letzte Änderung am 10.05.2002

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Hinrich Garms

Betriebliche Selbstorganisation in der Wendezeit - die vergessene Rebellion?

 

Renate Hürtgen / Bernd Gehrke (Hrsg.)
Der betriebliche Aufbruch im Herbst 1989: Die unbekannte Seite der DDR - Revolution
Verlegt vom Bildungswerk Berlin der Heinrich – Böll – Stiftung
ISBN 3 - 927995 – 00 - 2

 

Zunächst einmal: Der Rezensent ist befangen. Ich lernte einen Teil der hier zu Wort kommenden damaligen Akteure, auch die AutorInnen, im Jahr 1990 kennen – nach dem Mauerfall, aber vor der deutschen "Einigung". Mich hat damals die Offenheit für Neues und die Diskussionskultur im "gewerkschaftlichen Flügel" der Bürgerbewegungen fasziniert – sehen wir einmal von den westdeutschen K - Gruppen ab, die sich auch damals der IUG/IKG (Initiative für unabhängige Gewerkschaften / Initiative Kritischer Gewerkschafter) als selbsternannte Führungskräfte anboten. Damals war wenig Zeit für Reflexion – auch wenn immer wieder versucht wurde, in selbstorganisierter Bildungsarbeit oder gewerkschaftlich geprägten Seminaren sich mit der politischen und rechtlichen Situation der damals schon vor der Tür stehenden BRD auseinander zu setzen.

Dankenswerter Weise halten Renate Hürtgen und Bernd Gehrke mit diesem Buch die Erinnerung an die Wende in den Betrieben von unten in den Jahren 1989/90 wach. Neben anderen Texten sind bisher unveröffentlichte Dokumente in großer Zahl (201 Seiten!) zusammen gestellt. Und die Zusammenstellung ist in gutem Sinne parteilich und authentisch, denn sowohl Renate Hürtgen als auch Bernd Gehrke waren 1989 / 90 (und später) an unterschiedlichen Orten der DDR–Opposition aktiv.

Der Band gliedert sich auf in drei Teile – sozusagen chronologisch rückwärts gehend: Den ersten Teil bildet der transkribierte Tonbandmitschnitt einer Veranstaltung vom Dezember 1999 im Haus der Demokratie und Menschenrechte, auf der die damaligen Akteure ihre eigenen Erfahrungen in der Zeit von 1989 und 1990 reflektierten – den "kurzen Herbst der Utopie", wie es in einer Ausstellung von 1999 genannt wurde.

Der zweite Teil besteht aus theoretischen Erläuterungen der HerausgeberInnen zum besseren Verständnis des ersten und dritten Teils. Insbesondere den Thesen von Bernd Gehrke in seinem Aufsatz "Demokratiebewegung und Betriebe in der ‚Wende‘ 1989" kann allerdings nicht in allen Punkten zugestimmt werden. So ist es eine doch gewagte These, dass die Wende ihren emanzipatorischen und teilweise systemüberwindenden Impetus vor allem in den Betrieben gefunden hat, oder dass diese die Keimzellen der Revolution waren. So wurden in der (West-) Literatur Streiks, Demos und andere politischen Aktionen zwar teilweise übersehen und auch nicht oder nicht so, wie sie waren, beschrieben und - dies ist gewiss ein weiterer Aspekt der damaligen Ereignisse - diese Demos, Blockaden und politischen Aktionen hätten ohne eine Vermittlung in den Betrieben nicht ihre starke Relevanz gehabt, insbesondere da die DDR noch mehr als die damalige BRD eine Arbeitsgesellschaft war, die fast die gesamte Bevölkerung "integrierte". Aber daraus eine zentrale Stellung der betrieblichen Vorgänge während der Ereignisse anzuleiten, erscheint mir sehr gewagt.

Diese Herangehensweise hat aber auch ihren Vorteil: So wird die Behandlung politischer Probleme (Ausreisewellen, Ungarn – Flüchtlinge, Staatsorgane und Stasi, Bereicherung der Gewerkschaftsfunktionäre u.a.) und ökonomischer Schwächen (Materialbeschaffung, Schichtsysteme, Produktionsmodalitäten, Arbeitszeitproblematik etc.) einmal aus betrieblicher Sicht geschildert, und auch, mit welch mannigfaltigen Vorschlägen die "Arbeiterklasse" bzw. ihre aktiven Teile diese zu verändern suchten (und dabei all zu oft auf Granit gebissen haben).

Nicht nur diese, viele andere Probleme brannten damals den Akteuren auf den Nägeln: Sollen wir neue Gewerkschaften, Räte oder reine Betriebsräte nach dem westdeutschen Modell gründen? Auch hier hat sich – leider – das bundesdeutsche Modell durchgesetzt, und so wurde zum Beispiel aus der Unabhängigen Betriebsgewerkschaft "Reform" in Teltow ein Betriebsrat nach dem Betriebsverfassungsgesetz, dasselbe Schicksal ereilte einige Rätegründungen in Oranienburg.

