Im Folgenden wird die Position des IG Medien Bezirkes Wiesbaden zur "Gewerkschaft im 21. Jahrhundert" wiedergegeben (Stand: 7.Dez. 1998).

Das Thesenpapier wurde einstimmig vom Bezirksvorstand angenommen. Es trägt den Untertitel "Vereinigte Ohnmacht oder organisierter Widerstand".

Das Papier selbst beschreibt kritisch die bundesrepublikanische Wirklichkeit. Auch wenn nicht mit allen Positionen übereingestimmt werden muß, so die indirekte These Mitgliederrückgang und finanzielle Einbußen müßten mit Hauptamtlichen aufgefangen werden (Punkt 1 erster Spiegelstrich), so ist die Analyse in weiten Teilen denen der IG BCE (und sicher auch der IGM etc.) konträr.

Weiter wird in Punkt 2 wieder indirekt die IG BCE kritisiert, die bei Tarifverträgen Öffnungsklauseln, rechtswidrige Auslegung von Tarifen etc. akzeptiert.

Gleichzeitig wird in dem Papier die politische Spaltung des DGB's beschrieben, wie auch eine Unterbietung der Entgelte durch verschlechternde Tarifverträge (IG BCE verhandelt 1999 Billigtarifverträge/Dienstleistungstarife).

Insgesamt eine sehr lesenswerte Broschüre, die zu weiterem Nachdenken führt.

Mit solidarischem Gruß

Ulrich Franz

 

VORWORT

Die Zeit scheint nicht mehr fern, daß sich manche Gewerkschaften ganz neue Arbeitsfelder erschließen: die Vermittlung von exklusiven Handys und Billigreisen in die Türkei. Die Prospekte sind häufig schon gedruckt und füllen die Informationstheken der gewerkschaftlichen Beratungsstellen. Das "Geschäft" könnte blühen, wenn da nicht viele Mitglieder wären, die von ihrer Arbeitnehmerorganisation etwas ganz anderes erwarten: die konsequente Vertretung ihrer gemeinsamen Interessen gegenüber den Unternehmern bei Tarifverhandlungen, die Unterstützung des Betriebsrates bei betrieblichen Konflikten und die soziale sowie Rechtsberatung bei persönlichen Problemen.

Wer als Gewerkschafter/in das eigene Engagement heutzutage allerdings einseitig auf die Erfüllung der letztgenannten Erwartungen der Mitglieder lenkt, wird von interessierter Seite sehr schnell als "Traditionalist" ausgemacht. Wer hingegen die gewerkschaftliche Arbeit auf sogenannte Serviceleistungen reduzieren und dabei die ursprüngliche Schutz- und Gegenmachtfunktion der Gewerkschaften weiter aufweichen möchte, dem wird der Titel "Modernisierer" zugeschrieben. Was aber wäre, wenn die "traditionelle" auch gleichzeitig die "modernste" Art gewerkschaftlichen Engagements darstellte? Weil die abhängig Beschäftigten und Erwerbslosen nur dadurch ihre Arbeits- und damit Lebensbedingungen verteidigen oder verbessern können. Und weil die Lebens- und Arbeitswelten immer noch von den gegensätzlichen Interessen der Unternehmer auf der einen und der Arbeitnehmer auf der anderen Seite bestimmt werden.

Which side are you on - sag mir, wo Du stehst, fragt das alte Lied der englischen Bergarbeiter und offenbart nicht nur das grundlegende Dilemma eines jeden Menschen, sondern auch die letztlich entscheidende Lösung für dieses und andere Probleme. In einer Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs wie der heutigen muß sich irgendwann jede(r) Arbeitnehmer/in auf die eine Seite, die der "Modernisierer", oder auf die andere Seite, die der "Traditionalisten", stellen. Die folgenden Thesen sollen in erster Linie einen Beitrag zur Zukunftsdiskussion inner- und außerhalb der Gewerkschaften leisten. Vielleicht sind sie der einen oder dem anderen auch eine kleine Hilfe, sich mutig zu einer "modern traditionalistischen" gewerkschaftlichen Orientierung zu bekennen.

