Innovationstage des Kooperationsbüros Multimedia und Arbeitswelt
Walsrode, 10.-12. September 1999
von Klaus Pickshaus (IG Medien)
Arbeiten ohne Maß verbreitet sich immer mehr und Leistungsdruck nimmt enorm zu. Psychische Belastungen und Beanspruchungen im Arbeitsleben könnten sich zu einer "Zeitbombe" entwickeln. Dies hängt mit neuen Managementformen und veränderter Arbeitsorganisation zusammen. Die Diskussion, was dies für gewerkschaftliche Betriebspolitik und speziell für den Gesundheitsschutz bedeutet, beginnt erst.
Ich möchte einige Beispiele aus Texten von Betroffenen zitieren, bei denen es sich um authentische Berichte handelt. Diese Texte schrieben - zumindestens zum Teil - Beschäftigte der IBM. Auf Erfahrungen der Düsseldorfer IBM-Belegschaft, deren Betriebsrat seit mehreren Jahren dieses Thema bearbeitet, wird im folgenden immer wieder zurückzukommen sein.
Fall 1: Arbeiten ohne Maß bis zur Gesundheitsschädigung
"Ich habe in der letzten schlaflosen Nacht einige Gedanken niedergeschrieben, die ich mitteilen möchte.
Die Arbeitssituation: Ich erkenne die Maßlosigkeit der Ziel-Vorgabe und deren gesundheitsschädigenden Charakter. Die Team-Mitglieder erkennen das ebenfalls. Es wird gemeinsam ‚nach oben‘ signalisiert: Die Zielvorgabe ist nicht zu schaffen.
‚Von oben‘ kommt als Reaktion: Wenn ihr euren Job behaltet wollt, müßt ihr es irgendwie schaffen, sonst wird der Job verlagert. Es warten genug darauf, beweisen zu dürfen, daß sie profitabler arbeiten. Untersucht die Schwachstellen in eurem Team und stellt sie ab. Macht was ihr wollt, aber schafft die Zielvorgaben.
Was passiert nun? Einige versuchen durch Selbstpublicity und Abwerten der Teamkollegen(in) für sich selbst bessere Überlebenschancen herauszuarbeiten.
Wenn diejenigen die Oberhand gewinnen, die ‚ohne Ende‘ arbeiten (und ohne Rücksicht auf ihre Gesundheit), dann beeinflußt das auch meine Entscheidung. Ich fühle mich dann als Außenseiter und Versager und ich fühle mich von den Kollegen(innen) und vom Management auch so behandelt: ‚Der oder die ist halt nicht so schnell wie wir‘ oder ‚Wir machen ja auch nicht so viele Pausen wie der oder die‘.
Einige entwickeln geradezu einen Stolz darauf, daß sie bis an oder über die Grenzen der Gesundheitsschädigung arbeiten. So wird im Laufe der Zeit ein Arbeitslevel erreicht, das jeden, der nach vernünftigem Maß zu arbeiten versucht, zum Außenseiter und Versager stempelt."
Fall 2: Eine (durchaus erfolgreiche) Projektleiterin wird von Angst regiert.
"Ich arbeite durchschnittlich neun Stunden am Tag. Ich habe jetzt ca. 160 Überstunden angesammelt. Eine Überstunde am Tag. Ich glaube nicht, daß das besonders viel ist. Viele sehr erfolgreiche Menschen arbeiten länger. ...
Unabhängig von der Frage, ob durchschnittlich 9 Stunden Tagesarbeitszeit besonders viel sind, stellt sich heraus: Die Situation ist nun beinahe unerträglich geworden. Eine grundsätzliche Entlastung ist jedoch nicht in Sicht. Im Gegenteil steigt der Druck noch dadurch, daß ich inzwischen notgedrungen so viele Dinge vernachlässigt habe, daß ich nun Angst haben muß, die Kontrolle über meine Projekte zu verlieren.
Mich regiert blanke Angst. ...
