letzte Änderung am 2.Januar 2004

LabourNet Germany ARCHIV! Aktuelle Meldungen im neuen LabourNet Germany

Home -> Diskussion -> Arbeitsalltag -> Aus-Um-Weiter-BILDUNG -> (Aus)Bildung -> milhoffer Suchen

Prof. Dr. Petra Milhoffer Universität Bremen / (GEW-Kundgebung) am 10.12.03 am Bahnhofsvorplatz in Bremen

"Alles weist darauf hin, dass die Kernprobleme unseres Schulwesens "in seiner Struktur" liegen"

Ich spreche zu Ihnen als Erziehungswissenschaftlerin der Universität, die seit 30 Jahren im Interesse einer soliden Lehramtsausbildung mit und ohne ihre Studierenden ins Ausland nach Holland, Frankreich, Dänemark und Kanada, fährt, um zu erforschen und zu verdeutlichen, wann und warum Schulen dort erfolgreich sind.

Ich spreche als Mitbegründerin einer Freien Vor- und Grundschule, der "Kinderschule Bremen", die über 10 Jahre um ihre Anerkennung kämpfen musste, die vor einiger Zeit jedoch von Senator Lemke für ihre vorbildliche Arbeitsweise öffentlich gelobt wurde. Ich spreche zu Ihnen als langjähriges Vorstandsmitglieds des Grundschulverbandes. Der Verband setzt sich seit 1969 bundesweit für pädagogische Reformen in der deutschen Grundschule ein Für eine Integration von Vor- und Grundschulbereich, für die Integration von Kindern mit besonderem Förderbedarf ­ dazu gehören übrigens Lernbehinderte wie Hochbegabte... ­und für ein längeres gemeinsames Lernen ohne Selektion, d.h. mindestens bis zur 6. Klasse.

Integrative Schulsysteme, d. h. für alle geltende Gesamtschulen vom Kindergarten bis mindestens zur Klasse 6 haben sich ja sowohl, was die Breitenförderung, wie was die Förderung von Spitzenleistungen angeht, dem mehrgliedrigen Schulsystem (wie in Deutschland) als eindeutig überlegen überwiesen. Dies hat die Pisa-Studie bestätigt. Alles weist darauf hin, dass ( wie der PISA-Koordinator Andreas Schleicher betont), die Kernprobleme unseres Schulwesens "in seiner Struktur" liegen.

Warum wird diesen Befunden der Forschung so wenig Gehör geschenkt? Ernst Rösner vom Dortmunder Institut für Schulforschung fragte sich am 8.12.03 treffend in der Frankfurter Rundschau: "Sind Erziehungswissenschaftlicher überhaupt noch mehr als Unterhaltungskünstler?" Dieser Frage kann ich mich nur anschließen. Manchmal kommen sich die Experten in Sachen Bildung wie Pausenclowns vor. Warum meinen die politisch Verantwortlichen, die Tragweite der PISA-Befunde nicht ernst neh-men zu müssen? Ist der so zeitaufwendig und engagiert mit den PISA-Ergebnissen befasste "Runde Tisch Bildung" in Bremen umsonst zusammengetreten? Selbst einschlägige Unternehmensberater wie Jürgen Kluge von McKinsey stellt für Deutschland die "Bildungsgerechtigkeit als uneingelöstes Versprechen" (Kluge, Schluss mit der Bildungsmisere, 2003) heraus. In keinem anderen Industriestaat sei die Schulbildung derart abhängig vom sozialen und finanziellen Hintergrund der Eltern. Benachteiligt seien vor allem Kinder mit Sprachdefiziten aus ärmeren deutschen Familien und aus Migrantenfamilien.