Wiesbaden, im Dezember 1998

Horst Gobrecht Bezirksvorsitzender Jörg Jungmann Bezirkssekretär

 

EINSTIEG

Von Tarifrunde zu Tarifrunde "schlittern" die Gewerkschaften immer stärker auf der abschüssigen Bahn des Abbaus oder der Aushöhlung sozialer und Arbeitsrechte. Das obligatorische "Mehr war nicht drin" nach Tarifabschlüssen und die häufige Vermittlung von unbegründeten Hoffnungen auf ein "Bündnis für Arbeit" mit den Unternehmern und der Bundesregierung signalisieren - bewußt oder ungewollt - den abhängig Beschäftigten und Erwerbslosen: Es gibt in Zeiten der Beschäftigungskrise keine wirkliche Alternative zum Verzicht auf tarifliche sowie soziale Leistungen und zur Standortsicherung mit unternehmerischen Vorzeichen.

Doch "Tariffragen sind und bleiben Machtfragen"(1), genauso wie die soziale und rechtliche Stellung der Arbeitnehmer nicht von der politischen "Großwetterlage", sondern von ihrem Kampf um die Verteilung des von ihnen produzierten Reichtums und die Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft abhängt. Das Ergebnis dieser Auseinandersetzung eröffnet entweder neue Möglichkeiten einer Entwicklung, die sich an den Interessen der abhängig Beschäftigten und Erwerbslosen - hierzulande wie international - orientiert. Oder die Arbeitnehmer werden als Resultat des Kampfes in die Schranken verwiesen, weil sie nicht bereit oder fähig waren, ihre objektive Machtposition in der Produktion wie in der Gesellschaft zur vollen Geltung zu bringen.

Der Ausgang eines Kampfes ist für alle Beteiligten - Beschäftigte und Gewerkschaften wie Unternehmer - nur selten vorher abzusehen. Selbstverständlich wäre es ein grober Fehler, mit der sicheren Gewißheit einer Niederlage einen Streit zu eröffnen. Ebenso fatal erwiese sich allerdings ein zögerliches Verhalten, einem Konflikt aus dem Weg zu gehen, sich materiell und (organisations-)politisch überhaupt nicht mehr auf "handfeste" Auseinandersetzungen einzustellen, sondern nur noch auf Verhandlungen mit den Kontrahenten zu vertrauen. Jürgen Peters, der neue Zweite Vorsitzende der IG Metall, hat diese Frage problematisiert und richtig beantwortet: "Wer keine Arbeitskämpfe mehr führen kann, der braucht am Verhandlungstisch erst gar nicht Platz zu nehmen."(2) Bleibt nur zu ergänzen: Wenn Gewerkschaften und Gewerkschafter/ innen keine politischen und Arbeitskämpfe mehr führen wollen, dann verabschieden sie sich als bewußt Handelnde aus der Geschichte. Da die Gefahr einer solchen Entwicklung nicht nur theoretisch, sondern real besteht, muß die Debatte um die zukünftige Gewerkschaftspolitik und die Gewerkschaften der Zukunft mit allem Nachdruck geführt werden.

 

These 1

Die deutschen Gewerkschaften stecken in einer tiefen materiellen und politischen Krise, die sie möglicherweise in ihrer Existenz gefährdet. Als Indikatoren dieser Lage treten hervor:

 

These 2

Bisher ist es den DGB-Gewerkschaften nicht gelungen, diesen Veränderungen wirkungsvoll entgegenzutreten beziehungsweise die abhängig Beschäftigten vor deren direkten Auswirkungen zu schützen. Im Gegenteil: Sie reagieren auf diese Herausforderungen weitestgehend mit einer Anpassung an die neuen Verhältnisse. Dieses Verhalten führt zu folgenden Erscheinungen:

 

