letzte Änderung am 18. Juni 2003 | |
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Die Bildungspolitik gilt den nationalen und internationalen Agenturen des Umbaus sozialer Sicherungssysteme als »last frontier«. Während die Schlacht gegen alles, was im Lichte eines diffusen Modernisierungsbedarfs als rückständig gilt, im Bereich der Renten-, der Gesundheits- und Arbeitslosenversicherung oder in der Sozialhilfe bereits in vollem Gange ist, ist der Prozess der reellen Subsumtion unter die Erfordernisse des Kapitalverhältnisses im Bildungsbereich noch wenig fortgeschritten. Noch unklarer als bei den anderen, bislang zum Teil staatlich organisierten Reproduktionserfordernissen scheint hier, in welche Richtung es denn gehen soll, d.h.: welche Funktionen das Bildungssystem denn nun für »die Ökonomie« wahrnehmen soll und vor allem wie: Darfs ein bisschen mehr oder solls wieder eher weniger Gesamtschule sein? Brauchen wir mehr MathePhysikChemie, oder ist das Verstehen Abfallprodukt im Land der Dichter und Denker und notwendige Voraussetzung für die vielbemühten »Schlüsselqualifikationen« nicht auch irgendwie immer wichtig? Bedarf es einer allgemeinen Hebung des Bildungsniveaus, oder tuts nicht auch Grundbildung für alle und Eliteförderung für wenige? Einhelligkeit zeichnet lediglich den parteiübergreifenden Aufschrei aus, der in schöner Regelmäßigkeit nach Veröffentlichung neuer Ergebnisse internationaler Bildungs-Benchmarks erfolgt. Jürgen Klausenitzer kommentiert die Veröffentlichung der »IGLU«-Ergebnisse und fragt nach Gründen für diese Einmütigkeit.
Es ist wieder high time für bildungspolitische Auguren: Die öffentlichen Kommentare zur jüngst erschienenen Iglu-Studie (Internationale Untersuchung zum Leseverständnis in der Grundschule) fallen diesmal eher euphorischer aus als diejenigen zu den früheren internationalen Vergleichsstudien wie TIMSS (»Third International Mathematics and Science Study«) oder PISA (»Programme for International Student Assessment«). Der Grund dafür liegt auf der Hand: In den immer wieder fabrizierten Ranking-Listen befindet sich Deutschland diesmal auf einem als passabel und nicht mehr ganz so katastrophal wahrgenommenen Platz.
Heißt das nun, dass über internationale Vergleichsstudien, deren Ergebnisse und Bedeutung in Ruhe und ernsthaft öffentlich nachgedacht wird, um daraus begründete Schlüsse zu ziehen? Weit gefehlt!
In den letzten Jahren hat es eine Reihe von internationalen Vergleichsstudien zu Schulleistungen gegeben, z.B. die 1991 durchgeführte internationale Lesestudie der IEA (International Association for the Evaluation of Educational Achievement), die bereits erwähnte TIMSS (IEA, 1995), die Studien von Andy Green und Hilary Steedman (1993), PISA (OECD, 2001) und jetzt Iglu. Hier ist nicht der Ort, auf diese Studien im Einzelnen einzugehen. Es kann aber dem aufmerksamen Beobachter nicht entgehen, dass diese Studien zu durchaus unterschiedlichen Ergebnissen kommen, wie etwa im Hinblick auf die Lese-Leistungen von Schülern, ohne dass dies ernsthaft öffentlich diskutiert würde. So schreibt etwa Hans Brügelmann: »Wie passen die schlechten Ergebnisse (bei PISA, JK) dazu, dass deutsche Dritt- und AchtklässlerInnen 1991 in der Internationalen Lesestudie (IEA) noch im Mittelfeld gelandet sind?... In den zitierten Befunden zeigen sich Ungereimtheiten, die aufzuklären sind, ehe man Urteile über den relativen Leistungsstand fällt und Schlüsse über deren Ursachen zieht.« (Freitag, Nr. 52, Dez. 2001, S. 9) Eben diese Aufklärung findet aber nicht statt. Die Ergebnisse der zitierten Studien werden nicht in Beziehung zueinander gesetzt und einer genauen Analyse unterzogen. Dies gilt auch für die Iglu-Studie. Deshalb kann man gut nachvollziehen, wenn ein Doyen der deutschen empirischen Schulforschung und Spezialist für Schulleistungstests, Karlheiz Ingenkamp, zu dem Schluss kommt: »Diese PISA-Ergebnisse (man muss das heute auf die IGLU-Studie erweitern, JK) sind ohne Zweifel ein wichtiger Hinweis, der mit anderen, ähnlichen Untersuchungen zu verbinden wäre. Aber sie sind auf keinen Fall eine abschließende Analyse der Leistungsfähigkeit aller Stufen unseres Schulsystems. Auf ihrer Basis allein Änderungen des ganzen Schulsystems, des föderalen Systems und der Verfassung zu fordern, ist leichtfertig und verantwortungslos.« (Empirische Pädagogik, Nr. 16 (3), 2002, S. 415)
Genau dies geschieht aber zur Zeit, indem die internationalen Vergleichsstudien zu Steinbrüchen gemacht werden, aus denen sich die neoliberalen Umbau-Ingenieure willkürlich Daten zur Legitimation der verschiedensten bildungspolitischen Maßnahmen herausbrechen. Deshalb stellt sich die Frage: Warum ist das so?
