kam erschwerend hinzu, daß die HBV es kaum geschafft bzw. organisiert hat, die Krisenerlebnisse aufzuarbeiten. Eine gemeinsame Aufarbeitung in der Gewerkschaft, das Herausarbeiten von Erfahrungen wurde nur punktuell auf der örtlichen Ebene, aber nicht kollektiv von der HBV geleistet. HBV hat es bisher auch nicht geschafft bzw. gewollt, örtliche und betriebliche Kämpfe zu vernetzen und zu verallgemeinern. Zu den wesentlichen Erfahrungen der HBV-Aktiven zählen die rechtlich begrenzten Möglichkeiten der (Gesamt-)Betriebsräte und Aufsichtsräte. Der existentiell notwendige Umgang mit (drohendem) Arbeitsplatz-, Einkommens- und Ansehensverlust mußte weitgehend individuell geleistet werden - ein ungewollter und fragwürdiger gewerkschaftlicher Beitrag zur Individualisierung in der Gesellschaft.

 

Was tat und tut(et) die HBV?

Vielerorts gab und gibt es gewerkschaftliche (Abwehr-)Kämpfe. Einige Betriebsräte und Gesamtbetriebsräte versuchen ihr Möglichstes. Selten jedoch gibt es eine überregionale betriebsrätliche Strategie; genauso häufig oder noch seltener werden gewerkschaftliche Strategien entwickelt. Beides ist jedoch in von Konzernen geprägten Arbeitsstrukturen notwendig. Vor 10 - 15 Jahren wurde noch kritisch von der "Betriebsräte-Gewerkschaft HBV" gesprochen. Heute gibt es noch weniger Gewerkschaftliches neben dem Betriebsrätlichen. So ist es kein Zufall, daß Gesamtbetriebsräte die klassischen gewerkschaftlichen Aufgaben übernehmen.

Hierzu ein Beispiel: Der Metrokonzern hat Ende 1998 34.000 seiner bundesweit 200.000 Beschäftigten in eine neugegründete "Verwertungsgesellschaft" namens DIVACO ausgegliedert. Die Divaco gehört - vorübergehend - mehrheitlich der Deutschen Bank, der Metrokonzern ist mit weniger als 50 Prozent beteiligt. Die 34.000 Beschäftigten erarbeiten derzeit in über 2.000 Betriebsstätten (darunter 143 Kaufhallen, 25 Kaufhöfe, die Adler-Modemärkte, Tip-Discounter, Vobis-Computerläden, Reno-Schuhfilialen) ca. 13 Milliarden Mark Umsatz.

Aufgabe der Divaco ist es, diese Betriebe optimal zu verwerten, d.h. zu verkaufen oder zu schließen. Vorbild für diese Verwertungsgesellschaft war offensichtlich die Treuhandanstalt zur Verwertung und Privatisierung der DDR-Betriebe. Mit dieser Vorgehensweise wollte sich der Metrokonzern seinen Verpflichtungen elegant entziehen. Bestärkt wurde er durch seine Erfahrungen bei einer Generalprobe: Die Unger-Möbelhäuser wurden ähnlich kostensparend abgewickelt (s.o.).

Zur Verteidigung der Beschäftigteninteressen erstellte HBV diesmal - im November 1998 - ein "Arbeitsplatz-Sicherungspaket". Kernpunkt war die Forderung, daß die Betriebe von der Divaco nur verkauft werden dürfen, wenn der Käufer weitreichende und langfristige Standort- und Beschäftigungsgarantien abgibt. Für den Fall einer Schließung von Betrieben forderte die HBV die Übernahme der Beschäftigten in nahegelegene andere Betriebsstätten des Konzerns.

Statt eines Tarifvertrages unterzeichnete der Konzern jedoch im Februar 1999 eine sogenannte einseitige Erklärung, in der von den HBV-Forderungen nichts Wesentliches drinsteht. Damit sollen die HBV-Forderungen erledigt sein. Die Gesamtbetriebsräte hatten wohl die Richtung, das Tempo und das Ziel letztendlich bestimmt.

