aus: ak 430 vom 23.9.1999

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Zwischen Unterwerfung und Autonomie

Ideologie und Realität der neuen Selbständigkeit

Die ArbeiterIn des 21. Jahrhunderts ist eine Selbständige. Aber führt diese Neustrukturierung der Arbeit und dieser neue ArbeiterInnentyp auch zu einer neuen Utopie von Befreiung? Den folgenden Beitrag hielt Thomas Seibert auf dem Forum "Zukunft der Arbeit" während des Alternativen Weltwirtschaftsgipfels im Juni diesen Jahres in Köln. Die (Zwischen-)Überschriften stammen von uns.

Ich werde im folgenden der Frage nach Ethos, Utopie und Ideologie der Arbeit nachgehen; einer Frage, die angesichts der Umwälzungen der Arbeitsverhältnisse im neoliberal globalisierten Kapitalismus neue Aktualität gewinnt. Diese Umwälzungen beruhen auf einer Internationalisierung der Produktion, mit der sich das Kapital in den vergangenen zwanzig Jahren aus seiner Bindung an nationalstaatliche Regulierungen befreit hat. Das damit verbundene sprunghafte Wachstum der Produktivität hat zu einer weltweiten strukturellen Massenarbeitslosigkeit geführt, mit der eine umfassende Neuzusammensetzung der Klassen- und der Geschlechterverhältnisse möglich wurde.

Die Lohnarbeit und das mit ihr verbundene Normalarbeitsverhältnis wurde tendenziell aus ihrer Zentralstellung verdrängt und durch eine Vielzahl anderer, z.T. bisher verdeckter, randständiger, historisch scheinbar überwundener oder aber gänzlich neuer Formen der Arbeit ersetzt. Diese reichen vom Pendeln zwischen Erwerbslosigkeit und Teilzeitarbeit über Formen der Heimarbeit, der Leiharbeit bis zu erneuerten Formen der Subsistenzproduktion und zu Zwangsarbeitsverhältnissen. Sogar Formen der Sklavenarbeit tauchen (wieder) auf. Dies gilt nicht etwa nur für die Schattenökonomien Asiens, Afrikas oder Lateinamerikas. Tatsächlich arbeiten heute mitten in den Metropolen Menschen unter sklavenhalterischen Bedingungen, wie z.B. viele der polnischen oder portugiesischen Bauarbeiter oder der thailändischen oder russischen Prostituierten, die als Illegalisierte in Berlin leben und arbeiten müssen.

Bezeichnet man den Sektor der rechtlich und materiell relativ abgesicherten Lohnarbeit als den formalisierten Sektor der Produktion, so können sämtliche andere Arbeitsformen als informelle Arbeit bezeichnet werden. Die Ausbeutung im formellen Sektor setzt die Ausbeutung im informellen Sektor voraus oder wird durch sie ergänzt.

Während in den Ländern der Peripherie die meisten Menschen im informellen Sektor arbeiten müssen, bildet dieser Bereich in den Metropolenländern (noch) eine Randzone. Der Tendenz nach wird allerdings auch hier in nicht all zu ferner Zeit eine Arbeitselite sogenannter "Kernbelegschaften" einer Masse von Menschen gegenüberstehen, die in prekären Arbeitsverhältnissen existieren müssen, wenn sie denn überhaupt noch in einem Arbeitsverhältnis stehen.

 

Immer auf Arbeit

Um zu klären, was in diesem Prozeß Ethos, Utopie und Ideologie der Arbeit sind, werde ich im folgenden auf die italienisch-französische Diskussion um die "lavoro autonomo", d.h. die "selbständige Arbeit" zurückgreifen. Dieser Begriff beschreibt ein zentrales Moment in der Umwälzung der Arbeitsverhältnisse. Er bezeichnet Verhältnisse, in denen die Arbeiterin formell als Selbständige auftritt, faktisch aber genauso von der Verwertung ihrer Arbeitskraft abhängig ist wie der Lohnarbeiter. Dies gilt für alle sogenannten "scheinselbständigen Arbeitsverhältnisse", etwa die der Bauarbeiter oder LKW-Fahrer, die formell freie Unternehmer, faktisch aber Sklaven ihrer Kontraktoren sind. Es gilt aber auch für die Hunderdtausenden von selbständigen ProduzentInnen und KleinstunternehmerInnen, die häufig von einem einzigen "Kunden" abhängen. Ohne dessen Nachfrage wären sie sofort und umstandslos erwerbslos.

Viele selbständige ArbeiterInnen sind hochqualifiziert und haben den Weg in die Selbständigkeit gewählt, um sich von der Erwerbslosigkeit zu befreien. Andere sind aus der Lohnarbeit in die selbständige Arbeit geflohen. Selbständige ArbeiterInnen sind in der Regel all diejenigen, die im Besitz eines Produktionsmittels sind, etwa eines Macintosh-Computers oder eines Taxis. Dies ermöglicht ihnen eine Form der "kleinen Warenproduktion" oder eine Dienstleistungstätigkeit. Der Tendenz nach<D%0> können allerdings auch LohnarbeiterInnen als selbständige ArbeiterInnen bezeichnet werden, die innerhalb der vollständig flexibilisierten Fabrik ohne Anleitung eines Vorarbeiters im selbstbestimmten Team und nach selbstbestimmten Plänen operieren.

