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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Umwege ins Paradies? Fünf Thesen für eine Erneuerung der Arbeitszeit-Debatte Von Siggi Frieß & Peter Birke* Die ArbeiterInnenbewegung ist in der Krise. Die Gewerkschaften verlieren weiterhin Mitglieder, ihre Durchsetzungsfähigkeit ist – wie auch die jüngsten Tarifabschlüsse in der Metall- und Elektroindustrie sowie im Öffentlichen Dienst zeigen – derzeit begrenzt. Ihre gesellschaftspolitische Rolle ist mindestens seit dem Scheitern der Einflussnahme auf die rot-grüne Bundesregierung zunehmend reduziert, ein »neuer Korporatismus«, wie er sich in der aktuellen Tarifpolitik Ausdruck verschafft hat, verspricht nach unserer Auffassung keineswegs eine nachhaltige Verbesserung der Position. Vor diesem Hintergrund und angesichts der politisch-ökonomisch bedingten Prekarisierung der Lebensverhältnisse ist der Zusammenhang zwischen der alltäglichen Arbeits- und Lebenssituation der Beschäftigten und der gewerkschaftlichen Politik sehr häufig nicht mehr gegeben. Wir plädieren deshalb dafür, nach Wegen zu suchen, die die strategische Handlungsfähigkeit der gesellschaftspolitischen Debatte wiederherstellen. Wir halten eine kritische Erneuerung der Forderung nach umfassenden Arbeitszeitverkürzungen bei vollem Lohnausgleich, oder, um es von vornherein in seiner vollen Dimension auszudrücken: der Forderung nach einer Umverteilung der gesellschaftlichen Arbeit, für einen von mehreren möglichen Ansätzen, die zu einer solchen Wiederherstellung beitragen können. Mit den folgenden Thesen möchten wir zu einer Debatte über die Möglichkeiten einer solchen kritischen Erneuerung beitragen. 1. Die Gewerkschaften haben bislang nur begrenzt Ansätze gefunden, der wachsenden sozialen Zerklüftung der Arbeitenden mit neuen Formen der kollektiven Organisierung effektiv zu begegnen. Dabei handelt es sich um ein dringliches Anliegen: Solche Formen zu entwerfen und in der alltäglichen Praxis der gewerkschaftlichen Arbeit lebbar zu machen, ist Voraussetzung dafür, dass die Gewerkschaften in den kommenden sozialen Konflikten eine Rolle spielen. Dass die ArbeiterInnenbewegung in der Krise ist, hat nicht allein hausgemachte Gründe, sondern ist vorrangig ein strukturelles, politisch-ökonomisches Problem. Einige Facetten davon sind nicht nur in der Fachlite-ratur beschrieben worden, sondern auch in der öffentlichen Debatte in der Bundesrepublik mittlerweile durchaus präsent. So wurde etwa die Prekarisierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse in den vergangenen Jahren angesichts der damit verbundenen enormen Polarisierung der Einkommen und Lebenschancen der Lohnabhängigen allgemein wahrnehmbar. Es ist ein Prozess, der durch die aktuelle Wirtschafts- und Finanzkrise weiter beschleunigt und zugespitzt wird. Mittlerweile sind diejenigen Beschäftigten, die zu den Kernbelegschaften gehören, auf dem besten Wege, zu einer gesellschaftlichen Minderheit zu werden: Wenn man annimmt, dass existenzsichernde Löhne, unbefristete Arbeitsverträge, geregelte und selbstbestimmte Arbeitszeiten, gewerkschaftliche Organisierung und Vertretung, soziale Rechte aus Tarifverträgen zu den Merkmalen gehören, die bestimmen, was eine »Kernbelegschaft« ist, dann ist diese Gruppe seit den 1990er Jahren in Deutschland stärker geschrumpft als in den meisten anderen OECD-Ländern. Zu betonen ist, dass dies trotz der sozialen Polarisierung innerhalb der Gruppe der Lohnabhängigen Folgen für alle Menschen hat, die von Löhnen und Transferleistungen leben. Denn auch diejenigen, deren Einkommensniveau nach wie vor das eigene Überleben und das Überleben ihrer Angehörigen sichert, leiden oft zunehmend unter Belastung, Druck, Angst und den dadurch hervorgebrachten Krankheiten. Bemerkenswert ist weiter, dass die Schübe der Prekarisierung heute nicht mehr klar aus einer bestimmten ökonomischen Konjunktur abgeleitet werden können. Diese Tendenz setzt sich seit 1990 offensichtlich relativ unabhängig von Wachstums- und Rezessionsphasen durch. Auch in der Phase einer relativen ökonomischen Stabilität – in den Jahren vor 2008, also vor dem Einsetzen der Krise – kam es zu einer Entsicherung und Entgarantierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse, wie auch das Wachstum des Anteils der Erwerbstätigen ganz überwiegend durch prekarisierte Arbeitsverhältnisse bewirkt wurde. Ökonomisches Wachstum ist heute weder gleichbedeutend mit einer Reduzierung der Erwerbslosigkeit noch mit einer Verbesserung der Arbeits- und Lebensverhältnisse der abhängig Beschäftigten. Die Tatsache, dass selbst eine Stabilisierung der konjunkturellen Entwicklung keineswegs zu einer allgemeinen Verbesserung der Arbeits- und Lebensverhältnisse führt, zeigt, dass Prekarisierung die Folge einer Aufweichung und Zurückdrängung sozialer Rechte ist. Mit anderen Worten: Es wurden politische und wirtschaftliche Entscheidungen getroffen – von der Einführung von Hartz IV bis zur Zementierung von 400-Euro-Arbeitsverhältnissen, von der Ausdehnung der Leiharbeit bis zur Aufweichung des Kündigungsschutzes durch befristete Arbeitsverhältnisse –, die die aktuelle Situation mit hervorgebracht haben. Was Prekarisierung bedeutet, lässt sich auch in quantitativer Hinsicht grob umreißen: So ist etwa die Erwerbsquote in der Bundesrepublik seit Beginn der 1990er Jahre auf über 70 Prozent gestiegen, der Anteil der gesicherten Arbeitsverhältnisse jedoch zugleich stark zurückgegangen. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der wirtschaftlichen Entwicklung geht davon aus, dass der Anteil der in Vollzeit Beschäftigten seit 1991 in den neuen Bundesländern von 90 auf unter 70 Prozent und insgesamt von über 80 auf etwa 65 Prozent gesunken ist. 2007 arbeiteten noch 90 Prozent der Männer, aber lediglich rund 50 Prozent der Frauen in Vollzeit. Von diesen Beschäftigten hatten jedoch lediglich rund 15 Prozent befristete Arbeitsverhältnisse. Die LeiharbeiterInnen sind in dieser Statistik nicht mitgerechnet, ihre Zahl stieg besonders in den 2000er Jahren massiv an. Über zehn Prozent der Beschäftigten entpuppen sich in der Krise als Reserve-Arbeitskräfte: LeiharbeiterInnen sind die größte und sichtbarste Gruppe, aber auch (Schein-)Selbstständige, Werkvertragsnehmer, befristet Beschäftigte, 400-Euro-Kräfte usw. gehören dazu. Dass der Anteil der Menschen, deren Arbeit die soziale Existenz nicht mehr sichert, ebenfalls steigt, hat damit zu tun. Statistisch lässt sich dies zum Beispiel daran erkennen, dass die Zahl der arbeitenden Armen unter den rund acht Millionen Menschen, die Leistungen auf Grundlage des SGB II beziehen, mittlerweile den Anteil der Langzeiterwerbslosen deutlich übersteigt. Insgesamt geht der Sachverständigenrat von einer Verdopplung der »atypischen Beschäftigung« seit Beginn der 1990er Jahre aus: Die Rede ist von einem Anteil von aktuell über 35 Prozent. Damit verbunden ist eine Polarisierung der Einkommen, die in der Bundesrepublik in der letzten Dekade stärker gewachsen ist als in allen anderen OECD-Staaten. Wenn wir über die Frage nach der Umverteilung der gesellschaftlichen Arbeit sprechen, dann muss dem vorausgeschickt werden, dass eine solche Umverteilung tagtäglich bereits stattfindet. Denn selbstverständlich nimmt die Tatsache, dass in den letzten etwa zehn Jahren ein Drittel der Stellen im Öffentlichen Dienst verschwunden ist, im Alltag vieler Menschen breiten Raum ein, weil die gesellschaftlich notwendigen Tätigkeiten, die von diesem Drittel verrichtet wurden, jetzt auf andere Weise erbracht werden müssen: entweder privatisiert und ökonomisiert (was oft mit einer Verschlechterung der Leistungen einhergeht) oder als unbezahlte bzw. außerordentlich prekäre migrantische Arbeit in privaten Haushalten. Schon an diesem Punkt hat die Frage nach der Umverteilung der gesellschaftlichen Arbeit eine kaum zu unterschätzende Bedeutung. Denn es geht darum, wie wir unseren Alltag organisieren. Es geht um Geschlechter-, Familien- und Migrationsverhältnisse. Dies ist keine abstrakte Frage, sie hat nicht nur mit den Gewerkschaften und schon gar nicht nur mit der Organisations- und Tarifpolitik zu tun. Dass es zunehmend schwieriger wird, kollektive Gegenwehr im Betrieb zu organisieren, hat insofern nicht nur betriebliche Ursachen. Denn die Prekarisierung der gesellschaftlichen Arbeits- und Lebensverhältnisse als Ganzes führt unmittelbar zu einer Prekarisierung der gewerkschaftlichen Organisationspolitik. Wir wissen alle, dass die DGB-Gewerkschaften seit Anfang der 1990er Jahre fast die Hälfte ihrer Mitglieder verloren haben. Die Tarifbindung in den nicht mehr ganz so neuen Bundesländern ist mittlerweile auf deutlich unter 50 Prozent der Erwerbstätigen gesunken. Aber es ist kein Zufall, dass die Verluste unregelmäßig verteilt sind. Bestimmte Bereiche wie etwa das Bauhauptgewerbe sind schon seit vielen Jahren unter Druck, in anderen Sektoren und Beschäftigtengruppen bilden sich strategische Positionen, die zum Teil zu einer lokalen Verhandlungsmacht geführt haben. Rezepte der Mitgliedergewinnung, die diese Frage nur voluntaristisch angehen und die ausschließlich auf eine bessere Ansprache der Kolleginnen und Kollegen setzen, gehen unseres Erachtens notwendig ins Leere, wenn sie den hier nur kurz skizzierten politisch-ökonomischen Kontext nicht berücksichtigen. Vor allem aber führt eine Gewerkschaftsarbeit, die sich lediglich auf diejenigen bezieht, die noch in ›Normalarbeit‹ beschäftigt sind, langfristig zu einer Verwandlung der Gewerkschaften in ein Netzwerk gesellschaftlicher Minderheiten. 