Arbeiten ohne Ende
Neue Managementtechniken bringen neue
Formen der Herrschaft über die abhängig Beschäftigten
Die Fläche ist nicht groß, gerade mal ein Achtel eines
Fußballfeldes. Lose Baumscheiben sind darauf verteilt. Damit man sie besser
sieht, sind sie rot markiert. Das Waldstück ist vermint. Die harmlosen
Baumscheiben sind Symbole für Minen. Einer hat die Augen verbunden. Vorsichtig
tastet er sich voran. Sobald er die Baumscheibe berührt, ist er verloren. Aber
immerhin, allein ist er nicht. Sein Führer gibt Kommandos, "vor, zurück, jetzt
links, nicht so schnell." Gehorcht er, bleibt er vielleicht heil. Doch manchmal
sind Verluste eben nicht zu vermeiden. Manchmal tritt einer daneben und geht
drauf. Zur Strafe bekommt der Führer die Augen verbunden - bis zum nächsten
Spiel. Blind läßt er sich jetzt von den anderen leiten.
Das letzte Spiel
ist der Höhepunkt. Um ein dutzend Bäume sind hüfthoch Stahlseile geschlungen.
Unter ihnen ein mörderischer Sumpf mit hungrigen Krokodilen. Die ganze Gruppe
soll übers Seil laufen, ohne sich den Bestien zum Fraß vorzuwerfen.
Ende. Das Spiel ist aus. Weil es wolkenbruchartig regnet. Weil sich
einer schon beim vorherigen Spiel den Knöchel gebrochen hat. Weil es
mittlerweile stockdunkel ist. Schade. Denn die Gruppe hat die Aufgabe geknackt:
Nur zusammen ist es zu schaffen.
Im Nachhinein sind die kleinen
Mißlichkeiten verschmerzt. Daß zum Beispiel keiner der Seminarteilnehmer - nach
dem theoretischen Teil mit den Themen "Wo stehen wir? Was wollen wir? Wie können
wir das erreichen?" - vorher vom Radausflug in den Wald wußte. Die Stimmung in
der Gruppe ist gut. Man kennt sich besser, die kleinen Macken wie die großen
Stärken, man hat Persönliches rausgelassen, Urteile revidiert, der Kollege ist
ja gar nicht so... Die Grenze zum Privaten zu überwinden, ist dem Unternehmen
wichtig. Schließlich ist die Umstrukturierung mit neuem Aufgabenzuschnitt bei
der Heinrich Bauer Anzeigen & Marketing KG kaum ein Jahr her, neue
Schnittstellen sind entstanden, neue Leute eingestellt, andere entlassen, höhere
Umsatzzahlen müssen erreicht werden. Das braucht einen anderen Einsatz, nicht
nur fachliches Wissen, Einsatz und Engagement. Sondern wie auf dem Minenfeld:
Der Einzelne vertraut dem Team. Das Team vertraut dem Einzelnen. Der ganze
Mensch mit seinen Fähigkeiten, mit seiner Kreativität und Selb-ständigkeit ist
gefragt. Von der Sekretärin bis zum Chef, alle haben ein Ziel: die Zielvorgabe
des Unternehmens zu erfüllen.
Mit dem alten Command and Control (der Chef
befiehlt und kontrolliert) ist das nicht zu realisieren. Neue Managementformen
ersetzen bisherige Systeme. Der Unternehmer tritt zur Seite, ohne seine
Machtstellung zu verlieren, und läßt seine Mitarbeiter agieren: selbstständig,
eigenverantwortlich, autonom. Der Unternehmer gibt lediglich Rahmenbedingungen
vor, innerhalb derer die Beschäftigten selbst dafür sorgen müssen, daß ihre
Einheiten und damit ihre Arbeitsplätze auf dem Markt überleben. "Tut, was ihr
wollt (in eurer Einheit), aber seid profitabel", heißt das Motto.
Unternehmerisch denken - was diese Maxime bedeutet, spürt die Lektorin
Monika Herr beinahe täglich. Der kleine Berliner Verlag, in dem sie arbeitet,
gehört inzwischen einem US-amerikanischen Konzern. In die Nähe von 20 Prozent
Rendite wie die erfolgreichsten Verlage im Fachbuchbereich zu gelangen, ist das
Ziel. "Völlig unrealistisch", sagt die Lektorin, zumal "uns klar ist, daß jede
Vorgabe höher gesetzt wird, kaum daß wir sie erreichen". Mittlerweile macht sie,
was früher ihr Chef erledigte, die Budgetplanung, sprich: wie hoch ist der
Jahresumsatz, wie viele Bücher müssen verlegt werden. Der Selbständigkeit werden
jedoch dort Grenzen gesetzt, wo die Rendite nicht stimmt. Der angepeilte Umsatz
sei zu niedrig, hieß es. Monika Herr setzt den Umsatz höher an und damit ihr
eigenes Arbeitspensum und das der Kollegen: Die Anzahl der Manuskripte, die im
Lektorat bearbeitet werden müssen, wird damit von Jahr zu Jahr größer - bei
gleichbleibendem Personal.
