letzte Änderung am 14. Nov. 2002

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Schule der Globalisierung

Jürgen Klausenitzer zur Restrukturierung des deutschen Bildungswesens, Teil II

Nachdem Jürgen Klausenitzer in Teil I zunächst die Phasen der Restrukturierung des Bildungswesens als Moment einer in Abhängigkeit von globalen politischen Rahmenvorgaben erfolgenden Restrukturierung der gesamten öffentlichen Verwaltung dargestellt hat, schildert er hier die Folgen der Rationalisierung und fragt, welche Konsequenzen dies für Bildungsprozesse hat und was eine »effektive Schule« denn sein könnte.

 

4. Folgen der Rationalisierung

Im Hinblick auf die Folgen der Ökonomisierung der Binnenstruktur lassen sich im Wesentlichen drei Aspekte unterscheiden:

1. Polarisierung innerhalb der Kollegien und zwischen Schulen
2. Veränderungen in Unterricht und Curriculum

Neben der Einführung von Marktkräften sind zentral definierte Curricula und extern, meistens von privaten Consultingfirmen durchgeführte Evaluationen Schlüsselelemente der Reform. Mit ihrer Hilfe soll die angeblich vernachlässigte Rechenschaftspflicht von Lehrern sichergestellt werden. Zugleich sollen standardisierte Leistungsanforderungen die Steuerungsfähigkeit des Staates sicherstellen, ohne dass dieser sich auf Konflikte vor Ort einlassen muss.

In vielen angelsächsischen Ländern ist die Entwicklung einer ausgeprägten Prüfungskultur zu beobachten[1]; an die Stelle der Ausweitung von Möglichkeiten des Lernens tritt zunehmend die Orientierung an der Überprüfbarkeit von Leistungen. Statt des Bildungs- und Erziehungsprozesses tritt die Bedeutung messbarer Ergebnisse in den Vordergrund.. Dies hat insofern gravierende Folgen für den Lehr- und Lernprozess, als es das Unterrichtsgeschehen auf die Prüfungen hin orientiert (»teaching to the test«) und das Curriculum zu konsumier- und testbaren Päckchen verschnürt. Beobachter sprechen von der Wiederbelebung eines pädagogischen Traditionalismus und eines reduzierten Professionalismus bei den Lehrern, da offene, erkundende und integrative Formen des Unterrichts durch stärker strukturierte und ergebnisorientierte verdrängt werden.

3. Veränderungen in der Lehrerarbeit

Die Reformen der neuen Bildungspolitik erheben u.a. auch den Anspruch, die Lehrerarbeit qualitativ zu verbessern, da sie sich nun – befreit von bürokratischer und politischer Gängelung – an den mit größerer Autonomie versehenen Schulen freier entfalten kann. In der angelsächsischen Diskussion ist daher die Rede von »empowering the teachers«.. In der Praxis aber erweisen sich die Lehrer eher als Objekt von Politik und Management, und die Partizipationsangebote sind eher als symbolische zu begreifen. Der Arbeitsalltag der LehrerInnen ist in Folge von neu eingeführten Techniken der Rechenschaftspflicht und Kontrolle durch zunehmende Verdichtung, Extensivierung und Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse (minderwertige Beschäftigungsverhältnisse wie Zwangs-Teilzeitarbeit, befristete Arbeitsverträge für Hilfskräfte, Studenten und Hausfrauen, out-sourcing z.B. an Sport-Vereine, private Träger für Musik-Unterricht etc.) gekennzeichnet. Für eine begrenzte Anzahl von LehrerInnen werden dagegen besser bezahlte Positionen als »master-teachers« eingeführt. Insgesamt wird eine Bezahlung aller LehrerInnen entsprechend bestimmter Leistungskriterien angestrebt (wie z.B. Unterrichtsbeobachtung, aber auch Schülerleistungen).

Die Gewerkschaften werden in dieser Situation, in der die einzelnen Schulen um Quoten und Rangplätze kämpfen, als kollektive Interessenvertretung geschwächt – sicher eine der unausgesprochenen Zielsetzungen der Gegenreform.