2. Für viele Erwerbstätige wie für Erwerbslose ist die Krise lediglich die Fortsetzung einer nur allzu bekannten Entwicklung. Dass etwa durch Stellenstreichungen und einen verstärkten Zwang zur Produktivität kollektive Organisierung und Gegenwehr gestärkt werden, ist folglich auch kein Automatismus. Im Gegenteil trägt die Krise bislang offenbar auch dazu bei, einen Korporatismus ›von unten‹ zu befördern. Doch Alternativen zu diesem Korporatismus sind keine Frage nach mehr oder weniger guten Ideen. Sie müssen sich im Nadelöhr des betrieblichen und gesellschaftlichen Alltags bewähren, alltägliche Handlungsfähigkeit mit gesellschaftspolitischen Positionen verbinden. Ein Thesenpapier kann dazu nicht viel beitragen, gleichwohl existiert – nicht nur, aber auch innerhalb der Gewerkschaften – ein Konflikt um die strategischen Orientierungen in der Krise. Und die aktuelle Orientierung trägt unseres Erachtens zur Verschärfung der Krise der Gewerkschaften bei. In der aktuellen Wirtschafts- und Finanzkrise hat sich gezeigt, dass die Gewerkschaften nicht deshalb keine alternative gesellschaftliche Konzeption ausweisen können, weil es ihnen am abstrakten Vermögen, diese zu entwickeln, oder an der allgemeinen politischen Einsicht in Handlungsalternativen fehlt. Der wichtigste Grund ist vielmehr, dass die Krise in der Tat die Erosion der historischen, relativ regulierten, männlich dominierten Normalarbeit nur verschärft, nicht aber hervorgebracht hat. Die Verunsicherung bzw. ›Entgarantierung‹ des Arbeitslebens ist ein Prozess, der bereits über mehrere Jahrzehnte anhält. Dieser Prozess hat viele verschiedene Facetten, er ist in gewissem Maße durch spektakuläre politische Ereignisse (wie die Nie-derlage der IG Metall im ostdeutschen Streik von 2003, die Hartz-Reformen usw.) hindurch kommuniziert und definiert worden. Aber er setzt sich vor allem im Alltag fest. So ist etwa der bereits erwähnte statistische Umstand, dass seit Mitte der 1990er Jahre rund ein Drittel der Stellen im Öffentlichen Dienst bundesweit ge-strichen, privatisiert oder verrentet worden ist, im Alltag nicht präsent, aber durch steigende Arbeitsbelastung, stärkeren physischen und psychischen Druck sowie eine Erhöhung der Arbeitszeit spürbar. Nur in Ausnahmefällen werden Beschäftigte unmittelbar und spürbar zu Betroffenen der Wirtschafts- und Finanzkrise. Die Situation in der Bundesrepublik unterscheidet sich in dieser Hinsicht stark von der in Staaten wie Griechenland, Irland oder Island, in denen es zu einem Zusammenbruch des staatlichen und privaten Finanzsystems gekommen ist. Aber selbst in diesen Staaten war die Wirkung der Krise nicht überall gleich spürbar, was ein wesentliches Moment ihrer Kontrolle durch die jeweils Regierenden ist. Insbesondere wurden Auswirkungen der Krise in der Produktion (sowohl privat angeeigneter als auch öffentlicher Güter) grundsätzlich als abgeleitet angesehen. Die Krise begann offensichtlich auf den Märkten, während sie in den Betrieben als naturwüchsige Folge entweder der aus dem Zusammenbruch von Banken und Immobilienwirtschaft notwendigen Haushaltskürzungen oder – ebenso naturwüchsig – aus dem Zusammenbruch der Exportmärkte abgeleitet erscheint. Schon das Auftreten der Krise in den Betrieben ist also eine Frage der Kräfteverhältnisse: Selbstbewusst soziale Forderungen zu formulieren ist nur möglich, wenn die Logik dieser Naturwüchsigkeit verlassen wird, wenn also beispielsweise davon ausgegangen wird, dass soziale Ansprüche als solche keine Funktion von Immobiliengeschäften und Exportmärkten sein sollten. Die Forderung nach einer Umverteilung der gesellschaftlichen Arbeit kann nicht ohne eine solche andere Logik auskommen. Derartiges Selbstbewusstsein zu entwickeln ist allerdings noch aus einem weiteren Grunde derzeit nicht einfach. Die in These 1 konstatierte Tatsache, dass Prekarisierung eine Frage politischer Entscheidungen und gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse und somit relativ unabhängig von der aktuellen ökonomischen Entwicklung ist, bedeutet auch, dass die Erfahrung existentieller ökonomischer Unsicherheit nicht neu ist. Deshalb greift die aktuelle Wirtschaftskrise aus Sicht vieler Beschäftigter nicht sehr grundsätzlich in den Alltag ein. Das bedeutet weder, dass sich die Leute besonders wohlfühlen, noch dass es keinerlei Kritik an den Verschlechterungen der letzten Jahre bzw. schon fast Jahrzehnte gibt. Dennoch erscheinen beispielsweise im Öffentlichen Dienst der Bundesrepublik weitere Kürzungen, die auf der Grundlage der durch die Bankenzusammenbrüche produzierten Haushaltskrisen eingeleitet werden, lediglich als »dasselbe nochmal«, als »eine weitere Runde« der Umstrukturierung und Ökonomisierung. Die Krise ist kein Bruch, sondern lediglich eine Fortsetzung dieser Entwicklung. Auch deshalb ist es keineswegs automatisch so, dass erneute Zumutungen das Fass zum Überlaufen bringen und zu Widerständigkeit oder sogar kollektiver Organisierung führen. Aber das in These 1 angesprochene Problem der Prekarisierung spielt auch noch in anderer Hinsicht eine Rolle. Denn in Sektoren