EU-Referendum: Ein französisches NEIN
kann die Karten in Europa neu mischen
Wir leben in Frankreich derzeit in einer gewissen Euphorie.
Das NEIN zum neoliberalen Europa erhält in allen Meinungsumfragen
die Mehrheit – sechs Wochen vor der Abstimmung liegt es in der 15.Meinungsumfrage
bei 56%! Bleiben wir vorsichtig: Der "wissenschaftliche" Wert
dieser Umfragen ist begrenzt, doch zweifellos spiegeln sie eine allgemeine
Tendenz. Und diese Tendenz ist von Woche zu Woche steigend, obwohl fast
alle Medien – Fernsehen, Radio, Zeitungen, selbst die führende
Tageszeitung Le Monde, die den Ruf hat, "objektiv"
zu sein – für das Ja trommeln. Der jüngste Fernsehauftritt
von Chirac hat das NEIN noch einmal gestärkt: Dem Präsidenten
fiel es schwer zu verstehen, dass die jungen Menschen, die vom Fernsehen
"handverlesen" worden waren ihn zu befragen, nicht sehr enthusiastisch
auf die Zukunftsperspektiven reagieren, die ihnen die neoliberale EU im
allgemeinen und die Regierung Raffarin im besonderen bietet: Arbeitslosigkeit,
prekäre Existenzen…
Wir erleben in dieser Kampagne für das NEIN eine beispiellose
Mobilisierung der Linken. Dem Aufruf der Stiftung Copernic folgend, haben
sich im ganzen Land etwa tausend örtliche Komitees für das NEIN
gebildet (www.appeldes200.net
).
Auf der Linken haben sich alle politischen Kräfte (von der sozialdemokratischen
Linken bis zur extremen Linken), Gewerkschaften (CGT, FSU, Solidaires),
Netzwerke und Bewegungen (vor allem Attac) um den Kampf für das NEIN
zusammengeschlossen und handeln gemeinsam. Allein in den größeren
Städten haben bisher an die 2000 Veranstaltungen stattgefunden. Darüberhinaus
findet die Kampagne vor dem Hintergrund anhaltender sozialer Mobilisierungen
statt, vor allem im öffentlichen Dienst, in den Häfen und an
den Gymnasien. Anders als üblicherweise bei Wahlen drehen sich die
Debatten nicht um die zu wählenden "Köpfe", sondern
um den Inhalt. Man ist erstaunt über das hohe politische Niveau auf
den Veranstaltungen. Die Anhängerinnen des NEIN argumentieren wirklich
mit dem Verfassungstext. Die Anhänger des Ja suchen ihre Argumente
an anderen Orten. Sie sagen, wer gegen die Verfassung ist, ist gegen Europa,
für die extreme Rechte, für das Chaos, für den Krieg usw.
Selbst die Führung der Sozialistischen Partei übernimmt diese
monströsen Scheinargumente! Sogar der Jungfernflug des Airbus 380
Ende April in Toulouse und die Gedenkfeiern zum 8.Mai müssen als
Argumente für das Ja herhalten!
Trotz der verbleibenden Unsicherheiten stellen sich alle
schon die Frage, wie es nach dem 29.Mai weiter gehen soll, wenn das NEIN
sich durchsetzt. Was machen wir, nachdem wir auf der Place de la Bastille
und in allen Städten der Provinz gefeiert haben?
Selbst die Rechten anerkennen, dass es eine reale Dynamik
für ein linkes NEIN gibt. Der französische Innenminister verspricht
für diesen Fall einen Regierungswechsel, um die Unzufriedenheit in
der Bevölkerung aufzufangen, die sich in einem NEIN entladen kann.
Die EU-Kommission überlegt bereits Alternativszenarien; es gibt Bestrebungen,
die geplanten Volksabstimmungen in den Niederlanden und in Großbritannien
in diesem Fall abzusagen.
Die Sozialistische Partei steht unter schweren Spannungen. Ihre derzeitige
Führung hat sich so eindeutig auf die Seite des Ja geschlagen und
dabei sogar mit den Ultraliberalen verbündet – Parteisekretär
François Hollande ließ sich dazu gemeinsam mit dem Chef der
Regierungspartei UMP, Nicolas Sarkosy, abbilden –, dass die Partei
sich zwischen einem linken Kurs oder einer Fortsetzung des Blairismus
wird entscheiden müssen. Auch die KP wird eine Entscheidung treffen
müssen: zwischen den Nostalgikern der stalinistischen Vergangenheit,
den Anhängern einer Allianz mit einer New-Labour-SP und denen, die
eine Neustrukturierung der Linken gemeinsam mit den sozialen Bewegungen
suchen. Die extreme Linke wird sich entscheiden müssen zwischen einer
angeblich radikalen Selbstisolierung und dem Aufbau einer neuen breiten
politischen Kraft, die mit den sozialen Bewegungen verbunden ist und mit
der neoliberalen Sozialdemokratie bricht.
Es liegt auch auf der Hand, dass ein Sieg des NEIN die Debatte über
die Zukunft der EU neu anstößt – in Frankreich und anderswo.
Am 19.März in Brüssel war das schon spürbar: hier dominierte
das Nein zur Bolkestein-Richtlinie und das Nein zur Verfassung. Das europäische
Netzwerk Transform und die Stiftung Copernic haben am 3.April in Paris
eine europäische Versammlung für das NEIN und für ein anderes
Europa organisiert. Über 15 Länder sind der Einladung gefolgt.
Attac Deutschland hat eine Kampagne gestartet, das französische NEIN
zu unterstützen. In Athen hat es anläßlich der Ratifizierung
der EU-Verfassung im Parlament eine Demonstration zur Unterstützung
des NEIN gegeben. Das französische NEIN kann die Karten in Europa
neu mischen.
Die meisten Mitgliedstaaten der EU werden allerdings nicht
das Recht haben, demokratisch über die EU-Verfassung abzustimmen.
Die UnterstützerInnen des NEIN hoffen deshalb, dass ihre Stimme im
französischen NEIN Ausdruck findet. Wir werden sie nicht enttäuschen.
Die Debatte um Alternativen für ein anderes Europa muss jetzt auf
europäischer Ebene geführt werden – nach dem Beispiel
des Netzwerks REDDS. Das Europäische Sozialforum in Athen bietet
eine hervorragende Gelegenheit dazu. Der erste Schritt dahin ist ein europäischer
Aufruf für das NEIN – er soll denen widersprechen, die behaupten,
Frankreich wäre isoliert, wenn das NEIN sich am 29.Mai durchsetzt.
Tatsächlich sind es die Anhänger des Ja, die Tag für Tag
mehr in Frankreich und in ganz Europa isoliert sind.
Sie wollten nur eine große Freihandelszone. Wir wollen
ein demokratisches, soziales, solidarisches und friedliches Europa. Seit
1997 sind wir dafür mit den Euromärschen unterwegs. Heute können
wir gewinnen. Helft uns und kommt am Abend des 29.Mai nach Paris zur Bastille,
um den Sieg gemeinsam zu feiern… oder unsere Tränen zu trocknen,
wenn wir es nicht schaffen. In jedem Fall haben wir einen Sieg schon davon
getragen: Überall in Europa ist das Bewußtsein gewachsen, dass
der Neoliberalismus nicht die Zukunft der Menschheit ist.
Hasta la victoria, siempre!
Michael Rousseau
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