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Updated: 18.12.2012 15:51
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Wenn der Boß bestimmt

Mit der Einführung von Zielvereinbarungen wird der Beschäftigte von Vorgesetzten ­zunehmend aus der kollektiven Interessenvertretung herausgelöst. Welche Mindestanforderungen sollten Betriebsräte und Gewerkschaften berücksichtigen?

In Deutschland werden nun schon seit etwa 15 Jahren flächendeckend neue Personalmanagementsysteme eingeführt. Sie sind unter den Schlagwörtern »Zielmanagement«, »Qualitätsmanagement«, »Partizipatives Management«, »Balanced Scorecard«, »Kaizen«, »Kontinuierlicher Verbesserungsprozeß« usw. bekannt. Die Systeme stammen ursprünglich aus Japan und wurden dort nicht etwa aufgrund »asiatischer Werte« eingeführt, sondern weil der US-amerikanische General Douglas MacArthur nach 1945 in Japan das mittlere Management der Unternehmen systematisch nach den an der Ohio State University gelehrten Auffassungen ausbilden ließ. Diese später Schule machenden Ideen waren damals in den USA noch verpönt. Manche sahen in ihnen sogar eine »kommunistische Ideologie«. Der Grund: Die Professoren aus Columbus hatten entdeckt, was schon seit Marx - aber im Grunde genommen auch schon seit Adam Smith - bekannt war, nämlich, daß die eigentliche Wertschöpfung im Betrieb durch die menschliche Arbeit erfolgt und daß daher alles Augenmerk auf die Kreativität des Arbeiters selbst zu richten sei. Nur wenn der Arbeiter sich bei seiner Tätigkeit wohlfühle, wenn er einen gewissen Spielraum habe, wenn er sich mit seiner Arbeit identifiziere, könne tatsächlich auch Qualität garantiert werden. Unter kapitalistischen Produktionsbedingungen bedeutet dieser Ansatz, verkürzt gesagt, die Aufhebung der Entfremdung der Arbeit bei gleichzeitig weiterhin entfremdeter Arbeit. Trotz dieses inneren Widerspruchs bleiben zahlreiche Ansätze dieser Managementtheorie im Prinzip richtig, denn es läßt sich nicht bestreiten, daß ein abhängig Beschäftigter mit mehr Spielraum bei seiner Arbeit mit der Möglichkeit der Einbringung eigener Ideen eine größere Motivation besitzt und deshalb auch zufriedener ist.

Meßbarkeit von Arbeitsleistung

Nachdem auf dem Umweg der Exporterfolge der japanischen Wirtschaft - vor allem Ende der 80er Jahre im Bereich der Automobilindustrie - dieses Managementsystem einen weltweiten Siegeszug antrat, vermischte es sich mit den Hierarchien eines »autoritären Führungsstils«. Abhängig Beschäftigte sollten plötzlich einen Entscheidungsspielraum erhalten, aber gleichzeitig kontrolliert werden. Sie sollten in Zirkeln über eine Verbesserung der Qualität ihrer Arbeit nachdenken, aber zugleich sich darüber bewußt sein, daß sie im Grunde genommen doch das zu machen haben, was Vorgesetzte von ihnen erwarten. Es wurde und wird so getan, als könne man selbständig arbeiten, tatsächlich aber behält nicht nur die Unternehmensleitung, sondern auch das mittlere Management die Fäden in der Hand. Das Ergebnis eines solchen Systems ist dann - wie es sich jetzt flächendeckend auch in Deutschland beobachten läßt - nicht eine Verbesserung der Mitarbeiterzufriedenheit, sondern eine Verstärkung von Mobbing, von gegenseitigem Mißtrauen und Frustration, ist die Erhöhung des Krankenstandes und bedeutet damit einhergehend übrigens auch Qualitätsverlust.

