"Liberalisierung" der Ladenöffnungszeiten

Auf dem Weg zur 7-Tage-Woche?

 

Die Eltern oder Großeltern waren scheinbar "blöde". Sie dachten noch, mit der Fünf-Tage-Woche hätten sie sich nicht bloß mehr Verfügungsgewalt über ihre Zeit, sondern auch mehr Freiheit erkämpft. Würden sie noch leben, dann müßten sie sich heute vorhalten lassen, daß der Gewinn an Freizeit am Wochenende eigentlich eine "totale" Einschränkung der Freiheit bedeute. Denn wirklich "frei" ist der Mensch angebliche nur dann, wenn er seine Wünsche und Sehnsüchte an jedem Wochentag - und möglichst rund um die Uhr - bei Kaufhof, Karstadt oder Wertkauf ausleben kann.

Weil das so zu sein scheint und offenbar immer mehr Menschen immer mehr Freizeit bei einem ausgedehnten Einkaufsbummel verbringen, sollen die Ladenöffnungszeiten generell auch auf den Sonntag und möglichst auf 24 Stunden pro Tag ausgedehnt werden. Einmal mehr wird das Grundgesetz durch eine entsprechende Auslegung zurechtgebogen. Im Artikel 140 heißt es mit Rückgriff auf die Weimarer Verfassung: "Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt." Nicht nur Christen werden in dieser Bestimmung den Erhalt des wöchentlichen Kirchgangs, sondern auch einen echten Schutz der Arbeitskraft durch Erholung erkennen.

Doch ein "Anspruch des Einzelnen auf Einhaltung der Sonntagsruhe soll daraus allerdings nicht folgen", so meinte ein Ratgeber in der Frankfurter Allgemeinen vom 5. August 1999. Ein Beispiel sei der "Wegfall des Buß- und Bettages zur Finanzierung der Pflegeversicherung". Allerdings dürfe "die Bestimmung des Grundgesetzes aber auch nicht gänzlich ausgehöhlt werden". Denn das Bundesverfassungsgericht habe hierzu festgestellt, daß "der Gesetzgeber nicht schlechthin alle Feiertage" abschaffen dürfe. In unternehmerischem Klartext: Wenn der erste Weihnachtstag auch künftig arbeitsfrei bleibt, dann können alle anderen Sonn- und Feiertage zu Normalarbeitstagen erklärt werden.

Das Grundgesetz spricht in seinem Artikel 140 allerdings nicht nur vom Einzelhandel. Das heißt, was in diesem Bereich heute mit der "Liberalisierung" der Ladenöffnungszeiten durchgezogen werden soll, das wird in absehbarer Zeit auch andere Branchen betreffen. Der Hauptverband des Deutschen Einzelhandels wies bereits darauf hin, verkaufsoffene Sonntage seien nur sinnvoll, "wenn auch der öffentliche Personennahverkehr am Sonntag fahre, der Großhandel arbeite, Markthallen geöffnet hätten und die Zulieferung einschließlich des damit verbundenen Lastwagenverkehrs gegeben sei" (FAZ 5.8.99).

Die "Freiheit" des ungezügelten Einkaufens wird über kurz oder lang also nicht bloß die eigene Verfügungsgewalt der 2,8 Millionen Beschäftigten im Einzelhandel über ihre Freizeit sehr stark einschränken. Sie soll auch den Grund dafür liefern, die Arbeitszeit aller anderen Wirtschaftsbereiche zu "flexibilisieren". Bei gleichbleibender Kaufkraft werden davon nicht die kleinen und mittleren Einzelhändler, sondern nur die großen Warenhäuser und Einkaufszentren profitieren. Darüber hinaus können sich die Unternehmer anderer Branchen die Hände reiben. Denn die für sie lästigen Sonn-, Feiertags- und Nachtzuschläge sowie Antrittsgelder fallen dann weg.

So "blöde" können die Eltern und Großeltern gar nicht gewesen sein, als sie sich gegen eine solche "Freiheit" und die uneingeschränkte Verfügbarkeit der Arbeitnehmer wehrten. Deshalb muß dem Kampf der DGB-Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV) gegen die Sonntagsöffnungen die Solidarität aller abhängig Beschäftigten gehören.

IMPULS - Information für Aktive Nr. 57 vom 6. August 1999

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