Der Weg aus der Krise setze eine Änderung dieser Auslesefunktion der Schule voraus und sei nur mit einer grundlegenden Strukturveränderung (also Aufgabe der Mehrgliedrigkeit) zu erreichen. In den Bremer Grundschulen wurde in den letzten Jahrzehnten eine Menge umgekrempelt: Ich nenne hier mal nur: die Organisation von Vollen Halbtagsschulen und Betreuungsangeboten vor und nach der Schulzeit, die Ersetzung von Ziffernnoten durch Lernentwicklungsberichte, das fächerübergreifende Arbeiten im Team, Kooperation mit dem Kindergarten und der angrenzenden Schulstufe, handlungsorientierte, offene Unterrichtsformen, die Intensivierung der Elternberatung, der gleitende Schulanfang, die Abschaffung von Hausaufgaben in den ersten Klassen, jahrgangsübergreifende Lerngruppen, eine gezieltere Förderung von Mädchen und Jungen und die Integration behinderter Kinder, usw. Viel davon wurde in dem modernisierten Schulgesetz von 1995 festgeschrieben und erleichterte Lehrkräften und Schulleitungen, trotz der bekannten finanziellen Kürzungen, ihre Schulen zu einem kommunikativen, freundlichen ermutigenden Lebensort für Kinder zu machen und ihren Unterricht im Interesse einer angemessenen Förderung des einzelnen Kindes zu gestalten. Dass das keine einfache Aufgabe ist in den sprachlich und sozial so heterogenen Grundschulklassen der Großstadt Bremen, wissen alle, die sich in Grundschulen engagieren.

Multikulturelle Vielfalt stellt eine große Herausforderung dar, kann jedoch gleichermaßen eine große Bereicherung für die Persönlichkeitsentwicklung des einzelnen Kindes zu sein, wenn Zeit und Raum dafür gegeben ist, um den unterschiedlichen Ausgangsvoraussetzungen gerecht zu werden. Diese Zeit und diesen Raum haben sich viele Kollegien unter großem persönlichen Einsatz und mit viel Mehrarbeit freigeschaufelt und gesichert. Das Resultat waren und sind Kinder, die gerne zur Grundschule gehen, deren Neugier und Lernmut erhalten werden konnte, die gelernt haben, sich gegen-seitig zu helfen und die die Schule als eine motivierende Lernumgebung erleben können. Daher auch die vergleichsweise besseren Leistungsergebnisse bei IGLU. Viele dieser Errungenschaften müssen mit dem neuen Schulgesetz über Bord geworfen werden, wenn es verabschiedet würde. Der Grundschulverband empfiehlt dringend, die folgenden Problemlagen des Entwurfs bei den endgültigen Beratungen über das Schulgesetz zu berücksichtigen:

1. Veränderungen am Schulanfang

Die Abschaffung der Vorklasse im Interesse der Integration aller Schulanfängerkinder ist nur sinnvoll, wenn ausreichend sozialpädagogisches Personal erhalten bleibt. Wenn - wie jetzt geplant - diese Ressource eingespart wird, entsteht eine nicht absehbare Beeinträchtigung für Kinder, die eine längere Lernzeit brauchen, um tragfähige Grundlagen zu entwickeln. Die soziale Kopplung von Bildungschancen wird mit diesem Schritt bereits am Beginn der Grundschule verschärft.

2. Sprachförderung für Migrantenkinder

Sehr zu begrüßen ist der Plan, schon im Vorschulalter die Sprachkompetenz von Kindern mit Migrationshintergrund zu erhöhen. Aber: die Erziehung und Bildung im Vorschulbereich muss mindestens in dem Jahr vor der Einschulung gebührenfrei sein. Die Ergebnisse der Sprachstandserhebungen müssen den Schulen zur Verfügung gestellt werden. (Dies geschieht bisher aus Datenschutzgründen nicht.) Erzieherinnen müssen für die Sprachförderung in der Aus- und Fortbildung angemessen qualifiziert werden. In der Grundschule darf es nicht sein, dass Kinder für die Sprachförderung an einen anderen Lernort wechseln müssen. Auch viele deutsche Kinder in benachteiligten Stadtteilen weisen Sprachdefizite auf. Kinder lernen unter professioneller Betreuung am besten miteinander und voneinander. Der Grundschulverband lehnt Sprachsonderkurse für Migrantenkinder in der bestehenden Form ab.