wie der exportorientierten Industrie, in der die Krise unmittelbarer als Folge der Überproduktion und im Zusammenbruch der Exportmärkte sichtbar wurde, wurde eine Regulierung vermittels der Entlassung von LeiharbeiterInnen und der Kurzarbeit eingeleitet. Diese Art der Regulierung hat sich die sozialen Unterschiede der Beschäftigten zunutze gemacht: Während die Kurzarbeiter-Regelung den materiellen Einbruch für die Noch-Beschäftigten ein wenig relativiert, bedeutet sie zugleich, dass die Kolleginnen und Kollegen oft sehr lange Zeit nicht mehr im Betrieb sind und ihre Kommunikation dadurch erschwert wird. Die Gewerkschaften, insbesondere die IG Metall, haben sich nolens volens auf diese doppelte Art der Regulation eingelassen. Dabei gilt auch für die Gewerkschaften, dass dieser Weg lediglich »mehr von demselben« ist. Wir erinnern in diesem Zusammenhang daran, dass es nicht alleine der mangelnde organisationspolitische Reformwille war, der die katastrophale Entwicklung der Mitgliederzahlen bewirkt hat, sondern dass gerade die Mitarbeit an der Restrukturierung der Unternehmen, der Deindustrialisierung der neuen Bundesländer, an den »Standortsicherungsvereinbarungen« und »Bündnissen für Arbeit« in den späten 1990er Jahren sowie weitere Formen der Sozialpartnerschaft die Rezepte waren, die in der jüngsten Vergangenheit zur Passivität der betrieblichen Gewerkschaftsbasis beigetragen und den Mitgliederschwund gefördert haben. Eine ›Absicherung‹ der Arbeitenden in der Krise alleine durch eine Erneuerung der Kooperation mit Regierung und Unternehmen zu betreiben, wird die in These 1 skizzierte Problemlage verschärfen: Kurzfristig mögen die Abkommen zur Regulierung der Krise den Gewerkschaften eine Existenzgarantie sichern, langfristig werden sie die soziale Basis der Gewerkschaften weiter massiv schrumpfen lassen – und Bemühungen der Organisationsreform durch »partizipative« Ansätze (»Organizing«-Projekte, Kampagnen für »gute Arbeit«, für den Mindestlohn etc.) werden lediglich Episoden bleiben. 3. In These 2 haben wir ausgeführt, dass Forderungen nach Reformen – auch nach radikalen Reformen – an sozialen Bedürfnissen anknüpfen, die die Verfasstheit der Arbeitsbeziehungen praktisch kritisieren. Die Kampagne für eine Umverteilung der gesellschaftlichen Arbeit, wie sie in den 1980er Jahren von Teilen der IG Druck und Papier und der IG Metall verstanden wurde, war ein Beispiel für einen solchen Versuch der Anknüpfung: Zumindest war der Druck zu spüren, mit der Arbeitszeitkampagne auch die gesellschaftliche Debatte um die häusliche Arbeitsteilung, über die Qualität der kulturellen Arbeit, des Konsums, der öffentlichen Güter usw. zu befördern. Allerdings hat sich dabei und danach auch gezeigt, dass insbesondere die ›neuen‹ sozialen Bedürfnisse keineswegs in eine eindeutig emanzipatorische Richtung weisen, sondern ambivalent sind und in ihrer Umsetzung immer umkämpft bleiben. Das gilt auch und vielleicht besonders für die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung. Sie ist kein Rezept und keine Formel für den Weg in eine emanzipierte Gesellschaft, sondern bleibt immer umkämpft. Diese Ambivalenz gilt auch für die in der ersten These angesprochene »Prekarisierung«. Keineswegs waren es lediglich Angriffe der Unternehmer und die veränderte Politik der Regierungen, die die Ausweitung der unsicheren, entregelten und entgrenzten Arbeitsverhältnisse vorangebracht haben. Von vornherein entsprach die Auflösung des Normalarbeitsverhältnisses auch bestimmten Bedürfnissen zumindest großer Teile der abhängig Beschäftigten. Die Hochzeiten des Fordismus waren nicht das Paradies – vielmehr lebten wir auch schon in den 1960er und 1970er Jahren in einer Gesellschaft, in der Menschen durch indus-trielle Arbeit gesundheitlich und psychisch verschlissen wurden, in der eine rigide Teilung zwischen Arbeit und Freizeit vor allem die große Mehrheit der Frauen in eine abhängige und unwürdige Position brachte. Und nicht zuletzt ist die Verunsicherung der Arbeits- und Lebensverhältnisse für MigrantInnen, Ungelernte und Frauen nichts Neues, sondern ein lange schon bekanntes und oft – nicht zuletzt auch durch die sozialen Bewegungen der 1970er Jahre – angegriffenes Phänomen. Die Kampagne für eine Umverteilung der gesellschaftlichen Arbeit in den 1980er Jahren hatte auch den Sinn, diese Verhältnisse umfassend zu begreifen und zu verändern. Allerdings wurde aus der Kampagne schnell der – nach dem Vermittler Georg Leber benannte – »Leberkäse«: mehr Freizeit für die Normalarbeiter bei gleichzeitiger Erosion des Normalarbeitsverhältnisses. Dass konkrete, systemimmanente Reformen immer mit konkreten Enttäuschungen verbunden sind, ist nichts Neues: Selbstverständlich hatten die Unternehmer nur ein Interesse an der »Humanisierung der Arbeit«, insofern diese Grundlage dafür sein konnte, die Produktivität zu steigern. Umso wichtiger