These 3

Die Unternehmer und ihre politischen Akteure zielen auf eine "Neuordnung" der Beziehungen zwischen "Kapital" und "Arbeit". Denn sie stellen fest, daß sie ihre Interessen nach Steigerung der Gewinne und Ausdehnung ihrer wirtschaftlichen sowie politischen Macht in einer "komplexer" und "globaler" werdenden Welt nicht losgelöst vom Verhalten der abhängig Beschäftigten auf allen Ebenen durchsetzen können. Diese setzen durch jede Verbesserung ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungen deren ökonomischem Wachstum reale Grenzen, schränken durch internationale Solidaritätsaktionen deren weltweite Handlungsfähigkeit ein und beschneiden durch die eigene Emanzipation von der traditionellen Vormundschaft der "Reichen" auch deren politisches Machtmonopol. Deshalb können die unternehmerischen Ziele in den entwickelten Ländern der freien Marktwirtschaft nicht mehr ausschließlich in direkter Konfrontation gegensätzlicher Interessen von widerstreitenden Klassen verwirklicht werden. Vielmehr sehen sich die Arbeitgeber und ihre politischen Helfershelfer gezwungen, eine scheinbare "Harmonie" von kurz- und langfristigen Unternehmer- und Arbeitnehmerwünschen nach Wettbewerbsfähigkeit der Produktionsstandorte und dem damit angeblich verbundenen Erhalt der Arbeitsplätze sowie nach nationaler "Solidarität" gegen internationale Konkurrenz zu propagieren. Für ein solches "Entgegenkommen" erwarten die Unternehmer ein an betriebswirtschaftlichen Kennziffern und Zielen ausgerichtetes Verhalten der Beschäftigten und Gewerkschaften.

Diese Bestrebungen fallen in den Führungen mancher DGB-Gewerkschaften und bei nicht wenigen Gewerkschaftern auf fruchtbaren Boden. Als ein ideeller Ausdruck der neuen Orientierung können die "Empfehlungen zur künftigen Gestaltung der Mitbestimmung" der von der Bertelsmann-Stiftung und der Hans-Böckler-Stifung einberufenen "Kommission Mitbestimmung" gelten. Daran beteiligten sich neben zahlreichen Spitzenmanagern von Unternehmen wie BASF, Daimler-Benz, Nestlé, Ruhrkohle, Saarstahl, Thyssen und VW sowie Vertretern des Unternehmerverbandes GESAMTMETALL, der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände und des Bundesarbeitgeberverbandes Chemie auch Spitzenfunktionäre des Deutschen Gewerkschaftsbundes, der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen, der Industriegewerkschaft Bergbau- Chemie-Energie, der Industriegewerkschaft Metall, der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr sowie der Deutschen Angestellten Gewerkschaft. Ihre wesentlichen Orientierungspunkte lassen sich in folgenden Kerngedanken zusammenfassen:

