Der folgende Artikel berichtet von einem Seminar zur »effektiven Reduzierung des Krankenstandes«, das im letzten Jahr stattfand. Referent war der Fachanwalt für Arbeitsrecht, Peter Rölz, von Mai 1994 bis August 1996 Gruppenleiter im Bereich Arbeitsrecht bei Opel Rüsselsheim. Dort hatte er das inzwischen häufig zitierte Verfahren eingeführt, um Beschäftigte, die in den Augen des Unternehmens zu häufig einen Krankenschein einreichen, systematisch und mit der Kündigungsdrohung im Hintergrund zu drangsalieren (das Verfahren wird weiter unten beschrieben).
Das Tagesseminar kostete pro Teilnehmer fast 1000,- DM, es nahmen ca. 30 Personen teil: Betriebsräte, Vorgesetzte und PersonalmanagerInnen aus verschiedenen Branchen (Dienstleistung, Verkauf, Industrieproduktion).
Die Krankheitsraten der anwesenden Firmen lagen meistens zwischen 5,5 und 8 Prozent, gingen aber auch vereinzelt bis zu 10 Prozent hoch. Ausnahme war ein Frischdienstlager mit 650 MitarbeiterInnen, davon 550 gewerbliche: dort lag der Krankenstand zwischen 14 und 25 Prozent - der Vertreter der Personalabteilung meinte aber selber, daß der Verdienst dort schlecht ist und sie jetzt ein Anwesenheitsgeld pro Tag eingeführt haben.
Der Referent, der noch sehr jung ist (ca. 30), betont zu Beginn, daß es unerläßlich ist, daß beide Betriebsseiten hinter solchen Konzeptionen stehen. Wenn der Betriebsrat bei der Sache nicht mitmacht, erachtet er es für sinnlos. Die Vereinbarungen leben von der Akzeptanz. Gleichzeitig muß sie flächendeckend eingeführt werden, auf allen Ebenen bis zur Geschäftsleitung hinauf.
Der erste Schritt - und Voraussetzung für alles weitere - sei eine genaue Analyse. Er betont, daß die Personalabteilungen nicht zuständig sind für die Reduzierung des Krankenstandes, sondern die unmittelbaren Vorgesetzten.
Im Focus aller seiner Ausführungen stehen die sogenannten Kurzzeiterkrankungen. Er weist darauf hin, daß krankheitsbedingte Kündigungen bei Kurzkrankheiten nicht möglich sind. Auch hat er nicht die Absicht, Hoffnungen zu wecken, daß die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zu krankheitsbedingten Kündigungen außer Kraft zu setzen sei.
Die Möglichkeiten, die er sieht, laufen auf verhaltensbedingte Kündigungen hinaus: Er gibt den Hinweis, daß der Arbeitgeber von Einzelnen ein Attest bereits ab dem 1. Tag verlangen kann. Er behauptet, daß dies nicht gegen das Gleichbehandlungsprinzip verstößt, auch wenn er es nur von fünf MitarbeiterInnen von 30 verlangt. Er verweist auf das Entgeltfortzahlungsgesetz § 9,1. Praktisch sollte ein solches Vorgehen an eine Entscheidungsinstanz gebunden werden und objektive Kriterien zur Grundlage haben (z.B. Alkohol). Er verweist auch darauf, eine solche Regelung befristet zu verlangen, z.B. 12 Monate. Hierdurch werden insbesondere Suchtfälle deutlich.
Kollektive Regelungen hält er grundsätzlich für ungeeignet, z.B. die Zahlung des Weihnachtsgeldes von einer Krankenquote abhängig zu machen. Er betont, daß es das Normale sein muß, daß man seine Arbeitskraft zur Verfügung stellt, es insofern nicht noch besonders honoriert werden muß. Aus dem gleichen Grund spricht er sich gegen Anwesenheitsprämien aus.
Zwei Drittel der Kosten bei Abwesenheit sind Lohnfortzahlungen, ein Drittel sind andere Kosten, insbesondere Umorganisierung usw.. Der erste wichtige Schritt jeder Personalabteilung ist ein genaue Analyse der Krankheitsstatistik unter verschieden Aspekten. Z.B.: welche Ärzte schreiben wie oft krank? Fahren KollegenInnen weite Strecken zu einem Arzt? Für ihn sind dies Hinweise, an der Aussage des Arztes zu zweifeln. Durch die Einführung der Betriebsvereinbarung bei Opel wurde die Grundlage geschaffen, sich systematischer den Abwesenheitsverlauf der KollegenInnen anzuschauen. Er hat fast alle Gespräche in der 4. Runde bei Opel selber geführt, und sich dazu jeweils die letzten vier Jahre angeschaut. Dabei fiel ihm z.B. bei einem Kollegen auf, daß er seit vier Jahren immer in der Woche krank war, wo er Geburtstag hat. Dies hätte sonst keiner entdeckt.