Mit der Durchsetzung dieses veränderten Modells öffentlicher Bildung wird absehbar, dass die in den letzten drei Jahrzehnten gewachsene Bedeutung der Rolle der LehrerInnen als Organisatoren von Bildungsprozessen zunehmend abgelöst wird von der als »Experten« für standardisierte quantitative Verfahren der Leistungsmessung, Evaluation und computergestützte Testverfahren.

Zwischen-Fazit zum Zusammenhang von Teil-Autonomie, Effektivität und Effizienz

Die BefürworterInnen dieses veränderten Modells öffentlicher Bildung stellen nun eine positive Beziehung her zwischen diesen neuen institutionellen Merkmalen und einer besonders effizienten und effektiven Arbeitsweise. Aber weder im Hinblick auf Schülerleistungen noch auf die neu eingeführten institutionellen Veränderungen gibt es, so die meisten Untersuchungen, Belege für besondere Effizienz und Effektivität.[2] Merkmale, die in der Schuleffektivitätsforschung als Kriterien für die Bestimmung »guter Schulen« gelten, sind in teil-autonomen Schulen nicht häufiger zu finden als in ‘normalen’.

Die Frage, ob autonome Schulen finanziell effizienter arbeiten als herkömmliche, ist in der angelsächsischen Diskussion sehr umstritten. Deutlich ist aber, dass in die Kosten-Effizienz-Berechnungen weder die zusätzlichen Kosten für das Marketing der Einzelschulen noch die erheblichen Kosten für die umfangreichen zentralstaatlich vorgegebenen Prüfungen und Evaluationen, noch die für den umfangreicher werdenden Transport der SchülerInnen einbezogen werden.[3]

Damit stellt sich natürlich die Frage, warum eine solch aufwendige und langwierige Umstellung auf eine Ergebnis-orientierte Steuerung von Bildungssystemen organisiert wird. In diesem Rahmen lassen sich nur kurze, thesenartige Antworten skizzieren:

 

5. Elemente des globalen Paradigmenwechsels

Bevor ich zum Schluss komme, möchte ich kurz auf jene Annahmen eingehen, die als wesentliche Begründungen dienen für die betriebswirtschaftliche Ausrichtung von Bildungssystemen (und anderen öffentlichen Dienstleistungen):

1. Die Annahme, dass es einen Idealtypus von KundInnen oder KonsumentInnen gäbe, der sich in freier Wahl ökonomisch-rational für und gegen bestimmte Bildungsinvestitionen entscheidet, lässt sich nicht halten. Studien über Bildungsverhalten in drei Londoner Schulbezirken nach den Thatcher-Reformen 1988 haben deutlich gemacht, dass der Prozess der Auswahl einer Schule geprägt ist von den sozialen, kulturellen und ökonomischen Lebensbedingungen der Eltern. Für die Schulwahl ist dabei von besonderer Bedeutung, welche Vorstellungen Eltern von einer guten Schule haben, wie sie Mobilität bewerten und ob sie gegebenenfalls für den Besuch entfernter liegender Schulen über die entsprechenden notwendigen finanziellen Mittel verfügen, in welchem Maße der Schulbesuch in die innerfamiliäre Arbeitsteilung eingepasst werden kann, welchen biographischen Planungshorizont die Eltern mit dem Schulbesuch ihrer Kinder verbinden, und vor allem, über welche kulturellen Kapazitäten, die bei der Schulwahl notwendig sind, sie verfügen. Bereits vorhandene Ungleichheiten der Lebenslagen werden dadurch reproduziert und verstärkt. Nicht dass die Reproduktion ungleicher sozialer Lebenschancen durch das Schulsystem neu wäre: Aber statt Chancengleichheit zu fördern, verschärft die Organisation von staatlich regulierten Quasi-Bildungsmärkten die soziale Selektion durch die Schule und damit die gesellschaftliche Ungleichheit.