"Veränderte Wettbewerbsbedingungen", verbunden "mit wachsendem Kostendruck, neuen Innovationserfordernissen, verkürzten Entscheidungszeiten und anspruchsvolleren Kapitalgebern in international werdenden Güter- und Kapitalmärkten" forderten die "Sozialpartner" zur Entwicklung "kooperativer Unternehmenskulturen" heraus. Diese sollen "zum Nutzen aller Beteiligten zum Unternehmenserfolg beitragen", indem die betrieblichen und (tarif-) politischen Beziehungen von Unternehmern, Gesetzgeber, Gewerkschaften und Betriebsräten "durch gemeinsame Gestaltung zu einem deutschen Standortvorteil ausgebaut werden". Dadurch könnten "die deutschen Unternehmen" auch künftig "die Vorteile der Mitbestimmung strategisch nutzen". Dies zu erreichen, erfordere "die Aushandlung und Ausgestaltung eines neuen betrieblichen Sozialvertrages", durch den die Betriebsräte "tariflich geregelte Aspekte von Arbeitszeit und Entlohnung in ein gemeinsames Paket standortsichernder Maßnahmen einbringen" sollen. Das hieße, qualitativ neue, "flexibler" gestaltete Tarifverträge eröffneten die Möglichkeit, mittels betrieblicher Vereinbarungen "in tarifliche Regelungen modifizierend eingreifen" zu können (4). Vor diesem Hintergrund beschreiben die Begriffe "Co-Management" als zentrale Aufgabe für Betriebsräte und "Corporate-Identity" als Identifikation der Beschäftigten mit den Unternehmenszielen nichts anderes als das von den Arbeitgebern - und offensichtlich auch von einigen namhaften Gewerkschaftern - angestrebte "neue" Verhältnis zwischen "Kapital" und "Arbeit". Der Landesbezirkstag Baden-Württemberg der IG Medien sah in dem Positionspapier der "Kommission Mitbestimmung" einen Bruch "mit dem bisherigen Verständnis von Mitbestimmung", als einem "Instrument, um mehr Macht für die Arbeitsseite zu erringen", weil die Gewerkschaften immer "von einer strukturellen Unterprivilegiertheit der Beschäftigten gegenüber der Kapitalseite" ausgingen. Demgegenüber "gehen die Mitbestimmungsthesen von einer strukturellen Gleichheit von Kapital und Arbeit aus". Und Mitbestimmung wird "nurmehr am Horizont der Frage, ob sie für den Standort Deutschland nützlich sei, diskutiert ... Konsequent zu Ende gedacht, erübrigt sich dann die Existenz von Gewerkschaften" (5).

 

These 4

Die hierzulande und international veränderten "Wettbewerbsbedingungen" für Kapital und Arbeit haben die Auswahl der Wege zur Lösung der Probleme der DGB-Gewerkschaften stark vereinfacht, vielleicht sogar auf ausschließlich zwei diametral entgegengesetzte Perspektiven reduziert: ò Entweder sie übernehmen die ihnen von den Unternehmern und ihren politischen Akteuren zugedachte Rolle, "in Partnerschaft mit den Arbeitgebern und der Wirtschaft den - Kreuzzug für die Wettbewerbsfähigkeit - zu gewinnen", wie es der britische Regierungschef Tony Blair (6) ausdrückte. Dann werden sie zwangsläufig zu Anhängseln unternehmerischer Standortsicherungskonzepte und zu Streitern für das politische Projekt des Neoliberalismus, das die Interessenvertretung der abhängig Beschäftigten und Erwerbslosen mit nationalistischer Orientierung den Marktgesetzen, das heißt den Kapitalinteressen, unterordnet. ò Oder sie "besinnen" sich auf ihre urwüchsige Aufgabe und Funktion, den Arbeitern und Angestellten gegenüber den Unternehmern einen kollektiven Schutz vor den Folgen einer übermäßigen Ausbeutung und eine organisatorische Basis zur Durchsetzung ihrer materiellen und politischen Forderungen zu bieten. Dies ist allerdings nur dann realisierbar, wenn die Gewerkschaften ihre betrieblichen sowie allgemeinpolitischen Kräfte als Gegenmacht entfalten und in den tariflichen sowie gesellschaftlichen - bundesweiten wie internationalen - Auseinandersetzungen konsequent die Interessen der abhängig Beschäftigten und Arbeitslosen vertreten; nicht zuletzt durch einen bewußten Bruch mit der Ideologie und Praxis der "Sozialpartnerschaft".

Der erste Weg ist der des geringsten Widerstandes, des stromlinienförmigen Anpassens an die sich immer weiter verändernden Rahmenbedingungen, des Kapitulierens vor der weltweiten Offensive der Unternehmer und des Degenerierens der DGB-Gewerkschaften zu einem "Allgemeinen Deutschen Arbeitsrecht Club" für abhängig Beschäftigte. Der zweite Weg ist demgegenüber viel schwieriger; denn er provoziert die variantenreiche Gegenwehr der Unternehmer, fordert von den Gewerkschaften den Kampf wider das gegeneinander Ausspielen unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen - Deutsche gegen Ausländer, Alte gegen Junge, Frauen gegen Männer, Gesunde gegen Kranke -, birgt die Gefahr einer Niederlage sowie des sozialen und arbeitsrechtlichen Rückschritts in sich und führt zu einer gewissen Polarisierung von Armen und Reichen innerhalb der Gesellschaft und international.

