aus: ak 434 vom 20.01.2000

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Zeitung für linke Debatte und Praxis


 

NS-Zwangsarbeiter: Das Ringen geht weiter

Die deutsche Industrie will sich billig freikaufen

"Die Rehabilitierung und die Verbesserung der Entschädigung für Opfer nationalsozialistischen Unrechts bleibt fortdauern de Verpflichtung. Die neue Bundesregierung wird eine Bundesstiftung, Entschädigung für NS-Unrecht` für die ,vergessenen Opfer` und unter Beteiligung der deutschen Industrie eine Bundesstiftung ,Entschädigung für NS-Zwangsarbeit` auf den Weg bringen", so heißt es im rot-grünen Koalitionsvertrag vom Herbst 1998. Wer glaubt, dass mit der im Dezember 1999 er folgten Festlegung des Zehn-Milliarden-Mark-Beitrages eine ausreichende Summe zur Entschädigung der NS-Zwangsarbeiter vereinbart wurde, der irrt.

Da auch die Arisierungsschäden - und nicht nur die Zwangs arbeiterentschädigung - aus dem neuen Fonds gespeist werden sollen, erweist sich die Einigungssumme als viel zu gering, um den Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern, - gut zwei Millionen der damals über zehn Millionen Opfer leben noch -, eine auch nur annähernd ausreichende Summe zu gewähren. Von den 180 Milliarden Mark, die die öffentliche und private Wirtschaft an ihren Sklaven bis heute unter Berücksichtigung einer angemessenen Verzinsung verdiente, sollen die überle benden Opfer nicht etwa den entgangenen Lohn nachgezahlt be kommen - auch dies wäre für die Wirtschaft lohnend, könnte sie doch den Anteil für die rund acht Millionen bereits verstor benen Opfer behalten -, sondern nur einen humanitären Aus gleich, auf den kein Rechtsanspruch besteht. (1) Zudem sol len sie vor jeglicher Zahlung auf ihre Möglichkeiten verzich ten, vor Gericht für ihr Rechte zu streiten, und bereits be zahlte Anteile - etwa für Haftschäden - sollen verrechnet wer den, so dass der Lohnraub perfekt würde.

Die Zwangsarbeiter wurden im Kriege von den Betrieben bei der SS oder der NS-Arbeitsverwaltung angefordert, sie wurden ihnen nicht aufgedrängt, wie später gern behauptet wur de. Das war so bei allen Kategorien von Zwangsarbeit, die es gab: Beim Einsatz der KZ-Häftlinge, der Kriegsgefangenen, der mit mehr oder weniger Zwang "Angeworbenen", der Depor tierten. Daher verbietet es sich auch, den Charakter der Lohnarbeit im Falle der NS-Zwangsarbeit zu leugnen, wie es derzeit einige Arbeitsgerichte tun.

 

Die Schuldfrage ist eindeutig geklärt

Die Nürnberger Dokumente des Kriegsverbrechertribunals NI-1240 und NI-11115 belegen, wie die I.G. Farben mit Geld und mittels der Bereitstellung von Material zum Ausbau des KZ Auschwitz die Zwangsarbeit bezahlte. In NI-15148 wird ein Besuchsbericht von Betriebsleiter Walther Dürrfeld zi tiert: "I.G.-Werksleitung und Lagerführung besiegelten die gute Zusammenarbeit in einer Besprechung vom 27. 3. 1941 in Auschwitz und trafen u. a. folgende ,Verabredungen`: 1. Das Lager stellt 1941 ,etwa 1000 Hilfskräfte und Fachkräfte`. 2. 1942 wird die Lagerverwaltung den ,Bedarf` der I.G. an ,et wa 3000 Häftlingen` decken. 3. Die I.G. zahlt an die SS ,pro Hilfsarbeiter und Tag 3 RM, pro Facharbeiter und Tag 4 RM`, die Arbeitszeit beträgt ,10-11 Stunden im Sommer, im Winter mindestens 9 Stunden`." Den "Bedarf" decken bedeutete, dass im Falle der "Vernichtung durch Arbeit" sofort Ersatz arbeitskräfte geliefert werden mussten.

Die Wirtschaft des Deutschen Reiches wäre ohne Zwangs arbeiter zusammengebrochen: die Landwirtschaft wie die Rüs tungsbetriebe, die öffentliche Versorgung mit Dienstleistun gen, wie auch Hauswirtschaft und Handwerk. Der Experte Prof. Ulrich Herbert stellte fest: "Es gibt Analysen, die zeigen, dass ein erheblicher Teil unseres Wirtschaftswun ders auf der Entwicklung in diesen Kriegsjahren beruht, auf der Ausbeutung Europas und der Zwangsarbeiter." (SZ, 29.12.98) Daher muss auch die Schuld nicht nur der deut schen Industrie gegenüber den Zwangsarbeiterinnen und Zwangs arbeitern anerkannt werden, sondern die der gesamten Gesell schaft. Alle, die am Wirtschaftswunder Anteil hatten, ste hen in der Schuld.

