letzte Änderung am 12. Dez. 2002 | |
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1989 ist tarifpolitisch gesehen ein Jahr, das im Zeichen der Vorbereitung auf die endgültige Durchsetzung der 35-Stunden-Woche steht. Statt von tarifpolitischer Kampagnen wird das gewerkschaftliche Leben von den vielfach einschneidenden Folgen der DGB-Strukturreform beherrscht. Der Zwang des DGB zum Sparen, verbunden mit der Notwendigkeit der Verkleinerung von Verwaltung und Straffung der Organisation, bleibt nicht ohne Auseinandersetzungen, vor allem an der Basis.
Was die Gesetzgebungspolitik der konservativ-liberalen Bundestagsmehrheit betrifft, so gibt es nach der umstrittenen Gesundheitsreform eine bemerkenswerte Einigung zur Verabschiedung der Rentenreform. Die amtierende Regierungskoalition und die SPD verständigen sich 1989 auf eine Reform der gesetzlichen Rentenversicherung. Sie sieht u.a. die Verlängerung der Lebensarbeitszeit für Frauen auf 65 Jahre vor und rückt von der Bruttolohnorientierung der Renten ab.
Ab Juli 1992 richtet sich die Rentenanpassung nach der Entwicklung der Nettolöhne und -gehälter des Vorjahres. Bei den Gewerkschaften stößt diese Rentenreform, insbesondere wegen der Verlängerung der Lebensarbeitszeit, auf heftige Kritik. Beschäftigungspolitisch ist sie ein fataler Ausweg zur Bewältigung von Finanzierungsproblemen bei der Rentenversicherung.
Bei den Kommunal-, Landtags- und Europawahlen haben die Parteien der Regierungskoalition empfindliche Stimmeneinbußen hinnehmen müssen. Erstmals kommen die rechtsextremen Republikaner in die Parlamente. Dennoch werden CDU/CSU und FDP bei den Bundestagswahlen am 25. Januar 1987 erneut als Regierungskoalition von den Wählern bestätigt, allerdings mit einem erheblichen Stimmenrückgang. Nur scheinbar führen die Wahlergebnisse und wachsender Problemdruck Anfang 1988 bei der Regierung Kohl zum Umdenken in der bisherigen Arbeitsmarktpolitik. Strukturprobleme im Bergbau, in der Stahlindustrie und bei den Werften bedrohen hunderttausende Arbeitsplätze. Vom Strukturwandel sind das Ruhrgebiet, das Saarland und die Küstenregion schwer betroffen. Die großen Protestaktionen der von der Massenarbeitslosigkeit bedrohten Arbeitnehmer veranlassen die Bundesregierung, mit Gewerkschaften und Länderregierungen ein gemeinsames Vorgehen zu vereinbaren. Jetzt endlich sagt die Bundesregierung Strukturhilfen zu.
Zunächst sehen die Gewerkschaften in den Konferenzen von Regierungs- und Gewerkschaftsvertretern eine grundsätzliche Änderung der bisherigen Einstellung der Regierung zur Arbeitsmarktpolitik. Doch bald müssen sie erkennen, dass die Kohl-Regierung nicht willens ist, ihren bislang beschrittenen Weg zu verlassen und Krisenstrategien zur Überwindung der Massenarbeitslosigkeit zu entwickeln. Im Grunde genommen bleibt sie bei ihrer Auffassung, dass die "Selbstheilungskräfte" des Marktes ausreichen, mit dem Problem des Arbeitsmarktes fertig zu werden.
Die letzten Monate des Jahrzehnts werden geprägt von der Öffnung der Grenzen zwischen der DDR und der Bundesrepublik und dem Fall der Berliner Mauer. Nach dem ersten Jubel tritt Ernüchterung ein. Insbesondere bei den Arbeitnehmern kommen Sorgen über den Arbeits- und Wohnungsmarkt sowie über Lohndumping und weiteren Abbau sozialer Rechte auf. Diese Sorgen existieren, obwohl 1989 ein weiteres Jahr mit einem Wirtschaftswachstum um 4% ist. Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sind so gut, dass eigentlich allgemeiner Wohlstand herrschen müßte. Trotzdem werden im Jahresdurchschnitt 2,038 Millionen Arbeitssuchende registriert.
Und es gibt weitere Problembereiche:
Eine halbe Million Menschen ist obdachlos. Der Deutsche Mieterbund schätzt den Fehlbestand an Wohnungen auf eine Million. Zusätzliche Nachfrage der Aus- und Übersiedler hat aus Wohnungsmangel Wohnungsnot gemacht. Die Mieten steigen dreimal schneller als die allgemeinen Lebenshaltungskosten, die sich 1989 wieder um 2,8% erhöhen.