ist es allerdings, sich klarzumachen, dass die Resultate von gesellschaftlichen Konflikten nicht von vornherein feststehen. Das gilt auch für die historische Debatte um die Umverteilung der Arbeit und sogar für die Debatte um die Flexibilisierung der Arbeitszeit. So hatte etwa die Forderung nach Abschaffung der Stechuhr nicht alleine die Dimension, dass Unternehmerverbände, Unternehmensberatungen, das Management und der Staat die Arbeitenden auf der Grundlage sozialtechnischer Erwägungen dazu verführen wollten, sich entgrenzt und (nach Ende der Arbeitszeit) unentgeltlich zu verdingen. Er war auch eine Forderung nach mehr Selbstbestimmung, mehr Flexibilität, einer Vereinfachung der Kinderbetreuung. Ähnliches gilt für die Experimente, die im Rahmen der »Humanisierung der Arbeit« gemacht wurden: Gruppenarbeit zum Beispiel griff die Forderung nach einem Ende der sinnentleerten und gesundheitsschädlichen repetitiven Teilarbeit auf, aus Sicht der Beschäftigten ein sehr wichtiges Anliegen, aus Sicht der Unternehmer mit dem Ziel der Verdichtung der Arbeitszeit und der ›selbstständigen‹ Intensivierung der Arbeit. Dass neue Formen der Kooperation keineswegs zu einer Emanzipation der Arbeitenden (geschweige denn der unbezahlten Arbeit) geführt haben, ist kein Argument gegen solche Bedürfnisse und Forderungen, sondern nur die Feststellung, dass die Zuspitzung des Konfliktes immer nur für eine bestimmte, kurze Zeit gelingt. Das gilt gerade auch für die Forderung nach einer umfassenden Verkürzung der Arbeitszeit und einer Umverteilung der gesellschaftlichen Arbeit. In dem Maße, in dem diese Forderung im Rahmen eines Handels mit den Unternehmerverbänden umgesetzt wurde, der voraussetzte, dass die Arbeitszeit einseitig flexibilisiert und die Arbeitsverhältnisse für eine ganze Generation neu auf dem Arbeitsmarkt aktiver Menschen in fast allen Dimensionen schlechter gestaltet wurden, denunzierte sich die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung selbst: Viele Beschäftigte sahen, dass sie einerseits »nur auf dem Papier« stand und andererseits durch die Ausdehnung von Überstunden sowie die enorme dauernde Steigerung der Produktivität konterkariert wurde. Die Erwerbslosigkeit sank nicht substantiell, obwohl die Verkürzung der Arbeitszeit vielleicht die Arbeitsplätze einiger Facharbeiter für eine gewisse Zeit gesichert haben mag. Die Teilung der Arbeit nach Geschlecht und Herkunft hat sich sicherlich modifiziert, aber die Prekarisierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse hat, wie in These 1 bereits ausgeführt, zu einer neuen enormen Polarisierung geführt. Arbeitszeitverkürzungen eröffneten eine Reihe von Reformen, die unter Rückgriff auf Ideen der sozialen Bewegungen und emanzipatorischer Teile der Gewerkschaften umgesetzt und dabei in eine erneuerte Regulierung der Arbeitsbeziehungen übersetzt wurden: Auch die erwähnte Gruppenarbeit und die Flexibilisierung der Arbeitszeiten gehörten dazu. Überall gilt: Ursprüngliche Ziele und Resultate stimmten dabei vielleicht formal überein, grundlegend klafften sie himmelweit auseinander. Das bedeutet aus unserer Sicht nicht, dass die Bedürfnisse, die sich unter anderem in der Forderung nach der 35-Stunden-Woche und dem 7-Stunden-Tag bei vollem Lohnausgleich artikuliert haben, falsch oder einfach nur illusionär waren, sondern dass Reformen – auch radikale Reformen – von einem fortlaufenden Konflikt um die Art ihrer Umsetzung begleitet sind – ein Konflikt, den alle, die mit der 35-Stunden-Woche andere Ziele verbanden, im Laufe der 1990er Jahre verloren haben, der aber damit wenigstens aus unserer Sicht keineswegs beendet ist. 4. Die jüngsten Tarifrunden in der Metall- und Elektroindustrie sowie im Bereich Bund und Kommunen des Öffentlichen Dienstes waren ein Versuch, in der Krise im Konsens mit den staatlichen und privaten Unternehmern den Status quo der Noch-Beschäftigten und den gewerkschaftlichen Einfluss am grünen Tisch zu sichern. Auf eine Verbindung mit den Anliegen der Nicht-mehr-Beschäftigten und dem Kampf um den Erhalt, die Qualität und den Ausbau öffentlicher Güter wurde verzichtet. Eine Erneuerung der Debatte über eine Reduzierung der Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich ist nur dann erfolgversprechend, wenn sie zugleich eine Bezugnahme auf diese Anliegen und Kämpfe enthält. Eine ganze Reihe von AutorInnen unterschiedlicher politischer Provenienz konstatieren in ihrer kritischen Bewertung der so genannten tarifpolitischen Neuorientierung der IG Metall in der Metall- und Elektroindustrie, dass es sich um einen »Krisenkorporatismus auf Spitzenebene« (Detje/König) handele. Meistens wird in dieser Kritik, wenn es sich um gewerkschaftsnahe Veröffentlichungen handelt, die Perspektive der Noch-Beschäftigten der betroffenen Exportindustrien nicht verlassen: Diese, heißt es, sei trotz des Korporatismus »langfristig nicht