Der nächste Punkt ist das Verhalten der Führungskräfte. Durch die Betriebsvereinbarung seien die Vorgesetzten gezwungen, »Kommunikation zu betreiben«, was oft nicht erfolgte. Viele Vorgesetzte wissen nicht viel von den Mitarbeitern. Zur Hilfestellung für die einzelnen Gesprächsstufen sind Vorlagen erstellt worden. Er meint, daß heute alle Vorgesetzten in der Lage sind, die Gespräche ohne Vorlage zu führen. Die ganze Betriebsvereinbarung zielt auch auf das Verhalten von Vorgesetzten, die oft den Einzelnen zu nahe stehen, z.B. Fahrgemeinschaft, gleicher Kegelclub. Hier sind sie durch die Betriebsvereinbarung das erste Mal zu »Gleichbehandlung« gezwungen, mit allen muß das Gespräch innerhalb von 24 Stunden geführt werden. In den Büros der Abteilungsleiter hängt offen die Statistik, so daß ein Vorgesetzter immer damit rechnen muß, daß es nachvollziehbar ist, ob er das Gespräch geführt hat oder nicht. Dazu empfiehlt er die Koppelung zwischen der Beurteilung der Führungskräfte und der Abwesenheitsquote ihrer Abteilung.
Er verwies auf das Problem, daß manche nur aufgrund seiner Fachkenntnisse Meister wurden, aber durch die Aufgaben eines Vorgesetzten überfordert sind. Daher mußten auch Vorgesetzte ausgewechselt werden, die unfähig waren oder die Leute deckten.
Bei Opel ging es nicht um krankheitsbedingte Kündigungen, sondern das Programm zielt auf verhaltensbedingte Kündigungen. Er geht davon aus, daß Kurzzeitkranke nicht in der Lage sind, alle Regeln einzuhalten. Dies führte zu einer Steigerung der verhaltenbedingten Kündigungen. Er sprach von 300, an die er in seiner Zeit beteiligt war. (Dies machte auch verständlich, weshalb er es vorzog, im Odenwald zu wohnen.)
Die Vorgesetzten wurden aufgefordert, alle Verstöße gegen irgendwelche Regelungen (Pausenzeiten nicht eingehalten usw.) sofort bei der Personalabteilung zu melden. Hielten sie sich nicht an diese Aufforderung, wurden sie selber ermahnt und abgemahnt. Um die Ernsthaftigkeit zu unterstreichen, wurden in zwei Fällen auch Vorgesetzte gekündigt.
Melden bei Krankheit: Laut Tarifvertrag muß im Krankheitsfall unverzüglich die Meldung beim Arbeitgeber erfolgen. Dies bedeutet für ihn: bei Schichtbeginn, also um sechs Uhr. Gerade bei Kurzzeitkranken geht er davon aus, daß sie sich nicht rechtzeitig melden werden. In einem Jahr wurden fünzig Kündigungen wegen zu später Krankmeldung ausgesprochen. Er behauptet, daß es ausreicht, bei einer Betriebszugehörigkeit bis zu fünf Jahren einmal abzumahnen, bei bis zu zehn Jahren zweimal und darüber dreimal und danach zu kündigen. Um dies zu unterstreichen, erzählte er von einer erfolgreichen Kündigung eines Familienvaters von zwei Kindern wegen zu später Krankmeldung und daß er das Verfahren vor dem Landesarbeitsgericht gewonnen habe.
Die Krankmeldung durch Dritte ist rechtlich zulässig. Wenn allerdings ein damit beauftragter Kollege es zu Arbeitsbeginn vergißt und erst nach der Pause den Kollegen entschuldigt, geht dies zu Lasten des kranken Kollegen, und dieser kann abgemahnt werden.
Alkohol spielte eine weitere große Rolle. Er erzählt, daß ein Kollege zum 4. Gespräch in die Personalabteilung kam, der für ihn eindeutig unter Alkoholeinfluß stand. Er brachte ihn dazu, zu blasen. Rechtlich ist klar, daß der Arbeitgeber niemand dazu zwingen kann. Er meint aber, daß die Unternehmen jemanden haben sollten, der dazu in der Lage ist und auch eine Bescheinigung über den korrekten Gebrauch des Gerätes hat, so daß dies vor Gericht verwendbar ist. Stolz erzählte er, daß bei ihm noch niemand aus dem Raum gegangen sei, der nicht »freiwillig« bereit war, zu blasen.
Im nächsten Schritt hat er als Konsequenz auch den Vorgesetzten abgemahnt, der seine Fürsorgepflicht verletzt hat, indem er den Zustand tolerierte. Danach hat er ein Informationsblatt für Vorgesetzte erstellt, aus dem hervorgeht, für welche Fälle sie haftpflichtig gemacht werden können, wenn sie fahrlässig handeln. Er betont auch die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers für den Hin- und Rückweg (betrunkene Kollegen müssen nach Hause gebracht werden). Damit wollte er die Vorgesetzten unter Druck setzten, die Leute direkt zu melden, da sie sonst selber dran sind, wenn es auffällt.
