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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Welches Niveau bitte? Gerd Dielmann* zur Erprobung des Deutschen Qualifikationsrahmens Mit dem europäischen Einigungsprozess bekamen nicht nur die Arbeitgeber das Problem der Vergleichbarkeit von Berufsausbildungen, sondern auch die Gewerkschaften. Was bei den Hochschulausbildungen mit der Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen gründlich in die Hose ging, steht nun für Berufsausbildungen insgesamt an. Gerd Dielmann von ver.di ist der Vertreter der DGB-Gewerkschaften im »Arbeitskreis Deutscher Qualifikationsrahmen«, der von einer Bund-Länder-Koordinierungsgruppe eingesetzt worden ist und die Aufgabe hat, die bisher voneinander abgeschotteten Bildungssysteme aufeinander zu beziehen und damit einen Vergleich zu ermöglichen, der dann auch EU-tauglich ist. Im Februar 2009 wurde ein erster »Diskussionsvorschlag eines Deutschen Qualifikationsrahmens für lebenslanges Lernen« (DQR) veröffentlicht, den Gerd Dielmann hier kritisch kommentiert. Im Arbeitskreis DQR waren die Gewerkschaften u.a. durch den DGB vertreten. Mit diesem nationalen Qualifikationsrahmen sollen die Empfehlungen des Europäischen Rats und des Europäischen Parlaments umgesetzt werden, den Europäischen Qualifikationsrahmen (EQR) vom 23. April 2008 als Referenzinstrument für die nationalen Bildungssysteme zu verwenden. Zielsetzung ist es, jeden Bildungsabschluss, sei er allgemeinbildender oder berufsbildender Art, im Qualifikationsrahmen einer von acht Niveaustufen zuzuordnen. Bis Ende 2012 sollen alle Qualifikationsbescheinigungen mit einem Verweis auf die Niveauzuordnung versehen werden. Damit soll durch mehr Transparenz der Bildungsabschlüsse die Freizügigkeit der Arbeitskräfte und Niederlassungsfreiheit in Europa erleichtert werden. Im Frühjahr 2009 wurden Arbeitsgruppen für vier Berufsbereiche gebildet: Gesundheit, Handel, IT, Metall/ Elektro. Aufgabe der Arbeitsgruppen war es, bis Ende Januar 2010 das Instrument des DQR zu erproben und exemplarisch Bildungs- und Berufsabschlüsse aller Niveaus anhand von Indikatoren und Kompetenzbeschreibungen dem jeweiligen Niveau zuzuordnen. Die Zuordnung erfolgt anhand der verfügbaren Ordnungsmittel (Berufsgesetze, Ausbildungsordnungen, Lehrplanrichtlinien usw.) Der Versuch, jeden Bildungsabschluss in Deutschland einem von acht Kompetenzniveaus zuzuordnen, ist mit vielfältigen Problemen verbunden. Immerhin ist der Entwurf des Deutschen Qualifikationsrahmens im Vergleich zum EQR differenzierter bei den Kompetenzbeschreibungen und durchlässiger. Er unterscheidet Fachkompetenz (Wissen und Fertigkeiten) und Personale Kompetenz (Sozialkompetenz und Selbstkompetenz). Die Matrix besteht also aus jeweils vier Kompetenzbereichen auf acht Niveaustufen. Der EQR kennt ebenfalls acht Niveaustufen, aber nur drei Kompetenzbereiche, nämlich Kenntnisse, Fertigkeiten und Kompetenz. Kompetenz wird hier im Sinne der Übernahme von Verantwortung und als Grad der Selbstständigkeit verstanden. Die höhere Durchlässigkeit des DQR kommt darin zum Ausdruck, dass jedes Kompetenzniveau auch über berufliche Qualifikationen ohne Hochschulabschluss erreicht werden können soll. In der Praxis der Zuordnung erweist sich dies jedoch als schwierig, weil die Kompetenzbeschreibungen in den höheren Niveaus (Niveau 6 bis 8) sehr wissenschafts- und forschungsorientiert beschrieben sind. Erfahrung zählt nicht viel - Ausschließliche Orientierung am Bildungsabschluss Ein grundsätzliches Problem stellt die outcome-Orientierung dar, die zunächst nur formale Abschlüsse berücksichtigt. Das heißt, Zugangsvoraussetzungen