Doch nicht alle gleichermaßen. Die drei größten deutschen Banken, die Deutsche Bank, die Dresdner Bank und die Com merzbank, haben sich bis jetzt mit nur 600 Millionen Mark an dem Entschädigungsfonds der deutschen Industrie betei ligt, obgleich Dresdner wie Deutsche Bank als Finanziers der SS und Kreditgeber für den Bau der Vernichtungslager un geheure Verbrechen begangen haben. Und sie haben exorbitant daran verdient. Als die "wirklichen Kriegsverbrecher" haben in Nürnberg US-amerikanische Ankläger Konzerne wie die IG Far ben und Banken wie die Deutsche Bank des Herrn Hermann Jo sef Abs und die Dresdner Bank, die Hausbank der SS, bezeich net und ihre Auflösung sowie die Bestrafung der Schuldigen verlangt.

Doch sie wurden nicht bestraft, sondern mischten bald in der Politik wieder mit. Bis heute reicht der Schatten des Einflusses eines Hermann Josef Abs auf die aktuelle Po litik. Er wurde Anfang der 50er Jahre Adenauers Beauftrag ter bei den Londoner Schuldenverhandlungen. Er konnte errei chen, dass die westlichen Alliierten ihren deutschen Part ner als Verbündeten im kalten Krieg schonten, auf Reparatio nen verzichteten und Leistungen an nichtdeutsche Opfer von Krieg und Faschismus als Kriegsfolgeleistungen einstuften, und diese seien bis zum Abschluss eines Friedensvertrages zu stunden.

Da manche Staaten des Westens so lange nicht warten wollten, wurden bilaterale Lösungen vorgezogen. Als dann mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag 1990 doch noch ein Friedensver trag geschlossen wurde, da verweigerte die Bundesregierung dennoch die nun fälligen Reparationen. "Nach Ablauf von 50 Jahren seit Kriegsende und Jahrzehnten friedlicher, vertrau ensvoller und fruchtbarer Zusammenarbeit der Bundesrepublik Deutschland mit der internationalen Staatengemeinschaft hat die Reparationsfrage ihre Berechtigung verloren." (2) Mit dieser Begründung wurden Zahlungen an Gemeinden, die, wie in Griechenland, ganz oder teilweise von Wehrmacht oder SS aus gerottet worden waren, verweigert.

Nach einem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom Mai 1996 ließen sich so aber keine Forderungen von einzelnen Bürgerinnen und Bürgern aus den von den Nazis überfallenen und gequälten Ländern abwimmeln. Allerdings hat das Bundesverfas sungsgericht dies nur "im Prinzip" festgestellt, von den Einzelfallprüfungen vor deutschen Gerichten - wie sie bei spielsweise in Hunderten von Fällen von der IG Metall und in einzelnen Fällen der VVN-BdA angestrengt wurden - ist noch keine zu Ende gebracht worden.

 

Die Interessen der Industrie stehen im Vordergrund

Seit zwei Jahren verweisen die Gerichte auf die internatio nalen Verhandlungen, um möglichst außergerichtlichen Lösungen den Vorzug zu geben. Die Gerichte werden gar massiv von der Bundesregierung unter Druck gesetzt, um nicht zu Gunsten der Opfer zu entscheiden. So im Falle einer polnischen Bürge rin, die vor einem Hamburger Gericht im Streitfall mit dem Hamburger Senat Recht bekam, 15.000 Mark im Vergleich erhal ten sollte - und dennoch bis heute auf ihr Geld wartet.

Derartiger Druck ist den deutschen Behörden vor US-ameri kanischen Gerichten nicht so ohne weiteres möglich. Deshalb ist die wirkungsvollste Form der Durchsetzung von Zwangs arbeiterforderungen nach wie vor die der Sammelklage in den USA. Diese funktioniert allerdings nur dann, wenn die be klagten Firmen in den USA große Vermögenswerte besitzen oder vom Verlust ihrer Marktchancen bedroht sind. Von den zwei einhalb Tausend noch heute existierenden Sklavenhalterbe trieben haben nur einige Dutzend ökonomische Interessen in den USA, weshalb die meisten nur zögerlich in den Industrie fonds zur Abwendung der Klagen in USA einzahlen.

Für die deutschen Konzerne mit globalen Interessen tut die Bundesregierung, was sie kann. Während Finanzminister Hans Eichel auf deutsche Gerichte Druck ausübt, da versucht es Außenminister Joseph Fischer gegenüber den US-amerikani schen Gerichten. Er ließ einem Gericht in USA mitteilen, dass die Degussa "gezwungen" worden sei, das geraubte Zahn gold der ermordeten Juden zu schmelzen, denn sie sei die einzige Firma, die dazu in der Lage gewesen sei. Zahlreiche Dokumente belegen, dass die Degussa, die "Deutsche Gold- und Silberscheide Anstalt", hinter dem Raubgold her war wie der Teufel hinter der armen Seele. Das sollte Minister Jo seph Fischer nicht gewusst haben, der den Persilschein für Degussa ausstellen ließ?

