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Updated: 18.12.2012 15:51
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Die anderen »Vertrauensleute«

Olaf Klenke* über Renate Hürtgens Blick in das Herrschaftsgefüge der DDR

Vertrauensleute spielen in der bundesdeutschen Gewerkschaftsbewegung eine wichtige Rolle. Vertrauensleute gab es auch in der DDR, die allerdings nicht mit den heute Bekannten verwechselt werden sollten. In der DDR bekleidete der Vertrauensmann oder später immer öfter die Vertrauensfrau eine ehrenamtliche Funktion auf der untersten Ebene des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB). Der FDGB war eine Staatsgewerkschaft, in der de facto eine Zwangmitgliedschaft existierte. Demzufolge waren dort fast alle Beschäftigten der DDR organisiert. Die Staatsgewerkschaft stellte ein Instrument der herrschenden Partei SED dar. Die Hauptaufgabe des FDGB bestand darin, die Parteitagsbeschlüsse in den Betrieben umzusetzen. Verbesserungen der Lohn- und Arbeitsbedingungen standen dabei an letzter Stelle.

Die Berliner Historikerin Renate Hürtgen beschreibt in ihrem neuen Buch die Geschichte und Rolle der Vertrauensleute in diesem Herrschaftssystem. Keine moderne Diktatur - auch nicht die in der DDR - kann ihre Herrschaft und den notwendigen gesellschaftlichen Wandel allein auf Repressionsmechanismen aufbauen, sondern muss auch integrative Momente besitzen. Ein solcher Einbindungsprozess funktioniert nicht ohne ein Mindestmaß an Partizipation, so die Annahme der Autorin. Indem sie das Spannungsverhältnis »zwischen Disziplinierung und Partizipation« für die jeweiligen Entwicklungsphasen der DDR historisch verfolgt, liefert sie mehr als die Geschichte eines ehrenamtlichen Funktionärs: »Am Vertrauensmann, seinem veränderten Funktionsverständnis, seiner Rolle im betrieblichen Überwachungssystem oder seinem Verhalten in Konfliktsituationen scheint ein Stück Alltagsgeschichte im DDR-Betrieb auf.« (S. 12)

Die Geschichte der DDR ist bisher meist aus der Perspektive der ehemaligen Machthaber erzählt worden. Allerdings brach die Herrschaft der SED nicht einfach an ihren inneren Widersprüchen zusammen. Der Abtritt der Staatspartei wurde im Herbst 1989 durch eine demokratische Massenbewegung von unten erzwungen. Aber warum und wie konnte das Herrschaftssystem der SED davor so lange funktionieren? Am Beispiel der Geschichte der so genannten »Vertrauensleute« in der DDR versucht Renate Hürtgen eine Antwort zu geben. Die Arbeit ist historisch in drei Abschnitte unterteilt: die 1950er und 1960er Jahre, die 1970er und 1980er Jahre sowie die Wendezeit 1989/90. In der Darstellung wird dabei immer wieder nach drei zentralen Aspekten gefragt: a) nach dem Verhältnis von Disziplinierung und Partizipation, b) nach der Stellung des ehrenamtlichen Gewerkschaftsfunktionärs in der betrieblichen Herrschaftshierarchie und c) dem Wandel des Verhaltens der Belegschaften und der Vertrauensleute.

Das erste Kapitel beschreibt anhand ausgewählter Problemfelder, wie für die Errichtung der Parteiherrschaft selbstorganisierte Belegschaftsinitiativen beseitigt wurden, die in der Nachkriegszeit entstanden waren. Es wurde eine quasi-gelbe Staatsgewerkschaft aufgebaut, die im Parteiinteresse agieren sollte. Für deren Funktionäre zählte als Auswahlkriterium nicht eine »gute« Gewerkschaftstradition, sondern die »Anpassung an das neue System«. Der zweite Teil des ersten Kapitels behandelt die wirtschaftlichen Modernisierungsversuche der 60er Jahre. Das Scheitern des so genannten »Neuen Ökonomischen Systems« war der Autorin zufolge nicht nur durch die Grenzen einer zentralistisch geregelten Staatswirtschaft vorgezeichnet. Auch eine Belegschaftsbeteiligung im Sinne eines »aktiven und vor allem partizipatorisch sich verhalten könnenden Beschäftigten« (S. 95) fehlte.