Aber viele Beiträge und Dokumente auch in diesem Buch weisen darauf hin, dass es während der Revolution Spannungen zwischen dem "Arbeiterflügel" und dem "Intellektuellenflügel" gab. Beispielhaft sei hier nur auf die Betriebsgruppe des Neuen Forums und auch interne Schwierigkeiten der Initiative für unabhängige Gewerkschaften, aber auch auf die Betriebsarbeit der "Vereinigten Linken" verwiesen – diese und andere Beispiele sind in aller Vielfalt dokumentiert und tauchen auch in der Betrachtung zehn Jahre danach wieder in diesem Band auf. Unabhängig davon: War es eine Revolution oder doch "nur" eine Rebellion mit anschließender Annexion? Auch diese Frage wird noch einige Zeitzeugen und WissenschafterInnen beschäftigen und kann, wenn überhaupt, wohl nur mit gebührendem zeitlichen Abstand geklärt werden.

Der dritte Teil umfaßt bisher zum Teil unveröffentlichte bzw. so bisher nicht zusammen gestellte Dokumente aus Archiven der Bürgerbewegungen oder aus Privatarchiven der AutorInnen oder der weiteren Akteure: In dieser Breite, Authenzität und Vielfalt eine fast unverzichtbare Quelle für alle, die zu diesem Themenkreis arbeiten.

In solchen durchaus historisch zu nennenden Situationen wie den dokumentierten bewahrheitet sich eine theoretische Grundaussage von E.P. Thompson: "Klasse selbst ist nicht ein Ding, sondern ein Geschehen." (E.P. Thompson 1987, S.963)

Gerade wenn wir die Entwicklung und die Dokumente aus dem heutigen Blickwinkel betrachten und im Zusammenhang mit der Entwicklung der mittlerweile zwölf letzten Jahre sehen, so besteht eine große Aktualität für die Phase, die die Angliederung Osteuropas an das kapitalistische Weltsystem im Rahmen eines Prozesses umfasst, der mit Globalisierung zwar benannt, aber unzureichend gekennzeichnet ist. Kurz gefaßt sind Beispiele für den inneren Ablauf von Selbstorganisation dargestellt, die fast mustergültig sind: Der Widerstand im Betrieb organisierte sich zunächst lokal und regional unabhängig (im Süden öfter als im Norden der DDR), die Akteure benutzten zum Teil alte und bekannte Strukturen wie die BGL (BetriebsGewerkschafts-Leitungen), um neue Verhältnisse und Strukturen zu schaffen, probierten aber auch teilweise ganz neue Strukturen auf Grundlage errungenen Wissens aus (so entstanden die ersten neuen "Räte" – nachgewiesen vereinzelt im Norden Berlins), griffen bewußt oder unbewußt auf frühere oder verwandte Bewegungen zurück (17. Juni 1953 oder die polnische Solidarnosc), interpretierten diese ihren Erfahrungen gemäß um und gründeten neue Organisationen, die durch die Beteiligung vieler und den Kontakt zu anderen politischen Gruppen mit Leben erfüllt werden.

Natürlich bleiben weitere Fragen offen, die auch die Reflexion zehn Jahre danach nicht eindeutig klären konnte: Warum geschah es in diesem Betrieb und nicht im Nachbarbetrieb, warum wurde diese Person oder dieser Personenkreis aktiv?

Leider ist es auch Teil der Erfahrungen, dass die neuen Strukturen später allzu schnell in das politische System der übermächtigen Bundesrepublik integriert wurden. Dies führte zunächst auch zu großen Enttäuschungen. Eine spannende Frage ist, was passiert wäre, wenn schon damals das Internet mehr Verbreitung im Osten wie im Westen gehabt hätte – wäre der Informationsfluss schneller und besser gelaufen?

Sicherlich erlitten freie und unabhängige Betriebsgruppen, Betriebsräte und Gewerkschafts-gruppen mit der Vereinigung eine Niederlage, aber – und das ist das Positive – die gelebten Erfahrungen des "aufrechten Gangs" bleiben Bestandteil der individuellen und kollektiven

Geschichte. Ganz abgesehen davon, dass diese Erfahrungen auch kurze Zeit danach wieder gebraucht wurden – erinnert sei nur an das Massensterben von ehemaligen DDR-Betrieben in der Treuhand – Periode 1990 bis 1994 und darüber hinaus. Ohne diese eigenständigen Erfahrungen in der Wendezeit sind auch Prozesse wie zum Beispiel die Gründung einer Ostdeutschen Betriebs- und Personalräteinitiative oder die Solidarität mit dem Hungerstreik in Bischofferode 1993 nicht oder nur schwer zu erklären.

Kurz und gut: Wer sich heute mit der damaligen Zeitgeschichte (es ist ja noch nicht so lange her) befassen will, oder wer die Frage behandeln will, warum "der Osten" scheinbar anders handelt, wer authentische Dokumente über den Versuch eines Aufbruchs in der DDR oder dann in Ostdeutschland, ja überhaupt für gewerkschaftlich und politisch Aktive oder Forschende, ist dieses Buch unbedingt zu empfehlen. Auch diejenigen, die meinen, über die Wendezeit schon alles gelesen zu haben, werden auf neue Erkenntnisse und Quellen stoßen.

Übrigens: Das Buch ist im Selbstverlag erschienen und kostet nur 9 €.
Bestellungen über: Bildungswerk Berlin der Heinrich Böll Stiftung, Kottbusser Damm 72, 10967 Berlin; eMail: info@bildungswerk-boell.de

Hinrich Garms ist Diplom -Soziologe und arbeitet als Doktorand zu Co-Management bei Betriebsräten in Brandenburg und Sachsen, also der ehemaligen DDR nach der Wende. Er war auch von 1991 – 1998 Mitglied im "Bündnis Kritischer GewerkschafterInnen Ost/West".

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