Aber selbst dort, wo solche Managementsysteme »rein« durchgeführt werden, ergibt sich das Problem, daß plötzlich alle Arbeitsbeziehungen nur noch auf einer individuellen Ebene ablaufen. Der einzelne Mitarbeiter legt in Gesprächen mit seinem Vorgesetzten seine Arbeitsziele fest. In dieses Festlegungssystem werden alle Aspekte der Arbeit einbezogen (darunter auch Urlaub, persönliche Ziele, persönliche Motivation, Qualifikation, Leistungssteigerungen, Fortbildung). Gelingt es dem einzelnen (vor allem dort, wo es sich um qualifiziertere Beschäftigte handelt), seine Anliegen »individuell« durchzusetzen, wird er praktisch gleichgültig gegenüber einer kollektiven Interessenvertretung. Gelingt es ihm nicht bzw. erreicht er seine Leistungsziele nicht, wird auch dies nicht dazu führen, daß sich der Betroffene an seine kollektive Interessenvertretung erinnert, vielmehr verfestigen sich Resignation und Vereinzelung.

Die Risiken eines nur »scheinbaren« Zielmanagements liegen auch individualrechtlich klar auf der Hand: Zielvereinbarungen erleichtern die Meßbarkeit von Arbeitsleistungen und damit die sonst problematische Sanktionierung von »Leistungsmängeln«. Bislang ist eine damit begründete ordentliche Kündigung nur dann sozial gerechtfertigt, wenn dem Beschäftigten nach Ausspruch einer Abmahnung ausreichend Zeit gegeben wurde, sein Leistungsverhalten umzustellen. Was allerdings tatsächlich als »Minderleistung« anzusehen ist, stellt eine außerordentlich schwierige Entscheidung dar und ist einer bloß subjektiven Bewertung nicht zugänglich. Das Rechtskonstrukt »Zielvereinbarung« wird in diesem Zusammenhang als ein Ersatz für das dem Unternehmer zustehende einseitige Direk­tionsrecht angesehen: Was dieser anordnen kann, soll er erst recht mit dem abhängig Beschäftigten vereinbaren können. Aus dieser Vereinbarung folgt für den Beschäftigten, daß er sich gegen ungerechtfertigte »Weisungen« nicht mehr wehren kann - schließlich war er ja damit einverstanden. Das Rückgängigmachen solcher Vereinbarungen dürfte nach Auffassung des Bundesarbeitsgerichts an den Hürden des allgemeinen Schuldrechts scheitern, mit denen der Rücktritt von einem Aufhebungsvertrag als »schwerwiegender Eingriff in die Privatautonomie«, der grundsätzlich nicht akzeptiert werden könne, gekennzeichnet wird.

Tarifvertrag und Zielvereinbarung

Inzwischen haben auch zahlreiche Tarifverträge, so der Tarifvertrag öffentliche Dienste (TVöD) und das Entgeltrahmenabkommen (ERA) der Metallindustrie, die Zielvereinbarung vor allem im Zusammenhang mit dem Leistungsentgelt entdeckt. Nach Paragraph 18 Absatz 4 TVöD der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände ist die »Leistungsprämie (.) in der Regel eine einmalige Zahlung, die im allgemeinen auf der Grundlage einer Zielvereinbarung erfolgt«. Dabei wird in Absatz 5 der Begriff »Zielvereinbarung« definiert als »freiwillige Abrede zwischen der Führungskraft und einzelnen Beschäftigten oder Beschäftigtengruppen über objektivierbare Leistungsziele und die Bedingungen ihrer Erfüllung«. Obwohl es sich um angeblich »objektivierbare« Ziele handelt, sollen diese trotzdem - offenbar weil es ihnen doch überwiegend an der »Objektivierbarkeit« mangelt - subjektiv festgelegt bzw. »vereinbart« werden. Was geschieht, wenn die freiwillige Vereinbarung nicht abgeschlossen wird, regelt der TVöD nicht. Allerdings ergibt sich aus den Formulierungen »in der Regel« und »im allgemeinen«, daß die Praxis der Zielvereinbarungen auch nach dem Willen der Tarifvertragsparteien so nachhaltig wirken soll, daß sich auch Leistungsbestimmungen nach Paragraph 315 BGB (Bestimmung der Leistung durch eine Partei) nach dem richten werden, was »überwiegend« vereinbart wurde. Ebenfalls nicht geregelt ist die Frage der Spielräume bei der Absprache mit »Gruppen«. Hier werden Einfallsmöglichkeiten für ungeschützte Individualisierung geschaffen, der kollektivem Schutz nur indirekt zugänglich ist.