Den eigentlichen Hauptteil des Buches bildet das zweite Kapitel. Mit den 1970er und 1980er Jahren wird der Zeitraum behandelt, in dem die Beschäftigten die Erfahrungen sammelten, mit denen sie in das Jahr 1989 gingen. Nach Renate Hürtgen ist diese Zeit als sehr widersprüchlich zu charakterisieren. Kam es einerseits zu einer zunehmenden Militarisierung und Überwachung der DDR-Gesellschaft, gab es in den 1970er Jahren zugleich einige Maßnahmen zur Verbesserung der Lebenssituation, wie etwa die Anhebung der Mindestlöhne. Aber die Zeit der Experimente war vorbei, die »DDR-Gesellschaft hatte sich in diesem Sinne >normalisiert<« (S. 100). Die zentralen Fragen, die in diesem Kapitel behandelt werden, sind: Welche Rolle spielte in dieser Zeit der Vertrauensmann in der Gewerkschaftsarbeit, im betrieblichen Überwachungssystem der Staatssicherheit und bei den weitgehend nicht öffentlich ausgetragenen Arbeitskonflikten?

Kaum eine, muss in der Kürze der Besprechung und ganz allgemein geantwortet werden. Zum einen besaßen die Vertrauensleute in der betrieblichen Hierarchie eine geringe Bedeutung, auch wenn in den späten 80er Jahren versucht wurde, den Vertrauensmann zur Disziplinierung seiner Kollegen heranzuziehen. Und letztlich, so lässt sich vielleicht Renate Hürtgens Darstellung zusammenfassen, war die Entwicklung des Vertrauensmannes bzw. der Vertrauensfrau von einer Tendenz zur Individualisierung und Privatisierung geprägt - eine Entwicklung, wie sie oft für die gesamte DDR-Gesellschaft dieser Zeit festgestellt wird.

Allgemein kann der Vertrauensmann dieser Zeit als unpolitisch charakterisiert werden. Zu der Widersprüchlichkeit des »Unpolitischen« gehörte allerdings auch, dass der Anteil der Vertrauensleute mit SED-Mitgliedschaft seit den 1950er Jahren fiel. Wenn sich Vertrauensleute als Funktionäre verstanden, dann eher als »>Kulturfunktionäre< ihres kleinen Belegschaftskollektivs, in dem sie für eine harmonische Atmosphäre sorgen wollten.« (S. 190) Von den vier Typen von Vertrauensleuten, die Renate Hürtgen ausmacht, gab es nur einen, der sich am Rande der offiziellen Gewerkschaftsfunktion für die Mitglieder einsetzte und deswegen mit betrieblichen und gewerkschaftlichen Leitungen in Konflikt geriet.

Von dem betrieblichen Aufbruch des Herbstes 1989, der im Schlusskapitel betrachtet wird, fühlte sich die Mehrzahl der Vertrauensleute überrollt. Eine Minderheit spielte allerdings eine vorwärtstreibende Rolle und wurde zu einem echten Ansprechpartner für die Beschäftigten. Zumindest einige der damaligen Betriebsaktivisten waren so in den Jahren zuvor bereits als kritische und weniger staatskonforme Vertrauensleute aufgefallen.

Renate Hürtgens Buch ist mehr als eine Geschichte der Vertrauensleute in der DDR. Sie schildert am Beispiel der Staatsgewerkschaft FDGB die Widersprüche auf der untersten Ebene einer Massenorganisation der SED. Zugleich bietet das Buch Einblick in zentrale, bisher zu wenig bekannte Seiten des Betriebsalltages. Dazu gehört das Überwachungssystem im DDR-Betrieb, die Reaktion der Arbeiterschaft auf die polnische Streik- und Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc 1980/81 sowie das Konfliktverhalten der Arbeiter insgesamt.

Die Autorin zeichnet ein Bild der gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR, wonach es der SED gelungen war, jegliche Zusammenhänge einer kollektiven und eigenständigen Arbeiterbewegung auszumerzen. Auch deswegen sei in der DDR der Streik als Konfliktmittel verschwunden. Zu dem Bild gehörte allerdings auch die unterschwellige Befürchtung der Parteiführer vor der Bildung eines Konfliktpotentials in den Betrieben, was die fast wahnhafte Verfolgung selbst kleinsten politischen Protestes durch die Staatssicherheit im Betrieb dokumentiert.

Für das Buch hat die Autorin eine Vielzahl von gedruckten und ungedruckten Quellen ausgewertet und Interviews mit ehemaligen Vertrauensleuten durchgeführt. Daneben bezieht sie sich auf bereits erschienene Literatur. Renate Hürtgen gehört zu den wenigen in der DDR-Forschung, die die Lage der Arbeiterschaft in der DDR thematisieren. Dies ist ihr auch diesmal am Beispiel des Vertrauensmannes gelungen. Man kann nur hoffen, dass der Preis von 42,90 EUR den Kreis der interessierten Leser nicht zu stark einengt.

Renate Hürtgen: »Zwischen Disziplinierung und Partizipation. Vertrauensleute des FDGB im DDR-Betrieb«, Köln 2005, 353 Seiten, EUR 42,90, ISBN: 3-412-14205-0. Siehe weitere Informationen des Verlags externer Linkpdf-Datei

 

 

 

* Olaf Klenke ist Politikwissenschaftler und lebt in Berlin.

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 6-7/05


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