Fischer hatte Erfolg: Degussa wurde von weiteren juris tischen Nachstellungen in USA befreit. Ganz nach dem Motto des Kanzlers Schröder, der bei seinem Amtsantritt das Pro blem der nicht kompensierten Zwangsarbeit vorfand und nur eine Sorge kannte: Wie kann ich die deutsche Wirtschaft vor den Forderungen aus den USA zu Gunsten der Zwangsarbeiter schützen?

An dieser Aufgabenstellung wird bis heute festgehalten. Sofort nach der internationalen Einigung über die Höhe der zu leistenden Kompensationszahlungen von zehn Milliarden Mark setzte der noch anhaltende Streit um die Frage ein: Wie wird das Geld verteilt? Wer schon etwas bekommen hat, dem wird diese Summe von den künftigen Zahlungen abgezogen, hieß es. So hat die IG Farben dereinst einer gewissen Anzahl ihrer Zwangsarbeiter zwei mal zweieinhalb Tausend Mark ge zahlt. Und dieser Betrag soll nun angerechnet werden, so dass für zwei Jahre Arbeit unter ständiger Todesangst nur noch rund 5.000 DM, nicht aber der entgangene Lohn gezahlt werden soll? Wobei die große Mehrheit der Opfer bisher über haupt keine Mark bekommen hat, seitdem es Herrn Abs gelang, die Entschädigung für Zwangsarbeit von der Tagesordnung der Londoner Schuldenkonferenz 1953 wieder herunterzunehmen.

In der Schlussphase der deutsch-amerikanisch-israeli schen Verhandlungen haben sich die Nutznießer des NS-Zwangs arbeitersystems um keinen Millimeter bewegt. Nach Abzug der Steuerbefreiung haben sie nur 2,5 Milliarden Mark zu zah len, die deutschen Steuerzahler hingegen 7,5 Milliarden. Für diese 2,5 Milliarden wollen sie den Opfern das Recht, vor Gericht für ihre Sache zu streiten, abkaufen, sie wollen nicht nur die Ausbeutung der Sklaven damit "humanitär" kom pensieren, ohne ihnen Schadenersatz oder Lohnnachzahlung zu gewähren. Ja, sie wollen sogar ihre Hehlerei und ihre Arisie rungsgeschäfte damit ungeschehen machen. Nicht einmal ent schuldigt haben sie sich, das überließen sie dem Bundespräsi denten.

In die Bewegung zu Gunsten der Zwangsarbeiter ist erst Schwung gekommen, als sich Solidarität zeigte. Solidarität von Anwälten in USA - die hier bei uns von bestimmten Medien gern als gierige jüdische Advokaten dargestellt werden - und von Gewerkschaftern und Opferverbänden in Deutschland und Osteuropa. Diese Bewegung erreichte im Dezember ein wichti ges Zwischenergebnis. Aber das Ringen um mindestens 10.000 DM für alle, für unbürokratischen Umgang mit den Opfern - ohne diskriminierende Fristen - und für Gerechtigkeit durch Rechtssicherheit - Rechtssicherheit für die Opfer, nicht für die Täter -, dieses Ringen geht weiter.

 

Das Ergebnis ist unzureichend und beschämend

Die Zahlung von 2,5 Milliarden Mark durch die Wirtschaft darf nicht das letzte Wort sein. 7,5 Milliarden hat die öf fentliche Hand zu zahlen unter Berücksichtigung der Steuerbe freiung der Wirtschaft. Dieses Verhältnis ist unausgewogen - und auch die Summe reicht nicht aus. Für 2,5 Milliarden möch ten die deutschen Firmen und Banken alles bekommen: Absolu tion für Mord und Vernichtung durch Arbeit, für Raub, Hunger, Demütigung, Diskriminierung, ungesetzliche Bereicherung, schwerste Körperverletzung, Freiheitsberaubung und auch noch für Hehlerei mittels Arisierung. Und künftig wollen sie an ihre nie gesühnten Verbrechen nicht mehr erinnert werden.

Und das soll noch lange so bleiben. Denn mit der Verein barung vom 17. Dezember in Berlin ist ja noch keine Zah lungsanweisung erfolgt. Es wurde ein Gesetzentwurf vorge legt, der nur einem Drittel der überlebenden Opfer Zahlungen verspricht, und auch das nur nach diskriminierenden Prüfun gen und bei Verzicht auf rechtliche Durchsetzung ihrer For derungen.

Ulrich Sander


Anmerkungen:

1) Angaben aus dem Film von Conrad Schuhler "Das letzte Tri bunal", SZ-TV, gesendet am 15. 12. 99, vgl. auch Ossietzky Nr. 25, S. 869

2) So eine Regierungsantwort an die PDS-Bundestagsabgeordne te Ulla Jelpke, vgl. "Der lange Schatten der NS-Diktatur", Hamburg/Münster 1999, S. 140)

 


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