3. Ausweitung der Karenzzeit und Lernzeitverknappung

"Die Ausweitung der Karenzzeit auf das gesamte 5. Lebensjahr steht im Widerspruch zu den Bemühungen um die Verzahnung von Elementar- und Primarbereich und zu dem Ansatz, Kinder in ihrer Unterschiedlichkeit in der jeweiligen Institution zu fordern und zu fördern. Sofern die Zusammenarbeit zwischen dem Elementar- und Primarbereich kontinuierlicher gestaltet wird und übergreifende Bildungsziele Bedeutung erhalten, ist es überflüssig, Kinder vorzeitig oder verspätet in die Schule zu geben (s. Arbeitsgruppe "Runder Tisch" Stärkung des Elementar- und Primarbereichs)." (Stellungnahme Grundschulverband, November 2003) Nach dem Schulgesetzentwurf ist eine längere Lernzeit am Schulanfang nicht mehr möglich, denn es heißt: "Erreicht ein Kind nach vier Jahren die Mindeststandards nicht, wird es nicht versetzt” (Eckwertepapier). Die Vorklasse soll im Interesse einer Verkürzung der Gesamtschulzeit abgeschafft und Kinder jünger eingeschult werden. Das ist im Prinzip keine schlechte Idee, nur muss der Zeitraum des Schulanfangs dann mit besseren Ressourcen ausgestattet werden, damit die Kinder mehr individuelle Zeit zum Lernen haben. Sitzenbleiben in der vierten Klasse ist keine Lösung!

4. Frequenzfestlegung für die Grundschule

Mit der Verkürzung der Verweildauer werden erhebliche Einsparungen erhofft. Diese dürfen aber nicht die Bildungschancen von Kindern beschneiden. Besonders Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund und aus sozial benachteiligten Familien werden auf diese Weise noch früher als bisher ausgegrenzt. Eine kürzere Verweildauer in der Grundschule ist nur bei erheblich kleineren Lerngruppen vertretbar. Der Grundschulverband fordert daher, vor allem für Schulen in sozialen Brennpunkten die Frequenzen für Grundschulklassen deutlich zu senken.

5. Ergänzende Ziffernnoten ab Klasse 3

Lernentwicklungsberichte durch Ziffernnoten zu ergänzen bedeutet faktisch, die Rückmeldung über den individuellen Lernfortschritt eines Kindes mit dem Leistungsvergleich mit den anderen Kindern aus seiner Klasse zu koppeln. Das steht im Widerspruch zum pädagogischen Förderauftrag und ist ungerecht. Viele GrundschullehrerInnen sehen daher dieser Aufgabe mit Horror entgegen.

Die Bewertungsform durch Noten
- hat, wie die vergleichende Zensurenforschung zeigt, keinerlei objektive Aussagekraft
- sie bescheinigt leistungsstarken Kindern ein "gut” oder "sehr gut”, auch wenn ihr Lernfortschritt nur minimal war,
- sie bescheinigt leistungsschwächeren Kindern ein "mangelhaft” oder "ungenügend”, auch wenn sie ­ gemessen an ihren Lernvoraussetzungen ­ große Fortschritte gemacht haben.
- Dies trägt zu einer nachhaltigen "Demütigung" der schwächeren Kinder bei, es entmutigt und ist für das soziale Klima einer Schulklasse äußerst abträglich. Viele Länder, die bei PISA gut abgeschnitten haben, kommen ohne Ziffernnoten bis Klasse 6 aus, die privaten Waldorfschulen in Deutschland ebenfalls. Der Grundschulverband lehnt zusätzliche Noten ab Klasse 3 ab, selbst wenn sie nur "ergänzend” zu den Lernentwicklungsberichten erteilt werden sollen.

6. Entscheidung der Schullaufbahn bereits nach Klasse 4

Die Abschaffung der Orientierungsstufe und Einrichtung von Gymnasien und Sekundarschulen ab Klasse 5 erfordert die Aufteilung und Auslese der Schülerinnen und Schüler bereits nach der Grundschulzeit. Bereits nach dreieinhalb Jahren sollen nun Grundschulen eine Empfehlung für oder gegen das Gymnasium aussprechen. Nach allen Erkenntnissen über das individuelle Leistungstempo von Kindern wird damit Grundschullehrerinnen eine unerträgliche Verantwortung über den späteren Lebensweg ihrer Schulkinder aufgebürdet. In (fast) allen Ländern mit entwickelten Bildungssystemen lernen inzwischen die Kinder mindestens sechs Schuljahre gemeinsam in einer Schulform. Der Grundschulverband fordert, mit diesen Ländern gleichzuziehen und eine gemeinsame Lernzeit für Grundschulkinder mindestens bis zur Klasse 6 einzuführen.

Ich komme zum Schluss:
Die vierjährige Grundschule und das viergliedrige Schulsystem in Deutschland (die Sonderschulen werden mit dem Begriff "dreigliedrig" leider unterschlagen) sind Modelle der Vergangenheit! Sie stehen in der Tradition ständestaatlichen Denkens des vorvorigen Jahrhunderts.