Paragraph 17 Absatz 4 des Entgeltrahmentarifvertrags der Metallindustrie Baden-Württemberg überträgt den Betriebsparteien die Aufgabe, Einzelheiten bei der Leistungsentlohnung in Betriebsvereinbarungen zu regeln. Dabei soll die Ermittlung von Leistungsergebnissen durch den Vergleich von Zielerfüllung und -vereinbarung erfolgen. Zielvereinbarungen sollen nicht nur mit einzelnen Beschäftigten, sondern bei Vorliegen entsprechender Arbeitsstrukturen auch mit mehreren Beschäftigten (so vor allem bei Gruppenarbeit) abgeschlossen werden können. Vorausgesetzt wird das »gegenseitige Einvernehmen der Beschäftigten und Vorgesetzten«. Einigen sich Beschäftigte und Vorgesetzte nicht, so soll eine andere Methode zur Ermittlung des Leistungsergebnisses vereinbart werden können. Wird keine Regelung getroffen, so wird das Ergebnis im Rahmen einer Leistungsbeurteilung ermittelt. Bei wesentlichen Änderungen der Voraussetzungen während der Zielvereinbarungsperiode werden die Ziele auf Initiative des Beschäftigten oder des Vorgesetzten »entsprechend angepaßt«. Für den Fall, daß eine Einigung über die Anpassung der Ziele nicht zustande kommt, soll ein einvernehmliches innerbetriebliches Einigungsverfahren vereinbart werden. In der Betriebsvereinbarung sei insbesondere die formale Gestaltung und der organisatorische Ablauf der Zielvereinbarungen zu regeln.

Obwohl nach den Bestimmungen des Entgelt­rahmenabkommens die Vereinbarungen nicht individuell »erzwungen« werden können, akzeptiert der Tarifvertrag das gesamte Zielvereinbarungssystem und bewirkt so eine mit Sicherheit nachhaltige flächendeckende Einführung des Zielmanagements in der Metallindustrie. Allein durch den damit erzeugten Anpassungsdruck für Betriebsräte und einzelne Beschäftigte werden Zielvereinbarungen zur Regel. Zwar können in einer Betriebsvereinbarung Leistungsmerkmale festgelegt werden. Sie dürfen aber weder einzeln noch in Kombination gegen den Willen des Beschäftigten festgelegt werden. Unklar bleibt, auf welche Weise bei der Veränderung von Voraussetzungen in der Zielvereinbarungsperiode die Ziele »entsprechend angepaßt« werden. Der Anpassungsprozeß selbst wird in die Hände der einzelnen Beschäftigten bzw. ihrer Vorgesetzten gelegt.

Paradoxerweise hat beim ERA die sogenannte Individualisierung allerdings keine Stärkung der Rechte des einzelnen Beschäftigten zur Folge, sondern sogar eine Rechtsverkürzung: Bei der Frage der Eingruppierung nach den neuen ERA-Kriterien können nach Durchlaufen der betriebsinternen Kontrollmechanismen vor Gericht nur Verfahrensmängel geltend gemacht werden! Dies dürfte rechtswidrig sein. Eine solche Rechtswegbeschneidung durch »Privatisierung der Justiz« widerspricht grundlegenden rechtsstaatlichen Prinzipien, offenbart aber letztlich, wohin auch die »Individualisierung« des Rechts führt: zum Rechtsverlust.

Rechtspolitische Gefahren

In der Tat hat die Individualisierung von Rechtsbeziehungen neben den juristischen und psychologischen Folgen vor allem Auswirkungen auf der Ebene der Interessenvertretung. Das Ergebnis des Individualisierungsprozesses ist eine nachhaltige Loslösung der einzelnen Beschäftigten von der kollektiven Interessenvertretung. Betriebsräte bleiben zunehmend »außen vor«, wenn es sich um Fragen des täglichen Arbeitslebens handelt. Dies geht von der Organisation der Arbeit in Gruppen über Qualitätszirkel bis hin zur Festlegung des Urlaubs, individueller Prämien usw. Das Fortschreiten dieses Prozesses führt im Ergebnis zu einer Auflösung des Arbeitsrechts. Der einzelne Beschäftigte wird wieder zum »Mittelpunkt« des rechtlichen Geschehens. Das Arbeitsrecht wird zurückgeführt auf den Standard, den es etwa zum Zeitpunkt der Entstehung des Bürgerlichen Gesetzbuches im Jahre 1900 in Deutschland hatte, also zu einer Zeit, als es das Arbeitsrecht noch gar nicht gab!