und die Qualität der durchlaufenen Bildungsprozesse bleiben außer Acht, soweit sie sich nicht im »outcome« widerspiegeln. Natürlich ist es einfacher, nur formal durch Gesetze und Verordnungen oder verbindliche Richtlinien geregelte Bildungsgänge zuzuordnen. Bildung und die durch »lebenslanges Lernen« erworbenen Kompetenzen sind aber sehr viel komplexer. Bildungs- und berufsrelevante Kompetenzen werden in vielfältigen Lebenslagen und unterschiedlichsten Situationen erworben. - Keine Berücksichtigung informell oder non-formal erworbener Kompetenzen Das zentrale Problem ist aus unserer Sicht jedoch, dass beruflich erworbene Qualifikationen, wie Berufserfahrung, Kommunikationsfähigkeit, Sozialverhalten usw., soweit sie nicht mit einem geregelten Weiterbildungsabschluss verbunden sind, unberücksichtigt bleiben. Das Problem ist zwar erkannt, aber noch nicht gelöst. In einem speziellen wissenschaftlichen Gutachten soll der Frage nachgegangen werden, wie informell oder non-formal erworbene Kompetenzen bei der Niveauzuordnung berücksichtigt werden können. - Unzureichende Ordnungsmittel Weitere mögliche Fehlerquellen bei der Niveauzuordnung liegen in den Rechtsgrundlagen, auf deren Grundlage die Zuordnung erfolgen soll. Viele Ordnungsmittel (Berufsgesetze, Ausbildungs- und Prüfungsordnungen, Curricula usw.) sind noch nicht so gestaltet, dass die im Bildungsgang zu vermittelnden Kompetenzen auch als solche beschrieben werden. Wenn etwa nur Fächer- oder Themenkataloge vorliegen, aber keine ausformulierten Ausbildungsziele oder angestrebten Kompetenzen, wird eine Zuordnung schwierig. - Ist auch drin, was draufsteht? Auch wenn Ziele und Kompetenzbeschreibungen vorliegen, ist damit aber noch nicht garantiert, dass diese auch tatsächlich in dem entsprechenden Bildungsgang realisiert werden. Wenn sich etwa bei einjährigen (Kranken-)Helferausbildungen ausgefeilte Kompetenzen als Ausbildungsziele finden, diese aber in der Kürze der Ausbildungszeit oder durch die Organisation des Bildungsgangs gar nicht realisieren lassen, kann dies zu einer falschen Niveauzuordnung führen. Dieses Problem lässt sich nur lösen, wenn die Qualitätssicherung in allgemeiner und beruflicher Bildung so entwickelt wird, dass die angestrebten Ziele auch tatsächlich erreicht und überprüft werden können. - Interessengeleitete Zuordnung Eine weitere Fehlerquelle besteht darin, dass die Zuordnungen nicht nach objektiv zu diskutierenden Kriterien erfolgen, sondern auf Grund spezifischer Interessenlagen derjenigen, die die Zuordnung vornehmen. So können Akteure bestrebt sein, einen Berufsabschluss besonders hoch oder niedrig einzustufen. Dem kann nur durch ein transparentes Verfahren und eine ergebnisoffene, am besten öffentliche Diskussion begegnet werden. Aus gewerkschaftlicher Sicht ist auch der Verdacht nicht von der Hand zu weisen, dass mit der Niveauzuordnung nicht nur der Bildungs- oder Berufsabschluss bewertet werden soll, sondern zugleich eine Bewertung des Werts der Arbeitskraft erfolgt. In nicht tarifgebundenen Bereichen und im europäischen Ausland ist es gut vorstellbar, dass mit dem Niveau des Abschlusses zugleich eine tarifliche Eingruppierung vorgenommen wird. - Einheitliche Zuordnung vergleichbarer Berufe? Im Grundsatz ist für jeden einzelnen Bildungsabschluss eine individuelle Niveauzuordnung vorzunehmen, die sich auch in den einzelnen Kompetenzbereichen unterschiedlich darstellen kann. Das ist aber ein sehr aufwändiges Unterfangen bei etwa 400 staatlich anerkannten Berufsabschlüssen und zahllosen Bildungs- und Weiterbildungsregelungen. Berufe mit vergleichbaren Anforderungen und Berufsprofilen sollten sich auch