Merkmale solcher Arbeitsbedingungen sind
verbreiteter als angenommen, sagt Wilfried Glißmann, Betriebsratsvorsitzender
bei IBM Düsseldorf. Ob in Verlagen und Redaktionen, Agenturen und
Multimediafirmen, in der Datenverarbeitungs- und Informationstechnologiebranche.
Glißmann konzentriert sich seit mehreren Jahren auf das Arbeitszeitproblem und
stellt in Aktionen, Veranstaltungen und Diskussionen der uneingeschränkten
Verfügbarkeit die Forderung "Meine Zeit ist mein Leben" entgegen.
Es ist
paradox: Der Druck nimmt zu, es wird aber kein Zwang ausgeübt. In manchen
Betrieben wird sogar die Stechuhr abgeschafft und stattdessen das eingeführt,
was so euphemistisch Vertrauensarbeitszeit heißt. Jeder darf so viel oder so
wenig arbeiten, wie er will. Er darf sich zum Kindergeburtstag abseilen und
morgens Tennis spielen, lang schlafen oder bummeln. Hauptsache, das Ergebnis
stimmt.
Nutzt jemand die Freiheiten? 846 Angestellte bei Siemens in
Erlangen haben es ausprobiert. 64 Prozent arbeiteten länger, 47 Prozent
überblickten ihre Arbeitzeit weniger und 40 Prozent sprachen von
Leistungsverdichtung. Konkret heißt das: Abends brennt noch Licht in den Büros,
der Samstag wird zum Regelarbeitstag, das Wochenende wird mit dem Laptop
verbracht, und im Urlaubskoffer liegen geschäftliche Papiere. Keiner zwingt die
Beschäftigten, das zu tun. Sie ignorieren die Zeit und arbeiten weiter - ohne
Ende. Der Trick ist die "indirekte Steuerung", sagt Glißmann. Da wirkt "der
Druck des Marktes", da muß das Projekt zu Ende gebracht werden, da wartet der
Kunde, der nicht im Stich gelassen werden kann, gerade jetzt, wo man selbst
dafür zuständig ist.
Und die Beschäftigten tun, was sie selbst wollen
und damit genau das, was der Unternehmer will. "Die Ziele der
Unternehmensführung", sagt der Philosoph Klaus Peters, der Glißmann
wissenschaftlich berät, "setzen sich durch in Gestalt des eigenen Willens des
einzelnen Arbeitnehmers."
Das ist nicht immer lästig. Nicht wenn man
sein Hobby zum Beruf gemacht hat. Die Lektorin eines Kölner Verlages liest
Manu-skripte "immer außerhalb der Arbeitzeit", drei bis vier Stück wöchentlich.
"Das ist nicht unangenehm", sagt sie. Nein, sie identifiziert sich mit ihrer
Arbeit, ihr Prestige wächst mit dem Erfolg des Autors, den sie entdeckt hat.
Aber sie kennt auch "das permanent schlechte Gewissen, wenn ich zum Beispiel am
Wochenende nicht gearbeitet habe."
Arbeitszufriedenheit? Die ist
seltener geworden, und manchmal - wenn der Stapel der Manuskripte zu hoch wird -
werden die Werke "in Panikaktionen" ungelesen zurückgeschickt. Manchmal
beschleicht auch sie die böse Ahnung, die Glißmann als Teil der
Managementtechnik beschreibt, sie könne die Arbeit durchaus schaffen, wenn sie
nur effektiver arbeiten würde. Ein Trugschluß. Überstunden ohne Ende, Arbeit,
die alles diktiert, systematisch Aufgaben zu bekommen, die nicht lösbar sind,
die Angst, dem Druck nicht gewachsen zu sein, während andere zurecht zu kommen
scheinen, Glißmann bezeichnet diese Managementtechniken über die
"unselbständigen Selbständigen" als "neue Form der Herrschaft". Die
Selbständigkeit nimmt zu (jetzt darf jemand selbst entscheiden), gleichzeitig
wird sie jedoch instrumentalisiert.
Die Gefühle, die dabei entstehen,
sind ambivalent: von "ganz toll" bis "ganz schlimm". Unternehmen verzichten nur
deshalb auf eine Zeitkontrolle, weil sie ihren Methoden der indirekten Steuerung
vertrauen. Und selbst dort, wo die Stechuhr noch existiert, arbeiten die
Beschäftigten "wie von selbst" länger, als sie eigentlich müssen, und finden
Mittel und Wege, das Zeiterfassungsgerät zu überlisten: "Sie stechen sich selbst
aus und arbeiten weiter", sagt Martin Dieckmann, Betriebsrat bei Gruner + Jahr.
Damit vermeiden sie Debatten um Überstunden durch Vorgesetzte und Betriebsräte,
deren Mitbestimmung nicht selten als störend empfunden wird. "Das bekommt eine
so eigene Dynamik, daß man seine eigenen Interessen aus den Augen verliert",
bestätigt Glißmann.
Und der Klaus Peters ergänzt: "Eine vertragliche
Arbeitszeitverkürzung, die von den Arbeitnehmern selbst unterlaufen wird, hängt
politisch in der Luft und trägt den Keim einer gefährlichen Entfremdung in sich,
die der Entwicklung gewerkschaftlicher Gegenmacht an den Lebensnerv geht."
Michaela Böhm