Dieses Ergebnis ist gewerkschaftspolitisch ein Desaster. Ohne nennenswerte Mobilisierungsversuche kam es zu einem Nullergebnis, obwohl sich das Metrovorhaben für eine neue HBV-Strategie geradezu angeboten hätte. Zigtausende Beschäftigte - auch in HBV-Hochburgen - sind durch diese und andere Metropläne unmittelbar berührt.

Und dabei hatte der HBV-Landesvorstand Baden-Württemberg am 24.11.98 wichtige Elemente seiner neuen Strategie benannt:

"1. Die Hauptfachabteilung Einzelhandel wird beauftragt, gemeinsam mit den Bezirksverwaltungen und Landesbezirken wirksame gewerkschaftliche Strategien gegen Personalabbau, Ausgliederungen, Flächenstillegungen, Tarifflucht und Abbau von sozialen Standards

Diese Strategien zur Durchsetzung unserer gewerkschaftlichen Ziele

müssen Perspektiven über den Abschluß von Interessenausgleichen und Sozialplänen hinaus aufzeigen. Insbesondere gilt es die tarifpolitischen Instrumente einzusetzen und durch eine breite Mobilisierung der Belegschaften durchsetzungsfähig zu werden. Darüber hinaus ist es erforderlich, die Branchenentwicklung im Einzelhandel sowie die aktuellen Konflikte zum Thema einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung zu machen und die politischen Handlungsfelder zu erschließen.

(...)

3. Die vom Gewerkschaftstag beschlossene Arbeitsgruppe »Neue Arbeitskampfformen« soll umgehend eingerichtet werden und ihre Arbeit aufnehmen. Darüber hinaus sollen Ideenwerkstätten organisiert werden, in denen die verschiedensten örtlichen und regionalen Erfahrungen bei der Entwicklung von Widerstand zur Verteidigung der Arbeitsplätze ausgewertet und zusammengeführt werden.

4. Die Strategie des Metro-Konzerns, die sich bei der Ausgliederung in die DIVAG andeutet, hat er beim Verkauf von Möbel-Unger bereits vorexerziert: Die Umgehung seiner sozialen Verpflichtungen durch die Abgabe von Unternehmen an »mittellose« Dritte. Wegen der grundsätzlichen Bedeutung dieser Frage ist ein Musterprozeß gegen Metro wegen des Unger-Verkaufs anzustreben."

(Antrag der HBV Baden-Württemberg an den Hauptvorstand)

 

Statt einer solchen mobilisierenden Vorwärtsstrategie mit Elementen einer "neuen sozialen Gewerkschaftsbewegung" ("social movement unionism") und der Bereitschaft zu neuen gewerkschaftlichen Erfahrungen und neuen Ideen begnügte man sich hauptvorstandsseitig mit - nichts.

So scheint es auch kein Zufall, daß ein vom HBV-Gewerkschaftstag bereits 1992 angenommener Antrag "Neue Arbeitskampfformen" trotz klarer Vorgaben sechs Jahre nicht bearbeitet wurde. Während die amerikanisch-kanadischen Diskussionen über "inplant-strategies" rezipiert wurden, wurden HBV-eigene Ansätze, z.B. Dienst nach Vorschrift, bislang nicht systematisch diskutiert. Allerdings ist das Interesse an dem Thema "Kampagnenfähigkeit" in der HBV hoch.

Unterdessen hat die HBV gegenüber der neuen Bundesregierung umfangreiche und notwendige Forderungen gestellt:

Diese Forderungen müssen sicherlich mit Aktivitäten untermauert werden, wenn sie in Bonn nicht in Vergessenheit geraten sollen.

 

Neue Perspektiven und neue Wege sind notwendig und möglich

In der Krise des Einzelhandels haben viele die rechtlichen Grenzen für die Durchsetzung gewerkschaftlicher Forderungen erlebt. Neben den daraus resultierenden HBV-Forderungen für eine Reform der Arbeitsgesetze ist die Überwindung der rechtlichen Grenzen durch gewerkschaftliche Aktivitäten notwendig. "Rechtsfortschritt durch gewerkschaftliche Gegenmacht" (so Reinhard Hoffmann 1968) ist aktueller denn je. Die HBV-Gegenmacht kann durch "soziale Netzwerke" lokal und überregional erweitert werden. Die Zusammenarbeit mit Kirchen, Parteien, Bürgerinitiativen, Basisgruppen, Frauengruppen u.ä. ist nicht nur denkbar, sondern bereits erprobt. Die erfolgreiche Kampagne gegen die Drogeriekette Schlecker wäre ohne "soziales Netzwerk" kaum gelaufen.