gesichert«, da es sich um eine Strukturkrise handele. Insofern völlig zurecht wird eine Erneuerung der Debatte um Arbeitszeitverkürzung sowie eine gesellschaftliche Diskussion über alternative Produktionslinien gefordert, wie sie im Kontext der Kampagne für die 35-Stunden-Woche geführt wurden, die selbst (wir erinnern uns) eine Reaktion auf die schweren konjunkturellen Verwerfungen sowie die schnell steigende Massenerwerbslosigkeit zu Beginn der Kohl-Ära waren. Doch obwohl eine Untersuchung des WSI betont, dass in 71 Prozent der krisenbetroffenen Betriebe zunächst die prekär Beschäftigten »abgebaut« und lediglich in einem Drittel der Betriebe auch die »Stammbelegschaften« angegriffen wurden, während die Zahl der KurzarbeiterInnen auf über 700000 stieg, scheint die Asymmetrie dieser Entwicklung zu keinen unmittelbaren Konsequenzen zu führen. Unsere Einschätzung ist dagegen, dass das ›korporatistisch‹ ausgehandelte Ergebnis – ein Metall-Tarifvertrag über 23 bzw. 26 Monate, dessen Ergebnis gegen Null geht und mit dem zugleich Arbeitszeitverkürzung auf eine begrenzte Weise fortgesetzt wird (wir kommen gleich darauf zurück) – letztlich nur als Schwächung der Verhandlungsmacht aller Kolleginnen und Kollegen gesehen werden kann: Ob nun ›von oben‹ oder ›von unten‹ motiviert, so bleibt doch zu konstatieren, dass auf einen Kampf um alle Arbeitsplätze (einschließlich derjenigen der Randbelegschaften) in den meisten Krisenbetrieben unter ausdrücklichem Hinweis auf die scheinbar selbstverständliche Rolle der industriellen Reservearmee verzichtet wurde. Das Versprechen, die Arbeitsplätze (nicht: die Arbeitsbedingungen oder die Löhne) der Noch-Beschäftigten in einer gemeinsamen Anstrengung von Regierung, Unternehmen und Gewerkschaften zu erhalten, baut auf einer sehr fragwürdigen Hoffnung: Nach mir die Sintflut! Das heißt: es rechnet mit dem Aufschwung, der sich schon irgendwie wieder einstellen wird, und versucht, solange es geht, ein möglichst großes Fragment der Kernbelegschaften zu erhalten. Wie es zum Aufschwung kommen soll, bleibt dabei allerdings ebenso unklar wie die Frage danach, warum die Nicht-mehr-Beschäftigten, die in der Folge – so die Annahme – wieder in die Betriebe gespült werden, sich in den kommenden besseren Zeiten eigentlich gewerkschaftlich organisieren sollten. Wenn wir davon ausgehen – und damit wären wir nicht besonders originell, auch Leute wie der stellvertretende Vorsitzende der IG Metall konstatieren dies ja –, dass das Mitgliederproblem der Gewerkschaften im Wesentlichen ein Problem der Entfremdung der Gewerkschaftspolitik vom Alltag der Gewerkschaftsbasis ist, dann reicht das St. Florians-Prinzip nicht aus, sondern es geht erstens um die Frage, welche Güter mit den reichhaltigen Steuermitteln, die derzeit in den Wirtschaftskreislauf gepumpt werden, eigentlich produziert werden sollen (und auch: von wem, wie, wo und nach welchen Maßgaben diesbezüglich Entscheidungen getroffen werden), und zweitens geht es um eine »Politik der Entprekarisierung« (Dörre), in der auch die berechtigten sozialen Ansprüche und Forderungen der Nicht-mehr-Beschäftigten anerkannt und diese nicht nur auf das SGB II verwiesen werden: Die Forderung nach einer gesellschaftlichen Umverteilung der Arbeit muss als Teil dieses Konfliktes gesehen werden und sich mit der Forderung nach einer Abschaffung der Sanktionen gegenüber Erwerbslosen und nach existenzsichernden Einkommen für alle sowie dem freien Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen verbinden. Damit ist auch gesagt, dass eine Debatte um die gesellschaftliche Arbeit in ihrer ganzen Breite, die Bedeutung der Arbeit in der Pflege und die bezahlte wie unbezahlte Arbeit in privaten Haushalten sowie die Qualität öffentlicher Güter untrennbar mit der Forderung nach Arbeitszeitverkürzung verbunden ist. Denn die Katastrophe ist nicht der Zusammenbruch von Banken, sondern es ist die Erosion der sozialen Kohärenz, die daraus folgt, dass eine immer größere Gruppe von Menschen nicht mehr über ein existenzsicherndes Einkommen aus Lohnarbeit verfügt, während gleichzeitig dramatische Verschlechterungen im Bereich der Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens vorgenommen wurden: Verschlechterungen in den Altenheimen, den Kindertagesstätten, den Krankenhäusern, der Abfallentsorgung, des Nahverkehrs, der sozialen Arbeit, der kulturellen Einrichtungen, der Bewirtschaftung öffentlicher Räume usw. Was André Gorz in »Wege ins Paradies« als den Traum und die Möglichkeit eines weitgehend von der Entfremdung der Lohnarbeit befreiten Lebens bezeichnet hat, wird heute vielfach zum Albtraum. Wer einmal in die Reservearmee gerutscht ist und ›arbeitsfrei‹ wird, wird immer stärker auf ein eng begrenztes Feld von Arbeitsbeschaffung und äußerst reduziert nutzbaren öffentlichen Gütern zurückgeworfen. Die ›Kinder der Reservearmee‹ werden zugleich mit Armutssituationen