Sollte es mir irgendwie gelingen, meine Arbeitszeit zu begrenzen und meine Projekte etwas langsamer abzuwickeln, hätte ich nicht viel gewonnen. Ich müßte den Druck, mein Projekt endlich zu beenden, nur noch länger ertragen. So ist inzwischen ein wichtiger Antrieb die falsche Hoffnung, das Projekt endlich abschließen zu können und dann doch endlich mal frei zu sein.
Aber diese Hoffnung ist vollkommen und grundlegend unsinnig. Denn die Projektarbeit hat kein Ende. Die Belohnung für ein beendetes Projekt ist ein neues Projekt."
Fall 3: Angst vor Burn out
"Im Moment bin ich ernstlich krank, nein, sicher keine streßbedingte Sache in diesem Fall, aber ein, zwei Wochen Krankschreibung täten mir sicher gut. Geht aber nicht. Es ist allerdings nicht mein Arbeitgeber oder mein Vorgesetzter, der mich nötigt, weiterzuarbeiten. Es ist auch weniger der Gruppendruck der Kollegen, diese sind auch landunter und legen einen gewissen Fatalismus an den Tag, was nicht geht, geht halt nicht. Ich selber bin es, die ihre Projekte, vielleicht weil diese in so nervenaufreibender Zusatzarbeit konzipiert und begonnen wurden, nicht platzen lassen will. Und da ist noch das Verantwortungsgefühl gegenüber all meinen ‚Kunden‘, die ich nicht hängen lassen will, denn im Gegensatz zu meinem Arbeitgeber loben sie meine Arbeitsergebnisse und betonen ihre Bedeutsamkeit für ihre eigene Arbeit.
Was mir jetzt ernsthaft Sorgen macht ist, daß ich das Gefühl habe, eine meiner Grundqualifikationen geht flöten, die ich in meiner Arbeit benötige: meine Fähigkeit, andere Menschen motivieren und ermutigen zu können. Ich verliere meine Kraft, meine Ausstrahlung, meine Überzeugungsfähigkeit. Ich bin drauf und dran, meine eigene Arbeit zu entwerten."
Wie lassen sich die neuen, immer mehr Betriebe und Branchen prägenden Verhältnisse analysieren?
Viele Phänomene sind seit langem bekannt: Alte Kommando- und Kontroll-Systeme in Unternehmen ("command and control") werden abgeschafft. Dies kann bis zur Aufhebung jeder verbindlichen Arbeitszeitkontrolle z.B. durch die Einführung von "Vertrauensarbeitszeit" führen. Die Beschäftigten erhalten sehr viel mehr Selbstständigkeit in der Arbeit. Das Ergebnis ist allerdings ambivalent: Einerseits nimmt die Autonomie in der Arbeit zu, was die Beschäftigten zurecht begrüßen, andererseits führt all dies zu einem verstärkten Druck und einem Arbeiten ohne Ende. Dieses zeigen alle drei geschilderten Fallbeispiele.
Als eine Folge geht gerade bei qualifizierten Tätigkeiten die Schere zwischen tariflichen und tatsächlichen Arbeitszeiten immer weiter auseinander. Alexandra Wagner vom Institut für Arbeit und Technik hat die Arbeitszeiten hochqualifizierter Angestellter (Anteil an allen Angestellten: 28 % in 1997) untersucht. Danach sank die tarifliche Arbeitszeit von 40,2 Stunden (1984) auf 37,1 Stunden (1997), während die tatsächliche Arbeitszeit darüber lag und sogar noch von 45,1 auf 46,2 Stunden stieg. Alexandra Wagner prognostiziert, daß sich solche unkontrollierten Arbeitszeiten künftig weit über den Kreis von Fach- und Führungskräften hinaus ausweiten.
Merkmale solcher Arbeitsbedingungen sind mittlerweile fast überall verbreitet. Besonders ausgeprägt findet man sie in der Datenverarbeitungs- und Informationstechnologiebranche, in vielen Betrieben der Medienbranche, insbesondere in den Redaktionen, und extrem ausgeprägt in den Agenturen der Werbe- und Multimediabranche.