Das Arbeitsrecht aber verdankt seine Entstehung kollektiven Strukturen. Ohne Tarifverträge und ohne Betriebsräte, also ohne kollektives Gegengewicht zu den Unternehmen, macht die Existenz eines eigenständigen Rechtsgebiets wie des Arbeitsrechts kaum einen Sinn. Die schleichende Individualisierung von Rechtsbeziehungen aber löst diese Strukturen auf und verstärkt den Prozeß einer allgemeinen gesellschaftlichen und kulturellen Vereinzelung nach dem Motto »Jeder ist seines Glückes Schmied«.

Schließlich muß ergänzt werden, daß die in Betrieben angewandten Zielvereinbarungen eine Parallele in der »Welt der Arbeitsuchenden« haben: die »Eingliederungsvereinbarungen« nach Sozialgesetzbuch II. Diese sind - im Gegensatz zu den arbeitsrechtlichen Zielvereinbarungen - grundsätzlich nicht freiwillig, im Gegenteil, ihr Abschluß ist auf dem Umweg von Leistungseinschränkungen sanktioniert. Sie dienen auch nicht im Ansatz der »Motivation« der Arbeitssuchenden, sondern sind zweifellos ein Disziplinierungsinstrument. Aber auch hier wird den Betroffenen suggeriert, sie könnten mit einer ihnen aufoktroyierten »Vereinbarung« Einfluß auf ihr eigenes Schicksal nehmen. In Wahrheit sind die Eingliederungsvereinbarungen kaum etwas anderes als eine staatlich sanktionierte Farce, mit der der uralte Rechtsgrundsatz, daß Vereinbarungen nicht erzwungen werden können (sonst bräuchte man keine Verwaltungsakte), durchbrochen wird. Auch diese »Vereinbarungen« zielen objektiv auf eine Demotivierung und Disziplinierung von Betroffenen bei gleichzeitigem praktischen Rechtsverzicht.

Beteiligungsrechte der Betriebsräte

Rechtsprechung und juristische Literatur haben die Mitbestimmungspflichtigkeit mindestens von Teilen eines Zielvereinbarungssystems anerkannt. Das Bundesarbeitsgericht hat bei Leistungszielvereinbarungen einen Auskunftsanspruch des Betriebsrats anerkannt im Fall von Umsatzzielvorgaben, beim Grad der Zielerreichung und im Fall sogenannter Ausfalltage, und zwar auch, soweit es sich um ein tarifvertraglich geregeltes Zielvereinbarungssystem handelt.

Daneben sind die Beteiligungsrechte des Betriebsrates im Betriebsverfassungsgesetz nach Paragraph 87 Absatz 1 Ziffer 10 und 11 (Entgelte und Leistungsentgelte) sowie Ziffer 12 (Vorschlagswesen insbesondere für das Ideenmanagement) und Ziffer 13 (bei Gruppenarbeit) zu beachten. Ebenso das Mitbestimmungsrecht nach Paragraph 87 Absatz 1 Ziffer 6, da die Einführung von Zielvereinbarungen regelmäßig zugleich auch im Rahmen einer elektronischen Datenverarbeitung erfolgt, so daß insoweit auch dieses Mitbestimmungsrecht gilt.

Ferner hat der »Arbeitgeber« den Betriebsrat über die Planung von Arbeitsverfahren und Arbeitsabläufen nach Paragraph 90 Absatz 1 des Betriebsverfassungsgesetzes zu unterrichten. Zweifellos gehört die Einführung von Zielvereinbarungen auch zur Planung von Arbeitsverfahren, zumindest soweit es sich dabei um Zielvereinbarungen als Teil eines neuen Managementsystems handelt. Ferner ist das Mitbestimmungsrecht nach Paragraph 94 bei der Einführung von Personalfragebögen zu beachten. Regelmäßig setzen Zielvereinbarungen schon rein technisch die Erhebung von Daten voraus. Solche Fragebögen sind dann nach Paragraph 94 Absatz 1 des Betriebsverfassungsgesetzes ebenfalls mitbestimmungspflichtig.