Die Macht der Kunden - bis hin zum Boykott - kann verknüpft werden mit gewerkschaftlichen Zielen und Aktivitäten. Vielleicht ist dies eine zeitgemäße Ausprägung der "alten Arbeiterbewegung"? Die Orientierung an einem "Social value" oder "community value" statt am "shareholder value" ist für viele Menschen attraktiv, auch für Nichtgewerkschaftsmitglieder und Gewerkschaftsskeptiker.

Diese Erfahrung mußte der Metrokonzern im Januar/Februar 1999 blitzartig machen. Im Zuge des Divaco-Programms sollte in Heidelberg die Kaufhalle mit 70 Beschäftigten geschlossen werden, das Personal mit Abfindungen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung gestellt werden und die Verkaufsfläche an den Kaufhof Heidelberg - wenige Meter gegenüber der Kaufhalle gelegen - übergehen. Dort sollte dann mit neuem Personal eine Sportartikelabteilung entstehen. Innerhalb von drei Wochen organisierte eine spontan entstandene Stammkunden-Bewegung mehrere Demonstrationen, sammelte 14.000 Unterschriften zum Erhalt der Arbeitsplätze und drohte einen Boykott an. Dies führte zu einem schnellen, akzeptablen Ergebnis für die Beschäftigten. Die Position der beteiligten Betriebsräte und der HBV wurde durch die Kunden entscheidend gestärkt.

Für die HBV heißt dies eine Öffnung in die Gesellschaft, hin zu gesellschaftlichen Gruppen und Organisationen. Der Dialog in der Gesellschaft eröffnet Möglichkeiten zur Akzeptanz gewerkschaftlicher Anliegen. Auch hierfür gibt es ein Beispiel:

- Beim Kampf um den Erhalt der Arbeitsplätze im Hertie-Kaufhaus Mannheim konnte die HBV u.a. das "Wuppertal Institut" mit seinen WissenschaftlerInnen für zwei öffentliche Ideenwerkstätten zum Thema "Öko-Kaufhaus" gewinnen. Die öffentliche Resonanz und Akzeptanz war enorm. Dies führte u.a. zu einem Forschungsprojekt der Landesregierung NRW. Statt dem bloßen Nein gab es von der Gewerkschaft organisierte, öffentliche Ideenproduk- tion.

 

Die oben geschilderten Krisenerscheinungen treffen nicht nur die Einzelhandels-Beschäftigten, sondern auch die Kunden, die Bevölkerung, die Gemeinden und Städte. HBV kann genug Sachverstand in der eigenen Mitgliedschaft organisieren, um zusammen mit Kunden, Politikern und Gemeinden "Wege aus der Einzelhandels-Krise" zu finden. Alternativpläne für die Nahversorgung in den Stadtteilen, gegebenenfalls als lokale, "öffentliche Gemeinwirtschaft" sind denkbar. Das Neue wurzelt im Alten - so ähnlich Gramsci. So könnten lokale bzw. regionale menschliche Bedürfnisse, die vom Markt und dem profitorientierten Kapital nicht befriedigt werden, Ausgangspunkte auch zur Schaffung neuer, gesellschaftlich nützlicher Arbeitsplätze sein, insbesondere für ältere, behinderte oder langzeitarbeitslose Menschen.

Ideenwerkstätten zu einer einzelhandelsspezifischen "Konversionspolitik" mit verstärkter lokaler oder regionaler, gebrauchswertorientierter Ausrichtung bieten sich an. Auch Konzerne können sinnvoll und wirksam mit solchen Ideenwerkstätten konfrontiert werden, wenn ihnen außer Arbeitsplatzvernichtung, der daraus resultierenden Gewalt gegen Menschen und der Entwertung von Arbeitsvermögen nichts einfällt. Ideen statt Vernichtung und Entwertung von Kapital. Der Marktradikalismus und die Profitwirtschaft dürfen nicht nur beschrieben werden, sondern Alternativen müssen gedacht und auch erprobt werden.