Nur 30% aller männlichen Arbeiter erreichen gesund mit 63 oder 65 Jahren das Rentenalter. 30.000 Menschen, die am Arbeitsplatz mit gefährlichen Stoffen umgehen, sterben jährlich an Krebs. Die Kosten für jährliche Umweltschäden werden auf rund 120 Millionen DM geschätzt. Zur bedarfsgerechten Versorgung mit Kindergärten müsste das bestehende Angebot von 1,4 auf 2 Millionen erhöht werden.
Ob es sich um die neue Rekordzahl von 975 Drogentoten, um fehlende Studienplätze, Langzeitarbeitslose oder um die Schädigung der Wähler handelt, die Mißstände werden von der konservativ-liberalen Regierung nicht angegangen, noch nicht einmal wirklich registriert.
Die Anhäufung politischer Probleme trübt den Blick für Ereignisse, die oftmals ein Schlaglicht auf das Barometer der politischen Kultur werfen und Veränderungen anzeigen.
Daß die Menschenwürde ausländischer Mitbürger wenig gilt, insbesondere, wenn es die Wahlkampftaktik gebietet, demonstriert die hessische CDU in der Endphase der Wahlauseinandersetzung um die Neuverteilung der Kommunalmandate. Vor allem in Frankfurt buhlt die CDU mit Zugeständnissen an eine ausländerfeindliche Grundstimmung um rechte Wähler. Das geht so weit, dass die NPD Klage führt, die Christdemokraten hätten ihre Flugblattformulierungen übernommen. Selbst antisemitische Parolen finden sich in den Wahlkampfanzeigen. Sechs NPD-Mitglieder, die in Frankfurt zu kommunalpolitischen Mandaten gelangen, lassen keinen Zweifel, wess <Geistes Kinder> parlamentsfähig geworden sind. Hasstiraden und antisemitische Hetze aus dem Kreis der braunen Neuparlamentarier sind an sich gefährlich genug. Die Wahlerfolge alter und neuer rechtsextremer Parteien zeigen jedoch, dass solche Töne einen nicht zu unterschätzenden Rückhalt in Teilen der Bevölkerung finden.
Aber trotz allem: Menschen aus Parteien, Gewerkschaften, Jugendverbänden und Kirchen demonstrieren gegen rechte Demagogen. An Kundgebungen und Lichterketten beteiligen sich Hunderttausende.
Die Bundesregierung macht weiter in Optimismus. Sie und die Massenmedien vermitteln ein Bild über die Lage der Nation, wonach nur Grund zur Zufriedenheit bestehe. Wachstum, Beschäftigungszuwachs, Leistungsbilanzüberschuß und Gewinnentwicklung könnten wachsenden Wohlstand für alle Bürger bringen. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus.
Bei hohen Wachstumsraten bleibt es bei millionenfacher Arbeitslosigkeit. Im Durchschnitt 1989 suchen rund zwei Millionen registrierte Arbeitslose vergeblich einen Arbeitsplatz, und die stille Reserve der nichtregistrierten Arbeitssuchenden beträgt rund eine Million Menschen. Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik heißt Massen- und Langzeitarbeitslosigkeit. Mehr als 700.000 Menschen suchen bereits länger als ein Jahr vergeblich einen Arbeitsplatz, 140.000 bemühen sich bereits vier Jahre und länger.
Arbeitslose vor allem Langzeitarbeitslose werden abgedrängt und ins gesellschaftliche, ökonomische, soziale und kulturelle Abseits gestellt. Mehr als 3,3 Millionen Menschen (= 5,2 Prozent der Gesamtbevölkerung) müssen 1989 Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem BSHG beziehen, weil ihr Einkommen unterhalb der Armutsgrenze liegt. Seit 1980 ist die Zahl der Empfänger von Hilfen zum Lebensunterhalt um rund eine Million gestiegen. In den Stadtstaaten Bremen, Hamburg, Berlin leben mittlerweile 12% der Bevölkerung von Sozialhilfe. In den vergangenen Jahren hat sich die Sozialhilfe zum expansivsten Zweig der sozialen Sicherung entwickelt.
Der Öffentlichkeit suggeriert man und sie glaubt es auch -, dass
soziale Probleme und Benachteiligungen eher das Ergebnis individueller Fähigkeiten,
Leistung und Motivation als Resultat gesellschaftlicher Verhältnisse und
Risiken seien. Wer arbeitslos wird oder arm ist, hat demzufolge selbst Schuld
an seiner Lebenslage. Die Entsolidarisierung mit den Dauerarbeitslosen und Sozialhilfeempfängern
führt zur Gesellschaftsspaltung.