Allerdings ist dies keineswegs immer in "Reinform" anzutreffen: Oft werden alte Kontroll-Methoden ebenso wie neue Steuerungsformen angewandt, und in den gleichen Branchen lassen sich die unterschiedlichsten Managementformen auffinden. Dennoch ist der Trend eindeutig.
Die Hauptmethode dieser neuen Managementformen besteht in indirekten Steuerungsmechanismen. Diese indirekte Steuerung erfolgt dadurch, daß jeder Beschäftigte sich ausschließlich am Kunden ("face to the customer") bzw. am jeweiligen Marktsegment orientieren soll. "Durch die indirekte Steuerung wird es möglich, selbständiges, unternehmerisches Handeln in abhängige Beschäftigungsverhältnisse einzuführen, - ohne daß an den Macht- und Eigentumsverhältnissen gerüttelt werden muß. Damit soll die Leistungsdynamik eines selbständigen Unternehmers bei unselbständigen Arbeitnehmern reproduziert und zum Hauptmotor der Produktivitätssteigerung eines Unternehmens gemacht werden." "Macht, was Ihr wollt, aber seid profitabel!" lautet die unternehmerische Parole, mit der die "neue Freiheit" angeboten wird. Allerdings sind die Grenzen der Autonomie markiert: So werden für die Unternehmen ökonomische Rahmendaten, z.B. 15 % Rendite als Zielvorgabe bei der Bertelsmann AG, und entsprechend abgeleitete Zielvorgaben für die einzelnen Profit Center und Projekte von oben festgelegt, die nicht hinterfragbar sein sollen.
Auf diese Weise entsteht eine permanente und sich steigernde Maßlosigkeit der Zielvorgaben in der Arbeit für die Beschäftigten, die durch die Orientierung von Unternehmen am Shareholder Value noch perfektioniert wird. Dies produziert einen geradezu teuflischen Mechanismus für die Beschäftigten, der ein buchstäbliches Arbeiten ohne Ende zur Folge hat. Das Management bedient sich dabei unterschiedlicher, zum Teil auch sehr traditioneller Methoden, um den Druck zu erhöhen:
sukzessive werden die Zielvorgaben für die Projekte erhöht;
beim Personal werden Einsparungen vorgenommen;
als Folge von cost-cutting-Strategien werden die Ressourcen knapper bemessen;
bei Nichterfolg von Projekten wird mit Desinvestment gedroht.
Auch wenn die Methoden auf den ersten Blick sehr traditionell erscheinen, besteht das Neue im Mechanismus darin – und dies soll hier nachdrücklich hervorgehoben werden -, daß die Beschäftigten dies wie aus eigenem Willen selbst exekutieren. Die neuen Managementformen erweisen sich zugleich als ein perfekt funktionierendes betriebliches Herrschaftssystem, das sich anstelle alter Kommandostrukturen nun des stummen Zwangs der "Satansmühle des Marktes" (Polanyi) bedient. Faktisch stellen sie den betrieblichen Unterbau des neoliberalen Gesellschaftsmodells dar, in dem alle Arbeits- und Lebensbereiche durchökonomisiert werden.
Þ Eine Nebenbemerkung, die hier nicht vertieft werden kann, aber auf eine Verallgemeinerung des Problem hinweist: Die hierin liegende Ökonomisierung aller Beziehungen und die Diktatur des Marktes werden durch die vorherrschende neoliberale Wirtschaftspolitik, die Shareholder-value-Orientierung und Benchmarking-Konzepte der gesamten Gesellschaft aufgezwungen und verschärfen die Konkurrenz- und Leistungsbedingungen für alle. Vieles, was in der gewerkschaftlichen Sprache als "Ellbogengesellschaft" gebrandmarkt wird, findet hier eine Basis und hat zur Untergrabung von vertrauten Formen von Solidarität beigetragen.