unbeschadet der Formulierungen in den Ordnungsmitteln in gleichen Niveaustufen wiederfinden. Wichtig ist auch die Wertigkeit von beruflicher Bildung im Verhältnis zu allgemeinbildenden Abschlüssen. Ist es denkbar, dass sich das Abitur als Bildungsabschluss auf Niveau 5 wiederfindet, eine hochqualifizierte Berufsausbildung nur auf Niveau 4? Wird es zwischen zweijährigen Ausbildungsberufen nach Berufsbildungsgesetz (BBiG) und dreieinhalbjährigen einen Unterschied in der Niveauzuordnung geben? Vieles wird davon abhängen, wie die Kultusministerkonferenz das Abitur zuordnet. Diskutiert werden Niveau 4 oder 5. ... angewandt auf Gesundheitsberufe In der Arbeitsgruppe Gesundheit ist ver.di als einzige Gewerkschaft (neben dem Marburger Bund) mit einer Person vertreten. Die AG hat etwa 20 Mitglieder. Vertreten sind neben dem DQR-Büro Bundes- und Landesministerien, VertreterInnen des allgemeinbildenden Schulwesens (berufsbildende Schulen, VHS, Hochschulen) sowie Berufs- und Fachverbände (Bundesärztekammer, Deutscher Bundesverband für Logopädie, Gesellschaft für med. Ausbildung). - Berufserfahrung wird nicht gewürdigt Auch in der AG Gesundheit wurde das Problem diskutiert, dass sich der DQR nur auf geregelte Bildungs- und Berufsabschlüsse bezieht und beispielsweise Berufserfahrung oder andere informell erworbene Kompetenzen bei der Niveauzuordnung keine Rolle spielen. Dadurch und durch die Kompetenzbeschreibungen kommt es tendenziell zu einer Unterbewertung beruflich erworbener Kompetenzen. So wird etwa der frisch approbierte Assistenzarzt mit Promotion einem höheren Qualifikationsniveau (Niveau 8) zugeordnet als der langjährig weiterbildete und berufserfahrene Facharzt ohne Doktortitel (Niveau 7). Die berufserfahrene Intensivpflegefachkraft mit dreijähriger Ausbildung, mehrjähriger Berufserfahrung und zweijähriger Weiterbildung wird dem Niveau 5 oder 6 zugeordnet werden, während ein Bachelor mit pflegebezogener Studienrichtung ohne Berufserfahrung dem Niveau 6 zugeordnet ist. Auch die Annahme, dass ein promovierter Medizinphysiker im Bereich der Sozialkompetenz leicht das Niveau 8 erreicht, während eine erfahrene Krankenpflegehelferin kaum Chancen hat, über Niveau 3 hinauszugelangen, wirft ein deutliches Licht auf die Kompetenzbeschreibungen. - Sozialkompetenz wird unzureichend beschrieben Für die Sozial- und Gesundheitsberufe ist die unzulängliche Beschreibung von »Sozialkompetenz« in den jeweiligen Niveaustufen besonders gravierend. Die beruflichen Anforderungen im zielgruppengerechten mit Kindern, Kranken oder alten Menschen Umgang finden sich dort nicht wieder. Sozialkompetenz wird als Führungskompetenz und Teamfähigkeit beschrieben. Der angemessene Umgang mit Patienten, Klienten oder Pflegebedürftigen spielt überhaupt keine Rolle. Ähnliches dürfte für andere personenbezogene DienstleisterInnen, etwa im kaufmännischen Bereich oder der Körperpflege gelten. - Erste Vorschläge für Niveauzuordnungen Im Rahmen der Erprobung des Instruments DQR hat die Arbeitsgruppe erste Vorschläge für Niveauzuordnungen entwickelt. In der Diskussion bewegten sich die Vorschläge für die Einstufung der Gesundheits- und Krankenpflege zwischen Niveau 3 (Vorschlag Deutsche Krankenhausgesellschaft) und Niveau 6 (Vorschlag ver.di). Schließlich erfolgte eine mehrheitliche Verständigung auf Niveau 5. Das deutet auf weite Interpretationsspielräume bei den Kompetenzbeschreibungen hin. Ein weiteres Problem besteht darin, dass in den Ordnungsmitteln anspruchsvolle Ausbildungsziele formuliert werden, die zu einer hohen Niveauzuordnung führen, aber – z.B. bei HelferInnenausbildungen – in der gegebenen Zeit gar nicht erreicht