Alle diese Beteiligungsrechte erfassen aber entweder stets nur Teile dieses Managementsystems oder garantieren nicht in jedem Fall ein volles Mitbestimmungsrecht oder aber erfassen nicht die Einführung des Systems selbst. Vor allem aber schützen sie nicht vor der eigentlichen Gefahr, nämlich dem faktischen Unterlaufen von Beteiligungsrechten durch strukturelle Veränderungen im Betriebsgeschehen. Das heißt: Der Betriebsrat kann nicht mehr zum Zuge kommen, da der einzelne Beschäftigte mit dem Unternehmer in einer Vielzahl von Fragen bereits individuelle »Lösungen« vereinbart hat. Notwendig ist daher eine gesetzliche Regelung, die tarifvertraglichen Bestimmungen Grenzen setzt sowie Mindeststandards für betriebsratslose Betriebe enthält.

Zehn Mindestanforderungen

Damit Betriebsräte nicht mehr die Wünsche des Managements nach Zielvereinbarungen einfach nur absegnen (und sich damit langfristig selbst entmachten), ist eine Strategie erforderlich, die das Instrument der Mitbestimmung ebenso einbindet wie das der Tarifverträge und gesetzgeberischer Alternativen. Soweit auf tarifvertraglicher Basis möglich, sollten Betriebsräte zunächst die Entscheidung offenhalten, ob sie überhaupt dieses Instrument einführen. Zu den wichtigsten Kriterien, die darüber entscheiden sollten, ob Zielvereinbarungen eingeführt werden, gehören zehn Mindestanforderungen.

1. Zielvereinbarungen müssen Teil eines Managementsystems sein und dürfen nicht losgelöst von diesem eingeführt werden. 2. Zielvereinbarungen setzen nach dem sogenannten Beteiligungsmanagement den Abbau von Hierarchien innerhalb des Betriebes voraus. Ohne einen solchen Abbau können sie schon nach eigenem Selbstverständnis keine Qualitätsverbesserung erwirken. 3. Es muß ein betrieblicher Konsens über die Vereinbarung des Managementsystems bestehen. Sollten Bedenken innerhalb der Belegschaft und vor allem beim Betriebsrat vorliegen, so wäre schon nach innerer Logik des Systems die Einführung kontraproduktiv. 4. Es muß im Betrieb ein offenes Klima der Verständigung herrschen. Wenn und soweit Erscheinungsformen wie Mobbing keine Seltenheit sind, würde die Einführung von Zielvereinbarungen wiederum nicht nur kontraproduktiv wirken, sondern solche Erscheinungen erfahrungsgemäß verstärken. 5. Die Anbahnung von Mitarbeiter- und Beurteilungsgesprächen muß in jedem Fall ohne Abschlußzwang erfolgen. 6. Beschäftigte müssen zu eigenen Vorschlägen ermuntert werden und dabei eine reale Einflußchance auf die Gestaltung von Zielvereinbarungen haben. 7. Es muß zwischen Vorgesetzten und Beschäftigten Vertrauen aufgebaut werden können. Rechtliche Sanktionen müssen ausgeschlossen werden. 8. Es muß eine Förderung der Motivation unter den Beschäftigten durch eine offene Atmosphäre gegenüber den Vorgesetzten, in Gruppen, bei der Gruppenarbeit und in Zirkeln beim Qualitätsmanagement garantiert sein. 9. Es muß zu einer realen Übertragung von Verantwortung ohne Rückdelegation kommen - insbesondere auf Gruppen bei Gruppenarbeit. 10. Bei Gruppenarbeit muß die Führung der Gruppe durch Moderation und Beratung innerbetrieblich garantiert sein.