Ausgangspunkt für die Vereinbarung bei Opel sei die Auflage von General Motors in Detroit gewesen, eine Abwesenheitsquote von 6,5 Prozent zu erreichen, um die weitere Produktion zu sichern. Zuerst waren die Werke im direkten Vergleich, die den Astra produzieren. In der ersten Phase gab es auch keine Betriebsvereinbarung, sondern nur eine Absprache zwischen Betriebsrat und Unternehmen. Später erst habe er erfahren, daß der Betriebsrat auch Kontakt mit der örtlichen IG-Metall hatte und die Verwaltungsstelle die formlose Regelabsprache tolerierte. Erst nach 4½ Jahren wurde eine Betriebsvereinbarung abgeschlossen. Dies macht für ihn auch noch einmal deutlich, daß der Prozeß nur funktioniert, wenn beide Seiten ihn mittragen.
Er erklärt die einzelnen Stufen der Betriebsvereinbarung bei Opel: 1. Stufe: Motivationsgespräch, 2. Stufe: Mitarbeitergespräch, 3. Stufe: Personalgespräch, 4. Stufe: Fehlzeitengespräch. Die ersten drei Stufen führt der Vorgesetzte durch, der auch die Formulare aller Gespräche sammelt, die vierte die Personalabteilung. 42 von 8 800 Gesprächen wurden in der 4. Stufe geführt. In der Fassung der Betriebsvereinbarung, die ab dem 1.11.99 gültig ist, ist die dritte Stufe modifiziert worden, für ihn ein Zugeständnis an den Betriebsrat. In der dritten Stufe kann der/die MitarbeiterIn entscheiden, ob er/sie ein Personalgespräch möchte oder ein Gesundheitsgespräch mit dem Werksarzt führen möchte. Wenn der Werksarzt entscheidet, daß es sich um eine chronische Krankheit handelt, wird er aus dem Prozeß herausgenommen und bleibt auf der Stufe 1. Diese scheinbar rücksichtsvolle Behandlung kann aber später möglicherweise Argumente für eine krankheitsbedingte Kündigung liefern.
1992 gab es bei Opel Rückkehrgespräche bei jeglicher Abwesenheit, und bei häufigen Fehlzeiten gab es Fehlzeitengespräche. 1993 war der Krankenstand 7,5 Prozent, 1994 lag er bei 8 Prozent. Bei Einführung der Gespräche ist er erst einmal stark gefallen, bis allen nach etwa drei Monaten klar war, daß ein viertes Gespräch nicht automatisch die Kündigung zur Folge hat. Trotz Abhängigkeit vom Weihnachtsgeld und Angst vor Arbeitsplatzabbau stieg der Krankenstand wieder an (Januar 1995). Insgesamt ist das System geprägt durch den Angstfaktor Kündigung. 1996 war die Quote 6,2 Prozent bei den Gewerblichen (mit den Angestellen zusammengerechnet lag sie bei ca. 4,3 Prozent). Bei den Gewerblichen hat sie sich zwischen 5,8 und 6,2 Prozent eingependelt.
Kostenersparnis für Opel: Nach seiner Aussage 24 Millionen in einem Jahr. Nach Verhandlungen mit dem Betriebsrat kam es zur Ausschüttung einer Prämie von 13 Millionen an die Belegschaft. Dies entspricht einer Prämie von 355,- DM pro Person. Er selber findet dies schlecht und kontraproduktiv für das gesamte Vorgehen, sieht es aber gleichzeitig als Zugeständnis an den Betriebsrat. Später gab es keine Ausschüttung mehr, sondern das Geld wurde »für Arbeitsplätze« genutzt.
Ein Teilnehmer stellte die Frage nach »Krankmeldungen aus dem Ausland«. Dazu sagte er, daß die anzuerkennnen sind. Er selber habe aber folgendes praktiziert: Wenn ein Kollege erst eine Woche später aus dem Heimaturlaub zurückkam, hat er trotz korrekter Krankmeldung den Lohn nicht überwiesen. Ihm sei klar, daß dies rechtlich nicht durchzuhalten ist, da die Lohnfortzahlung in jedem Fall greift. Er hat aber auf den abschreckenden Charakter gesetzt: erst einmal Lohnabzug, dann ist eine Klage notwendig, und dies dauert oft ein bis 1½ Jahre.
Schlußbemerkung: Es war erschreckend, wie jemand in diesem Alter, vermutlich frisch von der Uni, in solch einer Position ein derartiges System entwickeln kann. Deutlich geworden ist, daß es auch in erster Linie ein Angriff auf die Vorgesetzten war. Durch den Druck, der auf diese aufgebaut wurde, wird nachvollziehbar, daß es zu verhaltensbedingten Kündigungen kommt. Ich glaube auch, daß es funktioniert, wenn er behauptet, daß gerade die Kurzzeitkranken Schwierigkeiten haben, sich morgens rechtzeitig zu melden. Erschreckend war auch, daß einige der Betriebsräte durchaus Interesse an Krankenverfolgung zeigten. Er erzählte noch, daß bei Opel nach einem Jahr ein Fragebogen verteilt wurde, wo 75 Prozent der Kollegen aussagten, daß sich das Verhältnis zum Vorgesetzten verbessert habe. Dies führte er als Beleg dafür an, daß die Kommunikation durch diese Methode verbessert werde.
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