Psychische Belastungen und Beanspruchungen nehmen flächendeckend und insbesondere auch in qualifizierten Angestelltenbereichen zu. Dies wird durch zahlreiche empirische Untersuchungen – beispielsweise der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin – belegt. Aber selbst in der Boulevard-Presse und natürlich in den betrieblichen Alltagsgesprächen ist dies ein Thema (Bild v. 12. Juli 1999: "Hilfe, ich schaffe meinen Job nicht mehr. Jeder 5. fühlt sich überfordert").
Hier entwickelt eine meist noch unterschätzte Zeitbombe, da die Kosten dieses Gesundheitsverschleißes durch chronische Erkrankungen, aber auch durch Motivations- und Leistungsverlust, Störungen der modernen Arbeitsabläufe usw. beträchtlich anwachsen.
Welcher Zusammenhang besteht nun mit den neuen Managementformen?
Peters u.a. resümieren zurecht, daß die Abschaffung des alten Kommandosystems im Betrieb keineswegs einen Übergang zur "Humanisierung der Arbeit" darstellt, auch wenn die Beschäftigten von der Befreiung von Bevormundungen und Kontrollen sowie von der neuen Selbständigkeit in der Arbeit profitieren. Zum Teil entwickeln die Beschäftigten einen regelrechten Lustgewinn in der Arbeit (Fun), in dem sich der Stolz im Arbeitsprozess und zugleich der Erfolg im Verwertungsprozess ausdrücken. Die Beschäftigten erfahren dennoch diese neuen Formen als Paradoxon: Die neue, begrüßte Selbständigkeit in der Arbeit hat zugleich zerstörerische Folgen für die eigene Gesundheit und Lebensentfaltung.
Die von den Betroffenen (in allen drei Fallbeispielen) hierzu geschilderten Phänomene eines Leidens an der indirekten Steuerung sind vielfältig und zugleich eindeutig:
ständige Überarbeitung und Erschöpfung bis zum Ausgebranntsein (Burn-out-Syndrom), (vor allem in Fall 3)
psychosomatische Erkrankungen durch Angst zu versagen und permanentes schlechtes Gewissen, (Fall 2)
Hörstürze und Tinnitus-Erkrankungen durch systematische Überforderung und Überarbeitung,
die Exekution unternehmerischer Härte zwischen den Beschäftigten ("peer to peer pressure") bis zu Ausgrenzungen und Mobbing. (Fall 1)
Zweifellos sind solche Beschwerden weniger bei Berufsanfängern und jungen Angestellten anzutreffen, die noch ein unverbrauchtes Kraft- und Gesundheitsreservoir für eine Arbeit ohne Ende mitbringen. In manchen Software-Buden, Agenturen oder auch Verlagen trifft man auf solche "olympiareife" Belegschaften. Spätestens wenn es mit der Kraft und der Gesundheit nicht mehr so weit her ist oder aber auch wenn erste karrieristische Blütenträume platzen- so resümiert Klaus Peters -, ändert sich das Bild und die Wahrnehmung der Beschäftigten.
Wie gehen nun die Beschäftigten mit solchen Erkrankungssymptomen und Gesundheitsbeschwerden um?
· Ausgangsfaktum: Die Krankheitstage (AU-Tage) gehen in Unternehmen mit indirekten Steuerungssystemen zurück, so auch konkret bei IBM. (Dabei sagen AU-Tage bekanntlich nichts aus über die reale Krankheitsquote.)
· Die Konfrontation der Beschäftigten mit dem Marktdruck hat zur Folge, daß allgemein die Angst vorherrscht, eigene Schwächen oder auch nur Probleme aufzudecken oder aber anzuerkennen, daß man Gesundheitsprobleme hat. Man kann es sich nicht mehr leisten, krank zu werden bzw. krank zu feiern. Es entwickelt sich ein innerer Zwang zu Success-Stories, die die Betriebsgespräche prägen.