Soweit auf tarifvertraglicher Basis (noch) möglich, sollten Mitbestimmungs- und Beteiligungstatbestände genutzt werden, um die beschriebenen zehn Mindestanforderungen in einer Betriebsvereinbarung festzulegen. In Tarifverträgen sollte die Einführung von Zielvereinbarungen und deren Ausgestaltung durch Betriebsvereinbarungen eindeutig optional geregelt sein, also auch die Möglichkeit einer Rückkehr zu einem (mitbestimmungsrechtlich kompensierten) »autoritären« Modell beinhalten. Tarifverträge dürfen der schleichenden Entmachtung von Betriebsräten und der Individualisierung des Arbeitsrechts jedenfalls nicht Vorschub leisten.

Weiterhin bedeutet die tarifvertragliche »Legalisierung« von Zielvereinbarungssystemen einen weiteren Schritt in Richtung auf eine Individualisierung des Arbeitsrechts. Deshalb sollte - ähnlich wie bei der Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn - die Strategie von Betriebsräten und Gewerkschaften von der Einführung gesetzlicher Mindeststandards zu Zielvereinbarungen begleitet sein. Schließlich geht es um nicht mehr und nicht weniger als um den nachhaltigen Bestand des geltenden, vom kollektiven Arbeitsrecht abgesicherten Individualarbeitsrechts.

Immer noch wird nicht oder kaum erkannt, daß Zielvereinbarungen in einem strukturellen Gegensatz zum kollektiv- und schutzrechtlichen Ansatz des Arbeitsrechts stehen. Die Zielvereinbarung kennt nicht das Prinzip, daß man den einzelnen Beschäftigten aus Gründen des strukturellen Machtungleichgewichts zwischen Kapital und Arbeit »vor sich selbst schützen« muß. Sie postuliert vielmehr entgegen arbeitsrechtlicher Erfahrungen den Grundsatz, der »Arbeitnehmer« sei am besten geschützt, wenn er seinen »Schutz« selbst bewerkstellige. Das aber ist ein großer Schritt weg von dem, was man gemeinhin Arbeitsrecht nennt.

Unter solchen Umständen kann es nicht verwundern, daß von vielen Beschäftigten das System der Zielvereinbarungen als Farce bezeichnet wird und zudem zu Demotivation und partiellem individuellen Rückzug geführt hat: Wozu »vereinbaren«, wenn der Boß doch alles bestimmt? Um aus diesem Dilemma herauszukommen, müssen Betriebsräte, Gewerkschaften und Gesetzgeber Hand in Hand arbeiten. Die Strategie der Betriebsräte muß darauf gerichtet sein, im Rahmen geltender Tarifverträge oder auch außerhalb von ihnen den eigenen Gestaltungsspielraum zu erweitern und nicht etwa an einzelne Beschäftigte abzugeben. Die Gewerkschaften ihrerseits müssen darauf bedacht sein, nicht zu viele Kompetenzen den Betriebsräten zuzuweisen, sofern damit wiederum nur eine reine Individualisierung und damit Abwälzung der Verantwortung auf die einzelnen Beschäftigten verbunden ist. Da aber jede Individualisierung im Arbeitsbereich die Gefahr eines Dammbruchs beinhaltet, sind Mindeststandards vom Gesetzgeber zu schaffen. Vor diesem Hintergrund versteht sich ein vom Verfasser entworfener Gesetzgebungsvorschlag zur Ergänzung des Betriebsverfassungsgesetzes, mit dem den schlimmsten Auswirkungen der Individualisierung des Arbeitsrechts durch Zielvereinbarungen begegnet werden soll (siehe dazu Heft 9/2007 des Fachblatts Arbeitsrecht im Betrieb).

Artikel von Rolf Geffken, erschienen in junge Welt vom 5.11.07

Dr. Rolf Geffken ist Fachanwalt für Arbeitsrecht in Hamburg und leitet das »Institut für Arbeit - ICOLAIR«. Er steht für Schulungen von Betriebs- und Personalräten zum Thema »Zielvereinbarungen« einschließlich der Umsetzung in den Tarifverträgen des öffentlichen Dienstes und der Metallindustrie zur Verfügung.

Siehe dazu auch: Gegen die schleichende Individualisierung von Arbeitnehmerrechten
Vorschlag für einen Gesetzentwurf über "Zielvereinbarungen und Betriebsverfassung" von Rolf Geffken pdf-Datei


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