Die Entscheidung für den einen oder den anderen Weg fällen nicht die Leitungsgremien der jeweiligen Gewerkschaften allein. Sie können die (organisations-) politischen Weichen natürlich in eine bestimmte Richtung stellen. Doch letztlich liegt es in der Hand der "Reisenden" selbst, wohin der "Zug" fährt. Dies setzt allerdings voraus, daß sich die Mitglieder der Gewerkschaften in die Entwicklungsdiskussionen und -Prozesse aktiv einmischen, sich auf allen Ebenen und in allen Gremien zu Wort melden, ihre Forderungen vertreten und mit Nachdruck verteidigen sowie den Mut aufbringen, auch unkonventionelle, "steinige" Wege zu gehen. Sie müssen sich gleichzeitig bereit finden, sich nicht nur am eigenen Wohlsein zu orientieren, sondern sich mit dem erwartungsgemäß harten Kampf um die Verteidigung oder Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der abhängig Beschäftigten und (noch) Erwerbslosen auch für heute noch abseits stehende Arbeitnehmer sowie künftige Generationen einzusetzen.

 

These 5

Die DGB-Gewerkschaften stellen für politisch bewußt handelnde Arbeitnehmer nicht ein "Betätigungsfeld" unter vielen dar. Vielmehr kommt ihnen in der Auseinandersetzung um die Verteidigung sozialer, demokratischer und Arbeitsrechte als den größten und erfahrungsreichsten Organisationen der Arbeiter und Angestellten eine entscheidende Bedeutung zu. In und mit ihnen erfahren die abhängig Beschäftigten die Solidarität von Menschen gleicher oder ähnlicher sozialer Lage. In und mit ihnen gehen sie erste Schritte in die betriebliche Abwehr der Angriffe und Begehrlichkeiten der Unternehmer.

In und mit ihnen lernen sie, daß der von ökonomischen und arbeitsrechtlichen Zielen bestimmte Kampf in den Betrieben und bei Tarifverhandlungen auch auf politischer Ebene um die Erweiterung der demokratischen Rechte, die Solidarität mit den sozial Schwächsten und die Verbesserung der Beziehungen zu anderen Völkern geführt werden muß. Die Gewerkschaften bieten also allen Arbeitnehmern reichhaltige Möglichkeiten, sich ihrer eigenen Lage, den gemeinsamen Interessen und der Notwendigkeit von kollektivem Schutz sowie organisierter Gegenmacht bewußt zu werden. Ihr wesentliches Arbeits- und Aktionsfeld sind und bleiben die Betriebe. Trotz aller Veränderungen in der Produktionssphäre und technischer Neuerungen sowie der Entwicklung Deutschlands zu einer "Dienstleistungsgesellschaft" kommt den Beschäftigten in der industriellen Fertigung auch in Zukunft eine zentrale Bedeutung zu. Sie produzieren nicht nur den größten Teil des gesellschaftlichen, heute noch hauptsächlich von den Unternehmern angeeigneten Reichtums, sondern arbeiten auch an den für Druck von unten empfindlichsten Stellen aller Wirtschaftsbereiche. Denn eine durch Streiks stagnierende Produktion zieht über kurz oder lang einen Stillstand in praktisch allen Branchen nach sich. Deshalb müssen die DGB-Gewerkschaften auch weiterhin sowohl große finanzielle als auch personelle Ressourcen zum Verteidigen oder Erschließen dieses Arbeitsfeldes investieren. Dabei ist die Anbindung der organisierten Beschäftigten an eine haupt- wie ehrenamtlich besetzte regionale gewerkschaftliche Struktur besonders wichtig, damit sie - bei aller Würdigung fachkompetenter Gewerkschaftsfunktionäre - auch kontinuierlich politisch betreut und unterstützt werden können. Gleichzeitig haben die DGB-Gewerkschaften als interessengeleitete Massenorganisationen die Pflicht, ihr allgemeinpolitisches Mandat konsequent wahrzunehmen. Dies ist schon deshalb dringend geboten, weil sich über die traditionelle Tarifpolitik - zumindest im gegenwärtigen Stadium der Marktwirtschaft - die Lebens- und Arbeitsbedingungen der abhängig Beschäftigten und Erwerbslosen nur noch teilweise beeinflussen lassen. Denn das Eingreifen politischer Entscheidungsträger wie beispielsweise des Gesetzgebers erhält hierbei ein immer größeres Gewicht, in diesem Zusammenhang können die verschiedenen Formen des Lobbyismus als nur bedingt erfolgreich angesehen werden. Auch in der politischen Sphäre entscheidet letztlich das couragierte, machtvolle Auftreten der Betroffenen über Lösungswege in Detailfragen bis hin zur Entwicklungsrichtung der Gesellschaft. Darüber hinaus kann es den Gewerkschaften nicht gleichgültig sein, unter welchen demokratisch politischen, ökonomischen und ökologischen Rahmenbedingungen die Menschen heute und in Zukunft leben.