2. Die Vorstellung, Wettbewerb und lokales Management sei ein universelles Mittel zur Steigerung von Leistung, mag für die industrielle Produktion oder einzelne Lebensbereiche gelten – sie stimmt nicht für Institutionen, die Bildungsprozesse organisieren. Die internen Prozesse der Schule basieren zu einem großen Teil auf interpersonellen Beziehungen, in denen u.a. die Verfügbarkeit von Zeit und die Berücksichtigung sozialer und kultureller Orientierungen der Lernenden eine wesentliche Voraussetzung für das Gelingen von Lernprozessen darstellt. Die Organisierung von Wettbewerb zwischen Schulen und die Verknüpfung von zur Verfügung gestellten Ressourcen mit in Test und Prüfungen gemessenen Leistungen mag die Anhäufung reproduzierbaren Wissens optimieren – aber auch da formuliert die internationale Bildungsforschung Zweifel: Ein Beitrag zur besseren Vermittlung heute gesellschaftlich notwendiger Kompetenzen stellen Wettbewerb und Standardisierung mit Sicherheit nicht dar.

3. Im Kontext der Verbetriebswirtschaftlichung von Bildungsinstitutionen wird die Qualität von Bildung zunehmend unter Gesichtspunkten der verbesserten Effizienz verstanden – vor allem im Hinblick auf Fachleistungen (wie bei der PISA-Studie). Aber selbst die Vorstellung, die Schule würde durch Wettbewerb und betriebswirtschaftliche Rechnungslegung besser, d.h. meistens gebraucht im Sinne von effektiver, hält nicht nur den empirischen Analysen der Bildungsforschung nicht stand (s.o.), sondern unterstellt gesicherte Grundlagen und Ergebnisse der Schulforschung, die so nicht gegeben sind. Die »school-effectiveness«-Forschung in den angelsächsischen Ländern hat eine ganze Reihe von Faktoren bei als effektiv definierten Schulen festgestellt, wie z.B. Schulgröße, Konsistenz von Lehrerverhalten, positive Leistungserwartung, bestimmtes und kooperatives Schulleiterverhalten etc.[5] Aber die Gewichtung der Faktoren, ihr spezielles Wirken und ihr Zusammenspiel sind alles andere als klar. Völlig unklar sind auch die Prozesse des Transfers: Wie kommt man eigentlich zu dem Ergebnis »effektive Schule«?

Die Diskussion über Neue Verwaltungssteuerung und Qualitätssicherung wird bestimmt von der unausgesprochenen Annahme, dass die effektive Schule auch die gute Schule ist. Dies ist sie bestenfalls unter dem Gesichtspunkt der kostengünstigen Ressourcennutzung. Die Kosten-Leistungs-Rechnung gibt aber keine Auskunft auf die Frage nach der »guten Schule«.

Bei einer Diskussion über die gute Schule und deren Qualität stünden Fragen nach dem Beitrag der Schule zur Bewältigung zukünftiger Lebenssituationen im Mittelpunkt, nach den zur Bewältigung der zukünftigen Herausforderungen notwendigen Schlüsselqualifikationen (O. Negt), nach ihrem Beitrag zur Selbst- und Welterkenntnis oder etwa nach ihrem Beitrag zur Reduzierung gesellschaftlicher Ungleichheit. Das gegenwärtig augenfällige Ignorieren der Frage nach dem Beitrag der Schule zur Reproduktion bzw. Minderung gesellschaftlicher Ungleichheit kommt einer unausgesprochener Zustimmung zur deren Permanenz gleich.

 

6. Rationalisierung und Privatisierung

Gegenwärtig sind zwei zentrale Entwicklungen zu beobachten, die das Bildungswesen verändern werden:

Hier ist nicht die Zeit und der Platz, auf PISA und GATS im Einzelnen einzugehen.[6] Beiden Projekten gemeinsam ist die zentrale Bedeutung von Produktkennziffern, zum einen für die Einführung der NVS und von Evaluationen und zum anderen für das Kontraktmanagement zwischen Einzelinstitution (oder privatem Träger) und zentraler Behörde im Rahmen der Privatisierung. Dieser zentrale Stellenwert von Indikatoren ist Ausdruck nicht nur der zunehmenden Bedeutung der Humankapitaltheorie und deren Instrument der Ertragsrechnung, sondern auch der sich abzeichnenden Verschiebung im Verständnis von Qualität von Bildungsprozessen: Mit der Bestimmung von Qualität als Effizienz und deren quantitativ messbaren Indikatoren werden Bildungsziele jenseits der Messbarkeit[7] marginalisiert.