· Es kommt aber noch eines hinzu: Viele Beschäftigte erleben einen regelrechten Lustgewinn durch permanentes Arbeiten, bei dem die Erinnerung an mögliche Gesundheitsrisiken nur stört. (Züge eines Workaholism) Diejenigen, die darauf verweisen – wie z.B. der Betriebsrat -, werden als Spielverderber betrachtet. Dieser Lustgewinn durch Arbeit – der Fun – ist auch ein Resultat der neuen Autonomie in der Arbeit und ähnlich oft bei "Selbst-Beschäftigten", also Freien und Selbständigen, zu beobachten.
Für die Interessenvertretung der Betriebsräte und auch für die Arbeit der betrieblichen Gesundheitsschutzakteure ändern sich durch die geschilderten neuen Management- und Arbeitsformen die Voraussetzungen grundlegend. Viele Schutzregelungen und Schutzinstrumente, die den Gesundheitsverschleiß verhindern sollten, werden von den Beschäftigten selbst als "störend" empfunden.
Dies kann beispielsweise an der Abschaffung der Stempeluhr bzw. einer generellen Arbeitszeiterfassung und –kontrolle Anfang 1999 bei IBM deutlich gemacht werden. Die "Stempeluhr" war immer auch ein Instrument der Mitbestimmung durch die Betriebsräte über Überstunden, mit dem unbezahlte Arbeit und gesundheitsschädigende Überarbeitung verhindert oder zumindest eingeschränkt werden konnte. Mit der Einführung einer sog. "Vertrauensarbeitszeit" wird die Verantwortung ganz auf die Beschäftigten verlagert. Sie wird zu deren Privatangelegenheit. Daran wird zweierlei deutlich:
Keineswegs vertraut die Geschäftsleitung nunmehr der Belegschaft, sie vertraut lediglich ihren neuen Managementtechniken.
Zum anderen: Wenn z.B. der Betriebsrat als Reaktion auf die Einführung der "Vertrauensarbeitszeit" die bisherigen Kontrollformen beibehalten will, kann er selbst - zumindest in der Wahrnehmung der Beschäftigten - von einem Schutzorgan zu einem Kontrollorgan ihres eigenen Handelns werden. Dies wird unweigerlich Konflikte und eine Entfremdung hervorrufen.
Es besteht also das große Problem, wie eine Bevormundung der Beschäftigten vermieden werden kann, die ja selbst von einer Ambivalenz ihres eigenen Willens geprägt sind. Bevormundung und Zeigefinger-Attitüde sind nun gerade im traditionellen Arbeitsschutz durchaus nicht überwundene Erscheinungen. Wie demgegenüber eigenverantwortliches und gesundheitsförderndes Handeln zu einer vorrangigen Aufgabe betrieblicher Gesundheitsschutzpolitik (oder besser: Gesundheitsförderungspolitik) gemacht werden kann, ist gerade unter den neuen Bedingungen eine noch ungelöste Kernfrage, auch wenn in den letzten Jahren in vielen betrieblichen Gesundheitsförderungsprojekten mit Gesundheitszirkeln usw. hierzu wichtige Erfahrungen gesammelt werden konnten. Eines ist klar: Ohne den Kopf des einzelnen Beschäftigten zu erreichen, werden keine Fortschritte zu erzielen sein.
Für die gewerkschaftliche Betriebspolitik und die Auseinandersetzung mit den neuen unternehmerischen Machtsystemen formuliert Klaus Peters eine allgemeine Schlußfolgerung, die auch für unseren Zusammenhang wichtig ist: "Die Konstitution von Gegenmacht in den Unternehmen wird in Zukunft jedenfalls durch das Nadelöhr der Auseinandersetzung des einzelnen Arbeitnehmers mit der Ambivalenz seines eigenen Willens gehen müssen." Ohne eine solche Auseinandersetzung gebe es "keine Bestimmung der eigenen Interessen, ... auf die Gegenmacht sich stützen muß und von denen sie immer wieder neu hervorgebracht werden muß".
In bisher zwei aufeinander folgenden Jahren (1997 und 1998) organisierte der Betriebsrat bei IBM Düsseldorf gemeinsam mit der IG Metall Aktionsmonate im November. Der erste stand unter dem Motto: IBM = Ich besinne mich!