Prozeß und Ergebnis der Deutschen Einheit bringen für die Gewerkschaften ungeahnte Herausforderungen. Parallel zu den sich überstürzenden politischen Ereignissen müssen neue Gewerkschaften im Bereich der DDR (den heutigen >Neuen Bundesländern<) aufgebaut werden. Die Gewerkschaften haben gleichzeitig dafür zu sorgen, dass betriebliche Interessenvertretungen nach betriebsverfassungsrechtlichen Regeln der Bundesrepublik gewählt werden.
Auch dieser Prozeß wird durch die rapide Veränderung aller Rahmenbedingungen geprägt. Aus Ansätzen eines ersten Nebeneinanders zwischen West- und neuen Ostgewerkschaften erwächst um die Jahresmitte 1990 die Notwendigkeit, sehr rasch die politische und organisatorische Gewerkschaftseinheit herzustellen. Die westdeutschen Gewerkschaften dehnen also ihren Organisationsbereich auf das Gebiet der ehemaligen DDR aus, die neu gebildeten östlichen Gewerkschaften lösen sich auf, und ihre Mitglieder treten den westlichen Gewerkschaften bei. Ungelöst bleiben jedoch zu Beginn des letzten Jahrzehnts die sich aus der Vereinigung ergebenden sozialpolitischen und arbeitsrechtlichen Probleme.
Durch den Prozeß der deutschen Vereinigung wird das tarif- und gewerkschaftspolitische Superereignis des Jahres 1990 verdeckt, nämlich die endgültige tarifliche Vereinbarung der 35-Stunden-Woche. Dies gelingt als erstes im Bereich der IG Metall, andere Bereiche folgen. Wenn auch die 35-Stunden-Woche im Rahmen eines letzten Stufenplanes erst im Jahre 1995 verwirklicht wird und z.B. in der Metallindustrie mit dem Kompromiß erkauft werden muß, dass eine bestimmte Quote von Arbeitnehmern eine wöchentliche Arbeitszeit von 40 Stunden arbeiten darf, so bleibt der Abschluß doch ein tarifpolitisches Ereignis ersten Ranges. Den deutschen Gewerkschaften ist nach dem ersten Durchbruch der IG Metall im großen Arbeitskampf des Jahres 1984 etwas gelungen, was in der internationalen Gewerkschaftsbewegung Anerkennung findet und eine unaufhaltsame Nachfolgebewegung auslöst: Die beschäftigungspolitisch unerlässliche Reduzierung der Wochenarbeitszeit unter den Rahmenbedingungen von Massenarbeitslosigkeit, fortschreitender Technologisierung und Rationalisierung.
Die wirtschaftliche Entwicklung von 1982 bis 1990 zeigt, dass trotz hoher Wachstumsraten die Lage auf dem Arbeitsmarkt weiterhin sehr angespannt ist und sich die Zahl der Arbeitslosen nur geringfügig verringert.
Am Ende des Jahrzehnts stehen die deutschen Gewerkschaften vor den für sie wohl größten Herausforderungen seit dem Wiederaufbau nach 1945. Wie sollen sie mit den politischen und sozialen Folgen des staatlichen Vereinigungsprozesses vor dem Hintergrund des tiefgreifenden Strukturwandels in Osteuropa und dem Abbau der Systemkonkurrenz fertig werden? Mit dem Fall der Mauer und den politischen Veränderungen in Osteuropa ist für die Arbeitgeberverbände und ihre Helfershelfer die Stunde des Roll backs gekommen. Die Vernichtung des Sozialstaates kann nunmehr ungebremst betrieben und das Kesseltreiben gegen ihn verstärkt fortgesetzt werden.
Gegen diese Politik können sich einzelne oder kleine Gruppen nicht zur Wehr setzen. Nur starke Gewerkschaften sind in der Lage, die Fahrt in den totalen Arbeitgeberstaat zu stoppen.
Um alte Positionen zurückzugewinnen und zu verhindern, dass Unternehmer gemeinsam mit konservativen und liberalen Kräften weiterhin das Rad der Geschichte zurückdrehen, müssen DGB und Einzelgewerkschaften stärker als zuvor ihre Rolle als kämpferische Gegenmacht erfüllen. Aus unserer Geschichte haben wir zu lernen: Wenn die Gewerkschaften offensiv anstehende Probleme angingen, hatten sie Erfolg. Soziale Fortschritte konnten nur durch Kampf errungen werden.
Die Gewerkschaften müssen zu ihren Wurzeln zurückfinden. Sie müssen den Menschen vermitteln, dass es zum Kapitalismus nur eine Alternative gibt, die Idee des demokratischen Sozialismus als unverzichtbare Perspektive für eine soziale, demokratische und ökologische Zukunft der Menschen.
Das Buch ist zu bestellen über den PapyRossa-Verlag, Köln
ISBN 3-89438-229-5, Broschur 526 Seiten, EUR 25,50
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Herbert Borghoff |
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