und gesellschaftlichen Benachteiligungen konfrontiert, die in ähnlicher Form schon vor Jahrzehnten berechtigte Empörung ausgelöst haben und zu einem der wesentlichsten Motive für die Entstehung der ArbeiterInnenbewegung gehörten. Diesen Entwicklungen ist nicht alleine mit einer Neuorientierung der gewerkschaftlichen Tarifpolitik oder der gewerkschaftlichen Politik überhaupt beizukommen. Allerdings ist eine gewerkschaftliche Politik unzureichend, die sich – wie auch in der letzten Tarifrunde im Öffentlichen Dienst – darauf reduziert, alleinig eine ›Nachfrageorientierung‹ zu fordern, und sich letztlich – ganz im Gegensatz zu dieser Zielsetzung – auf einen Abschluss einlässt, der nur dann nicht zu Reallohnverlusten führt, wenn es wider Erwarten zu einer Stabilisierung der derzeitigen rekordniedrigen Inflationsrate kommt. Viele GewerkschafterInnen haben bereits vor dem Abschluss für die über zwei Millionen Beschäftigten in Bund und Kommunen auf die Wut unter den Beschäftigten über den Aufgabenzuwachs durch ständigen Personalabbau im Öffentlichen Dienst hingewiesen. Stress, steigende Arbeitsbelastung und sinkende Qualität sind die Folge. Es geht also hier auch um die Frage, wie Leistungen für gesellschaftlich notwendige Bedarfe wie Infrastruktur, Bildung, Gesundheit, soziale Sicherung produziert werden. Die Perspektive eines Kampfes um Arbeitszeitverkürzung muss von vornherein eine gesellschaftliche sein, in der die Frage nach der Qualität und inhaltlichen Ausrichtung öffentlicher Güter eine wesentliche Rolle spielt. Und dieser Kampf wird nicht zu gewinnen sein, wenn er einseitig auf den Konsens mit den staatlichen Unternehmern setzt. 5. Arbeitszeitverkürzung ist kein Patentrezept, sondern eine Strategie, die in ganz verschiedener Art interpretiert werden kann: als zentralisierte, entdemokratisierte Politik am grünen Tisch oder als Teil einer Erneuerung der gewerkschaftlichen Alltagspolitik. Während es zwischen diesen beiden Optionen vielfältige Grauzonen geben mag, muss doch zugleich festgestellt werden: Es geht nicht beides zugleich! Der Rückblick auf die Kämpfe um eine gesellschaftliche Umverteilung der Arbeit ist ein Blick nach vorne: Arbeitszeitverkürzung ist keine Formel, sondern eines der wichtigsten Anliegen einer erneuerten, emanzipatorischen Gewerkschaftspolitik. Tatsächlich enthielten die beiden im Frühjahr abgeschlossenen Tarifverträge sehr wohl Regelungen über die Reduzierung der Arbeitszeiten. In der Metall- und Elektroindustrie sind diese Regelungen sogar der Kern der erreichten Vereinbarung. Kurz zusammengefasst, handelt es sich um das Modell einer Verbindung von Arbeitszeitverkürzung und staatlich subventionierter Kurzarbeit. Während sich die Lohnpolitik beider beteiligten Gewerkschaften zwar propagandistisch, aber im Resultat nicht substanziell unterschied, sind die Regelungen über die Arbeitszeit im Metall-Tarifvertrag viel weitgehender als im Bereich Bund und Kommunen des Öffentlichen Dienstes: Eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit für sechs Monate auf 28 sowie mit Zustimmung der IG Metall auch auf 26 Wochenstunden ist möglich, wobei ein kleiner Teillohnausgleich insofern vorgesehen ist, als bei 28 Wochenstunden 29,5 bezahlt werden. ver.di hat dagegen nur eine sehr unsichere Absicherung einer Übernahme der Auszubildenden nach dem Berufsbildungsgesetz »bei Bedarf für zwölf Monate« sowie eine ebenso kleine Ausstiegsmöglichkeit für einen geringen Teil der Beschäftigten in Altersteilzeit erreicht. Hierbei geht es wesentlich darum, eine weitere Erosion der Kernbelegschaften zu verhindern. Diese Tendenz ist in der Geschichte der Arbeitszeitverkürzungen nicht neu. Schon die Einführung des 8-Stunden-Tags und der 40-Stunden-Woche folgte in den späten 1950er Jahren und im Laufe der 1960er Jahre dieser Logik. Die IG Metall handelte sie in Spitzengesprächen aus, weitgehend ohne jegliche Beteiligungsorientierung. So wurde die Verkürzung der Arbeitszeit ausgerechnet in der Rezession von 1966/67 verschoben – einer der Kompromisse, mit denen sich die Gewerkschaften eine Eintrittskarte für die »Konzertierte Aktion« verschafften. Dort war die Zeitpolitik nichts weiter als ein Faustpfand der ›Verhandlungsführer‹ am grünen Tisch. Erst in den 1970er Jahren wurde die Frage auf Druck der neuen Frauenbewegung und der neuen sozialen Bewegungen repolitisiert. Die aufgehende Sonne mit der 35 war das Symbol dieser Repolitisierung, bei der es in der Tat nicht mehr, wie noch 1956, nur um »Vati« ging, der »samstags mir gehört«, sondern auch um eine Kritik an der Arbeitsteilung der Geschlechter, um die Sehnsucht nach einer neuen, weniger entfremdeten Welt jenseits der Lohnarbeit, um die Solidarität zwischen den in Lohnarbeit Beschäftigten und den Erwerbslosen. Der wochenlange Metaller- und noch längere Druckerstreik des Jahres 1984 markierte den Höhepunkt und zu-gleich den Abschluss