Die oben genannten internationalen Vergleichsstudien haben sicher interessante Detail-Informationen zutage gefördert, sie bleiben jedoch Momentaufnahmen, die zwar gewisse Korrelationen deutlich machen, über Gründe und Ursachen aber wenig aussagen. Und: im Kern sind diese Informationen nicht neu. Wer sich über den Zustand des deutschen Bildungswesen in Kenntnis setzen wollte, konnte das auch schon vorher tun, so z.B. über die Zahl der ohne Abschluss von der Hauptschule abgehenden Schüler, die Zahl von Jugendlichen, die keine Lehrstellen finden, oder die (über Jahrzehnte kaum veränderte) geringe Anzahl von Kindern aus Arbeiterfamilien, die erfolgreich einen Universitätsabschluss ablegen konnten. Alles wesentliche Indikatoren für die Qualität eines Bildungswesens. Auch die in Bezug auf Deutschland deutlich unterdurchschnittlichen Ergebnisse der im Jahr 1974 publizierten »First International Science Study« (FISS) interessierten in diesen Jahren niemand sonderlich.
Der Kommentar zur PISA-Studie von Karlheiz Ingenkamp »Die Reaktionen von Politikern und Journalisten sind die wahre PISA-Katastrophe« beschreibt den Charakter der veröffentlichten Meinung richtig, geht aber an der (politischen) Sache vorbei. Hier wird dagegen die These vertreten, dass das Katastrophengemälde von Qualitätsdefiziten und Verkrustungen, Bürokratismus und organisierter Verantwortungslosigkeit im Bildungsbereich jetzt organisieren soll, was Alt-Bundespräsident Roman Herzog mit seiner so genannten Adlon-Rede vom Juni 1997 nicht gelungen ist: jenen gesellschaftlichen Druck zu organisieren, der zur Restrukturierung des Sozialstaats im Allgemeinen und des öffentlichen Bildungswesens im Besonderen notwendig scheint. Der von Herzog eingeforderte gesellschaftliche »Ruck« zur Einleitung einer umfassenden Modernisierung verhallte Ende der 90er ohne größere Resonanz. Erst der von der PISA-Studie nach Art eines benchmarking-Systems öffentlich gemachte Modernitätsrückstand des deutschen Bildungswesens gegenüber anderen OECD-Ländern und die damit vermuteten Defizite im Wettbewerb um globale Märkte führten unter der Perspektive von »Qualitätssicherung, Effizienzmaximierung und Wettbewerb« zu ersten Restrukturierungsschritten, wie z.B. der Durchführung von Pilotprojekten zur »Selbständigen Schule«, der Budgetierung, aber eben auch der Bereitstellung von Geldern für die Einrichtung von Ganztagsschulen, Förderung von sprachlicher Frühförderung etc.
Die über Jahre hin bekannten Defizite des deutschen Bildungswesens werden nun aber vor allem zum Anlass und Vorwand genommen, im Einklang mit Rationalisierung und Privatisierung in anderen Bereichen öffentlicher Dienstleistungen den institutionellen Rahmen der Bildungsverwaltung zu restrukturieren: von der input- (Lehrpersonal, Gebäude, Curricula, Verwaltung) zur output- oder Ergebnis-Steuerung.
Dabei sind neben den »normalen« Formen von Rationalisierungen wie Extensivierung, Intensivierung und Prekarisierung der Arbeit im Wesentlichen zwei, manchmal zusammenfallende, Entwicklungen zu beobachten:
1. eine verschärfte Selektivität des bestehenden dreigliedrigen Schulwesens (z.B. durch erhöhte Leistungsanforderungen, Einführung zentraler Abschlussprüfungen, Schulzeitverkürzung); und
2. eine zunehmende Verbetriebswirtschaftlichung (unter dem Motto »Autonomie und Eigenverantwortung« z.B. in Form von Neuer Verwaltungssteuerung, Teil-Autonomisierung von Bildungsinstitutionen, der Planung von Standards und Qualitätsindikatoren zur Ergebnissteuerung des Bildungswesens).
Die Verbetriebswirtschaftlichung ist dabei Teil einer Strategie zur Modernisierung der Steuerungsfunktion der Bildungsverwaltung, die allerdings die zentralen Selektions-Funktionen des Bildungswesens unberührt lässt.
Jenseits der Validität und Inhalte der Aussagen von internationalen Vergleichstudien dienen diese der Legitimationsbeschaffung einer Restrukturierung des Bildungswesens, die sich weniger an Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit orientiert als an einer möglichst effektiven Produktion von Humankapital. Angesichts der oben angedeuteten Entwicklungsperspektiven der gegenwärtigen Bildungspolitik dürfte das auch für die Iglu-Studie und die diversen noch ausstehenden Nachfolger der PISA-Studie der OECD gelten.
Die Logik dieser Bildungspolitik erschließt sich, wenn man sie in den Kontext des allgemeinen Umbaus des Sozialstaats stellt. Dieser führt neben der Rationalisierung zu einer Verlagerung der Kosten von Ausbildung, Krankheit, Alter und Arbeitslosigkeit auf Privathaushalte und damit zur (endgültigen) Aufkündigung des Anspruchs auf die Realisierung des Solidarprinzips. Eine solche Bildungspolitik bedeutet eine zunehmende Individualisierung von Risiken und Chancen für Erfolg und Versagen auch im Bildungswesen. Das bedeutet eine Entwicklung zu Lasten der so genannten »bildungsfernen Schichten«, die in eben dieser Distanz gehalten werden sollen, und zum Vorteil der mit »höherem kulturellen und materiellem Kapital« ausgestatteten Mittelschichten, für die der Markt ein Mittel zur Wahrung ihrer Klasseninteressen darstellt.
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