Die GATS-Verhandlungen werden sich in den nächsten Monaten – genauer bis zum 31. März 2003 – auf die Liberalisierungs-Angebote der EU konzentrieren, über die dann im Rahmen der WTO bis Ende 2004 im Rahmen eines Prozesses über Liberalisierungsangebote und -forderungen verhandelt werden wird. Wer den oben skizzierten Entwicklungen Einhalt gebieten möchte, muss sich in die auf nationaler und internationaler Ebene in Gang gekommenen Bewegungen gegen die (zunehmende) Privatisierung von Bildung einschalten.

Abschließend könnte man die These formulieren, dass das objektive Ziel des Paradigmenwechsels in der Bildungspolitik darin zu sehen ist, die Phase der auf größere Expansion und Chancengleichheit abzielenden Bildungsreform endgültig zu beenden und einer Kosten-senkenden bzw. -verlagernden Rationalisierung und Privatisierung Vorrang einzuräumen. Rationalisierung und Privatisierung, Wettbewerb und einzelinstitutionelle Effizienz sind Elemente einer institutionellen Oberfläche, hinter der sich ein neuer »common sense« von dem herausbildet, was im Rahmen von Bildungsprozessen für wichtig erachtet wird. Hinter dem Schleier von Rationalität werden deutlich sichtbar Werte eines Sozialdarwinismus, der unter der Losung von »Autonomie und Eigenverantwortung« den TeilnehmerInnen am Markt – sei es dem Einzelnen (Eltern/Schüler) oder der einzelnen (teil-)autonomen Bildungsinstitution – die alleinige Verantwortung über Erfolg und Versagen zuschreibt. Diese Verantwortung des/der Einzelnen für ihre/seine »employability« (Beschäftigungsfähigkeit) und die sie begleitenden Kompetenzen äußert sich auch in der Forderung nach »lebenslangem Lernen«.

 

* Das Zitat von Colin Leys in Teil I dieses Beitrages stammt aus: Leys, Colin : »Market-driven Politics. Neoliberal Democracy and the public interest«, verso, London, S. 26

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 10/02

Anmerkungen

1) Whitty, Geoff / Power, Sally / Halpin, David: »Devolution and Choice in Education – The School, the State and the Market«. Open University Press, Buckingham, 1998.

2) Weiß, Manfred: »Privatisierung im Bildungsbereich«, in: Radtke, Frank-Olaf / Weiß, Manfred: »Schulautonomie, Wohlfahrtsstaat und Chancengleichheit«, Opladen, 2000, S. 49.

3) Vgl. Levin, Henry: »The Public-Private Nexus in Education«, unveröff. Ms., 1999.

4) Weiler, Hans N.: »Control Versus Legitimation, The Politics of Ambivalence«, in: Hannaway, Jane / Carnoy, Martin: »Decentralization and School Improvement«, 1993, S. 55-83

5) Vgl. z.B.: Reynolds, David: »School Effectiveness and School Improvement: An Updated review of the British Literature«, in: Reynolds, D. / Cuttance, P.: »School Effectiveness: Research, Policy and Practice«, 1992; Thrupp, Martin: »Sociological and Political Concerns about School Effectiveness Research: Time for a New Research Agenda«, in: School Effectiveness and School Improvement, Vol. 12, 2001, No. 1, pp. 7-40

6) Vgl. dazu FN 3 in Teil I; Fritz, Thomas / Scherrer, Christoph: »GATS 2000 – Handelspolitische Weichenstellung für die Bildung«, in: Widersprüche 1/02

7)Vgl. etwa Negts Schlüsselqualifikationen, in: Negt, Oskar: »Kindheit und Schule in einer Welt der Umbrüche«, Göttingen, 1997.

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