Das Arbeitsethos der selbständigen Arbeit ist das des freien Unternehmers und mithin das des autonomen Subjekts. Der/die traditionelle LohnarbeiterIn war gezwungen, seine/ihre Subjektivität aufzugeben, um in der Fabrik als "gelehriger Körper" bloßes "Anhängsel der Maschinerie" zu sein. Die selbständige Arbeiterin muß hingegen ihre Subjektivität zu ihrem ersten Produktionsmittel machen. Sie muß ausdrücklich das Subjekt ihrer Arbeit sein. Deshalb werden entsprechende Ausbildungsprogramme auch als "Empowermentprogramme" bezeichnet - als Programme der Ermächtigung und Selbstermächtigung zur selbständigen Führung des eigenen Daseins. Aus demselben Grund nennt man ehemalige LohnarbeiterInnen oder Erwerbslose, die sich in die Prekarität der selbständigen Arbeit begeben, "Existenzgründer" - ein Begriff, der unmittelbar der Existenzphilosophie und ihrer Ethik der individuellen Autonomie entnommen sein könnte.

Weil die Subjektivität das erste Produktionsmittel der selbständigen Arbeit ist, dehnt sich die Arbeit auch auf die ganze Existenz der selbständigen ArbeiterInnen aus. Gilt für den/die LohnarbeiterIn noch die strikte Trennung von Arbeitszeit und Freizeit, von Arbeitsplatz und privatem Raum, so ist die selbständige Arbeiterin immer und überall "auf der Arbeit": Arbeit und Existenz werden deckungsgleich. Arbeit ist keine besondere Tätigkeit neben anderen Tätigkeiten mehr, alles ist "produktiv". Nicht bloß das einzelne Produkt oder die einzelne Dienstleistung sind das Resultat der Arbeit , sondern das Existenz-Unternehmen selbst und vor allem das Netzwerk von Beziehungen und Kommunikationen, in das es eingebettet ist. Insofern lautet die erste Forderung, der sich der/die selbständige ArbeiterIn unterwirft, nicht einfach: "Sei Subjekt", sondern genauer: "Sei Subjekt deiner Beziehungen, Subjekt deiner Kommunikationen und Kontakte."

 

Selbständig in die Unterwerfung

Genau auf dieser (An-)Forderung beruht die Ideologie der selbständigen Arbeit. Das selbständige Subjekt muß in der Gründung und Erhaltung seiner Existenz ganz auf die eigene Autonomie bauen. Doch gerade diese Autonomie bleibt jederzeit eine unterworfene Autonomie. Während der/die traditionelle LohnarbeiterIn der Fabrikdisziplin passiv unterworfen wird, muß der/die selbständige ArbeiterIn jederzeit von sich aus aktiv sein und seine Tätigkeit selbst koordinieren, nur um sich bei aller Selbstbestimmung letztlich doch einem Produktionsprozeß einzuordnen, über den er/sie nicht verfügen kann. Der Aufruf "Sei Subjekt" ist "also ein Ordnungsruf, weit entfernt, den Antagonismus zwischen Hierarchie und Kooperation, zwischen Autonomie und Kommando auszulöschen. Statt dessen wird dieser Antagonismus auf höherer Ebene reproduziert, indem er die Persönlichkeit der individuellen Arbeiterin und des individuellen Arbeiters mobilisiert und sich ihr zugleich entgegenstemmt. In erster Linie begegnen wir hier einem autoritären Diskurs: Man muß sich ausdrücken und sich äußern, man muß kommunizieren und kooperieren. (...) ,Seid Subjekte der Kommunikation', lautet also die Parole des Managements, (...) denn der Kapitalist zielt darauf, die Subjektivität und Persönlichkeit der Produzenten bei der Produktion des Werts zu vernutzen. Das Kommando soll im Subjekt und in der Kommunikation verankert werden. Die Arbeitenden stehen unter Selbstkontrolle und Selbstverantwortung (...), ohne das ein Vorarbeiter eingreifen müßte." (1)

Und wenn der/die selbständige ArbeiterIn der Spaltung zwischen Arbeitszeit und Lebenszeit und der Einsperrung in die Fabrik entkommen ist, so letztlich nur deshalb, weil die Fabrik die ganze Zeit und den ganzen Raum der individuellen und sozialen Existenz durchdrungen hat. Was von der selbständigen Arbeit im informellen Sektor gesagt werden kann, gilt auch für die modernisierte Lohnarbeit: Auch hier wird das alte Kommando - die Unterwerfung der Subjektivität unter der Disziplin der Maschinerie - abgelöst durch ein Kommando, das in die Subjekte selbst hineinverlegt wird: Über das Instrument der Gruppenarbeit und ohne Vermittlung eines Vorarbeiters.