Bei dieser Aktion der Besinnung ging es darum, die Beschäftigten selbst zum Innehalten und Nachdenken über das "Arbeiten ohne Ende" zu bewegen.
Eine kurze Aktionsskizze:
Der Betriebsrat stellte Fallschilderungen des "Arbeitens ohne Ende" ins Intranet mit der Aufforderung zu einem Feed back. Die Resonanz war beachtlich.
Der Betriebsrat bot Info-Veranstaltungen zum Gesundheitsschutz, zu Stress und den rechtlichen Möglichkeiten an, um deren Durchführung sich Konflikte mit der Geschäftsleitung entwickelten.
Im nächsten Jahr (1998) war der Aktionsmonat in die Tarifauseinandersetzung um eine von IBM verlangte Verlängerung der Arbeitszeiten eingebettet. Die Aktion stand unter dem Kontra-Slogan "Meine Zeit ist mein Leben".
Was ist das Spezifische an den Aktionen, wo liegt die "subversive" Qualität der "Besinnungsaktion" und was ist ihr politischer Kern?
· Der Slogan "Meine Zeit ist mein Leben" wird trotz der Weltmarktzwänge, trotz der Einbindung in die betriebswirtschaftliche Logik formuliert und wirft die Frage nach dem Sinn und der Perspektive des Lebens auf. Die eigenen Ansprüche an die Arbeit stehen im Mittelpunkt (Selbständigkeit in der Arbeit, echte Souveränität bei der Einteilung der Arbeitszeit). Wenn sich die Haltung "Ich und die proklamierten Sachzwänge des Unternehmens sind zweierlei" stabilisiert, kann sich ein politisiertes Interessenbewußtsein entwickeln.
· Die betriebliche Sensibilisierung und Diskussion wurde bewußt in den laufenden Tarifkonflikt um eine Verlängerung der Arbeitszeit gestellt. Hierdurch wurde überhaupt erst Widerstandspotential entwickelt.
· Die Herstellung einer Betriebsöffentlichkeit und die Ermöglichung eines gemeinsamen Diskussionsprozesses stellt faktisch schon den ersten Schritt von Widerstand dar. Die Rolle von Betriebsrat und Gewerkschaft besteht in erster Linie darin, diesen gemeinsamen Verständigungsprozess zu organisieren und beratend tätig zu werden.
· Es ging vor allem darum, den einzelnen Beschäftigten zu erreichen, der die Geschäftsleitung mit der Frage konfrontiert: "Was haben Sie bei der Verlängerung der Arbeitszeit konkret mit mir vor?"
· Die Verantwortung des Unternehmers, der Geschäftsleitung für die Arbeits- und Zeitgestaltung wurde in den Mittelpunkt gestellt. Es wurde versucht, das Vorgehen und die Praktiken zu skandalisieren. Auch für die allgemein vorherrschende Verunsicherung in der Belegschaft ist der Unternehmer verantwortlich und nicht etwa die verunsicherten Beschäftigten selbst oder der Betriebsrat, der das Problem thematisiert.
Ein Einwand gegen die IBM-Aktionsform lautet, daß man die Beschäftigten auf ein Gebiet der allgemeinen Verunsicherung führe, statt klare Orientierungen und Handlungsoptionen zu geben. Auf einer Betriebsräteschulung im März 1999, auf der eine betriebspolitische Antwort auf die Abschaffung der "Stempeluhr" erarbeitet werden sollte, nahm der Referent Stephan Siemens dieses Argument auf: "Es kommt gegenwärtig nicht darauf an, Sicherheit zu gewinnen, damit man betriebspolitisch aktiv werden kann, weil die Unsicherheit lähmt. Sondern es kommt darauf an, die Unsicherheit selbst zum Ausgangspunkt der betriebspolitischen Initiativen zu machen und mit den Beschäftigten selbst die Informationen betriebspolitisch zu fordern, die zu einer sinnvollen Beratung und Entscheidung, wie mit der Frage der Arbeitszeit umzugehen ist, notwendig sind."