werden können. So ließen sich manche landesrechtlich geregelten Assistenzausbildungen auf Grund der angestrebten Kompetenzen leicht der Niveaustufe 4 zuordnen, die andererseits auch für Fachberufe in Frage kommt. In den nächsten Wochen werden die Abschlussberichte der Arbeitsgruppen erstellt. Wenn eine breite Akzeptanz erreicht werden soll, bedarf das Instrumentarium dringend der Überarbeitung und Nachbesserung. Das Problem der nicht bewerteten informellen Kompetenzen (z.B. Berufserfahrung) muss gelöst werden. Neben der notwendigen Überarbeitung des Instrumentariums sollte eine breite öffentliche Diskussion über Sinn und Funktionsweise des DQR geführt werden. ver.di hat mit dem DGB verabredet, sich an der Diskussion mit Veröffentlichungen und einer Fachtagung zu beteiligen. Da die Niveauzuordnung sowohl der allgemeinbildenden Abschlüsse (Abitur Niveau 4 oder 5?) als auch der Berufsabschlüsse letztlich politisch entschieden wird, werden wir auf eine angemessene Berücksichtigung beruflich erworbener Kompetenzen drängen und eine sachgerechte Niveauzuordnung aller Berufe einfordern. Nachtrag vom 18. Mai 2010 Die Abschlussberichte der Arbeitsgruppen zu den vier Berufsbereichen Gesundheit, Handel, IT und Metall/ Elektro lagen bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe noch nicht vor. In den Arbeitsgruppen erfolgte eine Erprobung des DQR durch exemplarische Zuordnung von Bildungsabschlüssen aus den verschiedenen Berufsbereichen. Auf Druck der Sozialpartner hat der Schulausschuss der Kultusministerkonferenz zwischenzeitlich auch seine Niveauzuordnungsvorschläge für allgemeinbildende Schulabschlüsse vorgelegt. Danach sollen der Hauptschulabschluss dem Niveau 2, der mittlere Schulabschluss dem Niveau 3, die Fachhochschulreife dem Niveau 4 und die abgeschlossene allgemeine Hochschulreife (Abitur) dem Kompetenzniveau 5 zugeordnet werden. Daraufhin werden in den Arbeitsgruppen Handel, IT und Metall/Elektro die Niveauzuordnungsvorschläge der beruflichen Abschlüsse neu diskutiert. Auch für die AG Gesundheit stellt sich die Frage, ob der Zuordnungsvorschlag für Medizinische Fachangestellte zum Niveau 4 unter diesen Umständen noch als sachgerecht angesehen werden kann. Am Beispiel der Sozialkompetenz wird die Problematik besonders deutlich: Die Kompetenzbeschreibung für die Niveaustufe 5 lautet: »Arbeitsprozesse kooperativ, auch in heterogenen Gruppen, planen und gestalten, andere anleiten und mit fundierter Lernberatung unterstützen. Auch fachübergreifend komplexe Sachverhalte strukturiert, zielgerichtet und adressatenbezogen darstellen«. Diese Kompetenz soll laut Schulausschuss dadurch erreicht werden, dass die »Schülerinnen und Schüler ...
Wenn die auf diese Weise erreichte Sozialkompetenz höher zu bewerten ist als die Anforderungen, die an Pflegehelferinnen im Umgang mit Schwerpflegebedürftigen oder an Medizinische Fachangestellte im Umgang mit chronisch Kranken gestellt werden, spricht das für eine Schieflage. Das Niveau 5 im Bereich der Sozialkompetenz wird gerade mal von Gesundheits- und KrankenpflegerInnen erreicht. Und selbst das ist umstritten. Dieses Beispiel zeigt dreierlei:
Hier besteht dringender Überarbeitungsbedarf. Wenn der DQR weiterhin beanspruchen will, alle Bildungsabschlüsse im deutschen Bildungssystem zu erfassen, muss den spezifischen Kompetenzanforderungen in der beruflichen Bildung besser Rechnung getragen werden. * Gerd Dielmann ist Bereichsleiter Berufspolitik in der ver.di-Bundesverwaltung und lebt in Berlin. Der Text ist im März dieses Jahres im ver.di Infodienst Krankenhäuser Nr. 48 erschienen. Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 5-6/10 |