Das langfristige Ziel zu erreichen, die Wirtschaft und die Gesellschaft - hierzulande wie international - im Interesse der Arbeitnehmer und Erwerbslosen zu gestalten und zu verändern, wird wesentlich vom bewußten politischen Eingreifen der Gewerkschaften und Gewerkschafter/innen abhängen. Doch das erfordert in globalen Umbruchzeiten von den Handelnden sowohl enorme Kraftanstrengungen und Mut bei der Formulierung und Durchsetzung politischer Forderungen als auch große Geduld bei der Überzeugung anderer Menschen. Die Gegenseite setzt auf eine "Selfmade"- Gese!lschaft, in der nur noch der Individualismus gilt, also die Solidarität keinen Platz mehr findet. Diese Entwicklung müssen die Gewerkschaften bewußt bekämpfen, oder sie verlieren ihre Existenzberechtigung.

Daraus folgt für bewußt handelnde Gewerkschafter/innen: Nicht nur von außen - einerlei ob positiv oder kritisch solidarisch - herangetragen, sondern innerhalb der Organisationen müssen deren politische Alternativen zur "Sozialpartnerschaft", zur Anpassung an das unternehmerische Konzept der Standortsicherung und zur nationalen Borniertheit entwickelt werden. Hierzu bedarf es einer gewerkschaftsübergreifenden und vernetzten, auch zielstrebig international ausgerichteten Kooperation aller Kräfte, die zur Überwindung der politischen und materiellen Krise der Gewerkschaften beitragen sowie ihre Politik- und Handlungsfähigkeit erhöhen wollen.

1 Geschäftsbericht 1995 bis 1998 zum 4. Gewerkschaftstag der IG Medien, herausgegeben vom Hauptvorstand der IG Medien, 1998, Stuttgart: W. E. Weinmann Druckerei,

2 Zitiert nach: NEUES DEUTSCHLAND vom 1. Dezember 1998

3 Die Erfahrungen beispielsweise der IG Metall mit ihrer jahrzehntelangen professionellen Angestelltenarbeit demonstrieren, wie schwierig es ist, in neuen Arbeitnehmerschichten Fuß zu fassen.

4 Zitate siehe: MITBESTIMMUNG, Nr. 6/98, Seite 19 bis 23.

5 Offensive "Mitbestimmung als Kampfaufgabe", Antrag des Landesbezirkstages Baden-Württemberg an den 4. Ordentlichen Gewerkschaftstag der IG Medien 1998 in Würzburg. In: IG MEDIEN FORUM, Sonderausgabe Nr. 1, 31. August 1998, Seite 40.

6 Zitiert nach: INTERNATIONAL HERALD TRIBUNE vom 29. September 1997