Wenn das Schulgesetz in Bremen in seinem jetzigen Entwurf zum Tragen kommen sollte, wird Bremens Bildungslandschaft viele seiner demokratischen Errungenschaften einbüßen. Ich erinnere an ein in den siebziger Jahren richtungsweisendes Schulgesetz, ein gleichermaßen modernes Lehrerausbildungsgesetz und eine sehr moderne Lehrerbildungsuniversität als Antwort auf die in Deutschland damals attestierte Bildungskatastrophe. Ich erinnere an die geplante Horizontalisierung des Schulwesens, die Gleichwertigkeit der Schul-stufen, Qualifizierung von Grundschullehrkräften an Universitäten, Verzahnung von akademischer und beruflicher Bildung in den Sek II-Zentren, Projektstudium Interdisziplinarität, Praxisorientierung und Gesellschaftsbezug in der universitären Forschung und Lehre und die Integration der PH in die Universität. Nicht diese demokratischen Errungenschaften sind der Grund für das schlechte Abschneiden Bremens bei PISA, sondern die Tatsache, dass sie nicht konsequent genug umgesetzt wurden und das Bremen in den achtziger Jahren mehr eingespart als investiert hat. ( z.B. wurde ein vorbildliches Netz von Schul- und Jugendbibliotheken ausgedörrt und die Schulbibliothekarische Arbeitsstelle wurde abgeschafft, das sind Einrichtungen, die in PISA-Erfolgsländern zum Standard gehören.

Und Gesamtschulen verdienen ihren Namen nicht, wenn sie mit einem viergliedrigen Auslese- und Sortiersystem konkurrieren müssen. Hat man das bildungspolitische Tafelsilber in Bremen (modernes Schulgesetz, modernes Lehrerausbildungsgesetz, moderne Lehrerbildungsuniversität) vergessen? Mir scheint, es droht ihm jetzt nicht der Verkauf, sondern die direkte Entsorgung auf der Müllhalde.

Nicht anders ist das geplante Schulgesetz zu verstehen, welches unter dem Strich den Wohlhabenden ihre Eliteausbildung sichern will und für die anderen ein schwer durchschaubares, eher nach unten als nach oben durchlässiges Stückwerk von Bildungsangeboten vorsieht.

Wenn dieses neue Schulgesetz Wirklichkeit wird, dann
- produziert das Demotivierung, Missgunst unter unseren Kindern und Jugendlichen, weil sie nach Leistungsfähigkeit und Intelligenz einsortiert werden, bevor sie diese überhaupt entwickeln konnten, das wird die sozialen Spannungen zwischen ausländischen und deutschen Kindern/Jugendlichen weiter erhöhen;
- es produziert Unsicherheit und schlechte Stimmung unter Eltern, die die Chancen des Systems für ihr Kind nicht durchschauen, sich nicht trauen, ihr Kind beim Gymnasium anzumelden, die bei überfüllten Gesamtschulen abgewiesen werden, die keine Zeit haben, sich um die Lernerfolge der Kinder zu kümmern und die den teuren Nachhilfeunterricht nicht bezahlen können;
- es produziert schlechte Stimmung unter den Kollegien, die die sogenannten Leistungsversager der sogenannten besseren Schulen (= "Turbogymnasien") aufzufangen haben und durch die unterschiedliche Bewertung der Schulformen in der Öffentlichkeit gegeneinander ausgespielt werden.

Ich frage mich, ob das alles wirklich gewollt sein kann, ich frage mich ob es korrekt ist, die Bildungschancen unserer Kinder solchen parteipolitischen Proporzerwägungen zu opfern. Der Grundschulverband hält dem entgegen: Bildung darf keine Parteiangelegenheit sein, Bildungsgerechtigkeit ist von überparteilichem Belang, wenn wir unser Grundgesetz ernstnehmen. Erfolgreiche Bildungspolitik (in Schweden, Finnland und Kanada) ist diesem Prinzip der Überparteilichkeit verpflichtet. Deutschland ist derzeit im Begriff, hinter die nach wie vor gültigen Erkenntnisse des Deutschen Bildungsrates und die Empfehlungen der BLK der siebziger Jahre zurückzufallen. Und Bremen scheint zu glauben, dafür gemeinsam mit Niedersachsen die Vorhut spielen zu müssen. Das sollten wir gemeinsam verhindern.


Anmerkung: Titel von der Redaktion eingefügt

LabourNet Germany Top ^