Damit kann auch die Politik der Einzelhandels-Konzerne und Einzelhandels-Unternehmen konkret einer öffentlichen, demokratischen und politischen Diskussion unterzogen werden. Noch immer gilt: "Eigentum verpflichtet..." Das gewerkschaftliche und berechtigte Schimpfen, Jammern, Beschreiben und Beklagen könnte so eine produktive Ergänzung finden, und die Gewerkschaftsarbeit würde deutlich politischer. Ein konsequenter, interessenorientierter Lobbyismus gegenüber Parteien, Politikern und Parlamenten - lokal und überregional - könnte integraler Bestandteil einer solchen Politisierung sein.

Eine "neue soziale Gewerkschaftsbewegung", eine Bewegungsgewerkschaft, ist im Einzelhandel erfahrbar und praktizierbar, gerade weil sich der Einzelhandel vielfältig öffentlich abspielt. Die Aufarbeitung der "social movement unionism"-Erfahrungen in den USA und Kanada wären hier eine sinnvolle Ergänzung zum gewerkschaftlichen "Konferenz-Internationalismus".

Die Krise des Einzelhandels legt zudem nahe, den Tarifvertrag als vielfältiges gewerkschaftliches Mittel zur Gestaltung und Mobilisierung wieder zu entdecken. Die Regelungsmöglichkeiten der (Gesamt-)Betriebsräte insbesondere über Interessenausgleich und Sozialplan sind bekannt, auch und gerade in ihrer Begrenztheit. Der Tarifvertrag kann zur Überwindung dieser Grenzen benutzt werden, bewußt eingesetzt im Betrieb, Unternehmen und Konzern, lokal und regional. Art 9 Abs. 3 Grundgesetz läßt dies in weitem thematischen Rahmen durchaus zu: "... zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ..."

Eine Verknüpfung mit Artikel 14 GG - "Eigentum verpflichtet ... Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen" - und mit Artikel 15 - Sozialisierung von Eigentum, Vergesellschaftung, Gemeineigentum, Formen der Gemeinwirtschaft - läßt viele Ideen und Erfahrungen zu... Der Marktradikalismus und die Politik der Konzerne provozieren diesbezügliche Ideen - sozial vernetzt, öffentlich diskutiert, gemeinschaftlich organisiert.

 

In einem solchen, öffentlichen Diskussionsprozeß dürfte auch Verständnis zu gewinnen sein für "ureigene" gewerkschaftliche Krisenlösungen. Im Einzelhandel wären dies u.a.

Die hier skizzierten neuen Perspektiven sind teilweise ein hartes Kontrastprogramm zum derzeitigen gewerkschaftlichen Verhalten in der Krise. HBV hat in der Einzelhandels-Krise schwere Verluste an gewerkschaftlicher Kraft gerade in den bisherigen Hochburgen hinnehmen müssen. Die Krise des Einzelhandel wurde auch zur Krise von HBV. Vielleicht sind angesichts der vielen Fusionserfahrungen so auch die gewerkschaftlichen Fusionspläne zu einer Dienstleistungsgewerkschaft entstanden. Daß es auch andere Krisenlösungen geben kann, zeigen die auch in der Krise aktiven und erfolgreichen HBV-Bezirke.

 

erschienen in express 3/1999

Zu den im Text genannten Verweisen auf den "social movement unionism" empfehlen wir als Hintergrundlektüre: Kim Moody: "Rank and File-Internationalism. The TIE-experience", Ränkeschmiede Nr. 1, März '98; "Erklärung der CAW (Canadian Auto Workers) zur Schlanken Produktion", Ränkeschmiede Nr. 4, Feb. '99 (zweite Auflage); Heiner Köhnen: "Gewerkschaftliche Reformbewegungen in den USA. New Directions", Ränkeschmiede Nr. 6, März '99; Heiner Köhnen: "Für eine neue Reformpolitik. Strategien der CAW", Ränkeschmiede Nr. 3, Jan. '99. Zu bestellen im Büro von TIE/express, möglich auch per e-mail