dieser Bewegung. Arbeitszeitverkürzungen funktionierten danach ganz weitgehend wieder nach dem alten historischen Modus: als Notfalloperationen für die Noch-Beschäftigten in Krisensituationen, wie etwa am Beispiel der 28-Stunden-Woche ohne Lohnausgleich bei Volkswagen gesehen werden kann. Die aktuelle Tarifpolitik stellt sich in diese Tradition. Wir wollen dagegen, dass die Arbeitszeitpolitik sich in eine andere Tradition stellt. Doch dies wird unseres Erachtens nicht möglich sein ohne eine, wie die feministische Soziologin Arlie Russell Hochschildt es nennt, Arbeitszeitbewegung. Zu dieser Bewegung gehören auch Ansätze, die nach dem ganzen Leben als Zusammenhang zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit fragen: Wie will ich leben? Wie will ich mit meinen Kindern umgehen? Wann ist – ohne Stechuhr – dennoch eine Grenze erreicht, nach der ich für die Erwerbsarbeit nicht mehr zur Verfügung stehe? Um solche Fragen zu beantworten, ist es notwendig, vor Ort Bündnisse zwischen Beschäftigten, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen auf gleicher Augenhöhe zu entwickeln. Für eine Bewegung, die solche Fragen stellt, reicht ein Bündnis mit schwächelnden sozialen und langsam erstarkenden stadtpolitischen Bewegungen jedoch nicht aus: Es geht auch um eine andere gewerkschaftliche Alltagspolitik. Die Aktionen, die einige IG Metaller vor einigen Jahren bei IBM gestartet haben, um einer Entgrenzung der Arbeitszeit durch eine Selbstorganisierung der Beschäftigten entgegen zu wirken, sind aus unserer Sicht eine von mehreren Möglichkeiten, mit einer solchen Politik anzufangen. Projekte betrieblicher Basisarbeit, wie sie nicht nur unter dem Stichwort »Organizing« bei ver.di stattgefunden haben, bieten ebenfalls Ansätze, die Arbeitssituation vor Ort umfassend zu thematisieren. Und schließlich sind auch bundesweite Streikversammlungen wie beim Kita-Streik von 2009 sowie umfassende Fragebögen, in denen die Beschäftigten nach ihren Wünschen für die laufende Tarifrunde gefragt werden, richtige Ansätze. Diese Ansätze verkommen allerdings dann zu einer reinen Sozialtechnik, wenn die Partizipation der Mitglieder und Beschäftigten nur auf dem Papier steht und in der Frage der Ausformung der Politik der Gewerkschaften gegenüber Regierung und Unternehmern letztendlich wiederum nur die Gremien entscheiden, aus denen sich die Gewerkschaftsspitzen zusammensetzen. Dies gilt im Übrigen auch unabhängig davon, wie diese Gremien im Einzelnen politisch zusammengesetzt sind. André Gorz schrieb über »Wege ins Paradies«, über die große Utopie einer gleichen, freien Gesellschaft, in der die notwendige gesellschaftliche Arbeit gerecht und solidarisch verteilt wird. Damals war die Grundlage die Erfahrung der Automatisierung, des Verschwindens der Fabrikarbeit und damit potentiell auch der männlich dominierten Arbeiterklasse und ihrer gesamten historischen Missionen und Absurditäten. Das Verschwinden in etwas Positives wenden, in eine neue Vorstellung von der Arbeit, von sozialen Rechten, Existenznotwendigkeiten, Geschlechterverhältnissen – das war keine schlechte Idee, aber leider haben wir diesen Kampf verloren. Heute geht es um kleinere Fragen. So um die Frage, wie Schritte gegangen werden, die uns alltäglich handlungsfähig machen, wie Konflikte formuliert und artikuliert werden, die über die Ideologie, dass ›alle in der Krise den Gürtel enger schnallen müssen‹, hinaus weisen. Vielleicht geht es heute vor allem um die »Umwege«, die notwendig sind, um dieses Ziel nach allen Erfahrungen mit den vergangenen Kämpfen um Arbeitszeitverkürzungen, mit den Bedürfnissen vieler Menschen und vor allem jenseits der immer fester werdenden Grenze von Noch- und Nicht-mehr-Beschäftigten realistisch erscheinen zu lassen. Es gibt hier keine Rezepte, sondern nur Erfahrungen. Die historische Qualität der ArbeiterInnenbewegung war und ist jedoch, dass sie in der Lage war, sich neuen Erfahrungen immer wieder lernend zu öffnen. Auch in diesem Sinne sind wir ja erst am Anfang: Arbeiten wir daran! * Sieglinde Frieß ist ver.di-Fachbereichsleiterin für den Bereich »Bund/Länder und Gemeinden« in Hamburg. Peter Birke ist aktiv in der »Gruppe Blauer Montag«, arbeitet an der Universität Hamburg und als freier Mitarbeiter der Rosa Luxemburg Stiftung. Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 5-6/10Textbezüge: Günter Busch / Bernd Riexinger / Werner Sauerborn: »Krise in der Krise? Zum Tarifabschluss im Öffentlichen Dienst«, in: express, Nr. 3/2010 André Gorz: »Wege ins Paradies. Thesen zur Krise, Automation und Zukunft der Arbeit«, Berlin 1983 Arlie Russell Hochschild: »Keine Zeit. Wenn die Firma zum Zuhause wird und zu Hause nur Arbeit wartet«, Opladen 2002 Otto König / Richard Detje: »Beschäftigungssicherung durch Tarifvertrag. Der Metallabschluss in der ›großen Krise‹ – strategische Fragen offen«, in: Sozialismus, Nr. 3/2010 |