Es ist erforderlich, vorab auf die Widersprüche bei der Durchsetzung der neuen Managementformen im Umgang mit dem human capital hinzuweisen:
· Überall ist feststellbar: Es findet ein Raubbau am Arbeitskräftepotential statt. Die Kosten der Motivations-, Kreativitäts- und Leistungseinbußen oder sogar von psychischen und anderen Erkrankungen werden nicht berechnet. Überarbeitete und demotivierte Beschäftigte erbringen auf Dauer weniger Leistung. Bei einer alternden Belegschaft verschärft sich das Problem.
· Zu prüfen ist: Welche Konflikte und Reaktionen entwickeln sich, wenn sich die jeweilige Konjunktur und Marktsituation des Unternehmens oder der Branche krisenhaft verschärft? Handelt es sich bei derzeitigen IBM-Phänomen um einen Übergangstypus?
Generell ist eine kurzfristig angelegte betriebswirtschaftliche Rationalität vorherrschend (gesellschaftliche bzw. volkswirtschaftliche Aspekte bleiben ganz ausgespart).
Die Leitbilder und Zielsetzungen des modernen Arbeits- und Gesundheitsschutzes stehen konträr zur Ökonomisierungslogik der neuen Managementformen, die die Arbeitnehmer mit allen ihren Ressourcen ("passion for the business") bis in die letzten Poren der Freizeit funktionalisieren wollen. Zu solchen Leitbildern gehören z.B.:
Well-being (Wohlbefinden in der Arbeit) als akzeptiertes WHO-Leitbild
("Health is a state of complete physical, mental, and social well-being
and not merely the absence of disease or infirmity.") Wohlbefinden
in der Arbeit (im Sinne von well-being) ist sehr viel mehr als Wellness-Programme,
die überall modern geworden sind.
Menschengerechte Gestaltung der Arbeit und Präventionsauftrag durch die Umsetzung des EU-Arbeitsumweltrechts (Dies schließt die Prävention von Gesundheitsrisiken aus psychischen Belastungen und die Berücksichtigung des Gefährdungsfaktors Arbeitszeit z.B. mit ein.)
Zwar leiten sich daraus nicht unmittelbare Rechtsansprüche für die einzelnen Arbeitnehmer ab. Dennoch schafft die Umsetzung des EU-Arbeitsumweltrechts in Arbeitsschutzgesetz und Bildschirmarbeitsverordnung (sowie weitere Verordnungen) starke neue Mitbestimmungsrechte für die Betriebs- und Personalräte, die den rechtlichen und inhaltlichen Rahmen für einen neuen Umgang mit Gesundheit und Arbeit konstituieren.
Angesichts der betrieblichen Realitäten eines "Arbeitens ohne Ende" könnte aus den Zielen des modernen Arbeitsschutzes somit abgeleitet werden:
"Der Arbeit ein neues Maß geben!" Ein neues Maß, das sich an Wohlbefinden in der Arbeit und menschengerechter Gestaltung des gesamten Arbeitsprozesses orientiert.
Zweifellos ergeben sich hieraus – nicht nur bei IBM – zahlreiche praktische Fragen:
Wie können solche Leitbilder und gesetzlich fundierten Gestaltungsaufträge zur Sensibilisierung und Mobilisierung unter den geschilderten Bedingungen genutzt werden?
Unter welchen Voraussetzungen kann die gesetzlich verbindliche Gefährdungsermittlung, bei der die psychischen Belastungen entsprechend gewichtet werden, ein sinnvoller Beitrag sein, um die Beschäftigten selbst einzubeziehen und zu sensibilisieren?
Lassen sich beteiligungsorientierte Gesundheitsförderungsaktionen durchführen, die auf eigenverantwortliches Handeln der Beschäftigten orientieren?
Dringend erforderlich wäre m.E., den betrieblichen Aktions- und Erfahrungsschatz weit über IBM hinaus zu erweitern.