Wenn es eine Utopie der selbständigen Arbeit gibt, dann kann sie nur im Widerstand dieser Arbeit gegen die Unterwerfung ihrer Autonomie entwickelt werden. Die selbständige Arbeit hätte sich nicht so schnell ausbreiten können, wenn sie nicht einem mächtigen subjektiven Bedürfnis entspräche. Tatsächlich entspringt sie historisch den späten Revolten der LohnarbeiterInnen, jenen Sozialrevolten der sechziger und siebziger Jahre, in denen nicht mehr dafür gekämpft wurde, den Status des Lohnarbeiters anzuheben und zu verbessern, sondern in denen dieser Status als solcher angegriffen und überwunden werden sollte. Hunderttausende rebellierten damals gegen die Fabrikdisziplin, gegen die Einordnung in die Maschinerie, gegen die Spaltung von Arbeitszeit und Lebenszeit, von Arbeiten und Wohnen, gegen die Unterwerfung ihrer Existenz in das lebenslange Normalarbeitsverhältnis.

 

Autonomes oder revolutionäres Subjekt?

Die Einrichtung selbständiger Arbeitsverhältnisse und die Umstellung der Produktion von der zentralisierten Fabrik in die Netzwerkunternehmen vom Typ Benetton, das massenhafte Outsourcing von Teilproduktionen in die Klein- und Kleinstunternehmen selbständiger Arbeiter stellt nicht einfach nur die Gegenstrategie des Kapitals gegen die Revolten der LohnarbeiterInnen dar: Sie wurden von den ArbeiterInnen auch als Möglichkeiten ergriffen, der Lohnarbeit und dem Fabrikkommando zu entfliehen.

Wenn es zu Revolten der selbständigen ArbeiterInnen und dabei auch zur Artikulation einer Utopie der selbständigen Arbeit kommen wird, dann wird es darin nicht um die Forderungen und um die Utopien von LohnarbeiterInnen gehen. Es wird nicht um Lohnerhöhungen und nicht um die Regulation der Arbeitszeit gehen, sondern darum, sich der Aneignung der selbständigen Arbeit durch das Kapital zu widersetzen. Die selbständigen Arbeiter werden den Ordnungsruf "Sei Subjekt" gerade im Namen ihrer Subjektivität zurückweisen.

Dies kann nur aus der Ambivalenz ihrer Situation heraus erfolgen: Einerseits wollen sie sich durch ihr persönliches Eigentum an ihren Produktionsmitteln ein Arbeitsverhältnis ermöglichen, in dem sie sich in der Arbeit selbst bestimmen können, etwa weil sie autonom über ihre Zeit entscheiden können. Andererseits nimmt ihnen gerade ihre Selbständigkeit die Möglichkeit, die erwünschte Autonomie zu realisieren: Sie bleiben schutzlos dem "Kunden" oder "Auftraggeber" ausgeliefert, der gerade ihre Selbständigkeit und ihre Subjektivität verwertet oder eben nicht.

Soll diese Abhängigkeit gebrochen werden, muß sich die freigesetzte Subjektivität von dem Zwang befreien, sich verkaufen zu müssen. Die Autonomie in der Arbeit muß zur Autonomie der Arbeit selbst radikalisiert werden - zu einer Autonomie, in der die Arbeit jede fremde Verfügung über sich zurückweist. Dies führt dann über die Revolten hinaus, in denen "nur" das Regime der Fabrik, die Macht der Hierarchie, die Spaltung von Arbeitszeit und Lebenszeit, von Produktion und Reproduktion zurückgewiesen wurde.

Ich glaube, daß eine so weit radikalisierte Autonomie der Arbeit der utopische Kern ist, der in der Forderung nach einem unbedingten Existenzgeld enthalten ist. Nicht zufällig taucht diese Forderung in den schon erwähnten Sozialrevolten der späten Lohnarbeiter und dann in den ersten Revolten der prekär Beschäftigten, der Jobberinnen und Erwerbslosen auf, d.h. in den Revolten derjenigen, die das soziale Feld der selbständigen Arbeit bilden. In ihrer radikalen Form zielt diese Forderung auf die Entkopplung von Lebensunterhalt und Erwerbstätigkeit: als Forderung nach einem Einkommen, das allen ohne Gegenleistung zusteht, ohne jede Verpflichtung zur Arbeit, in einer Höhe, die es erlaubt, zu leben ohne arbeiten zu müssen. Sie zielt auf die Befreiung der Subjektivität, die ihren Niederschlag schließlich in wirklich frei bestimmten Tätigkeiten findet. Eine Utopie der Arbeit ist dies nur noch insoweit, als es eine Utopie der befreiten Existenz ist.

Selbstverständlich dürfen die Forderung nach Existenzgeld und ihr utopischer Kern nicht verwechselt werden: Nicht auf die bloße Forderung kommt es an, sondern auf das Hervortreten von Subjekten, die sich praktisch aneignen, was mit der Forderung gemeint ist. Hier liegt die ganze Zweideutigkeit der massenhaften Ausbreitung selbständiger Arbeit: Was zunächst nur die fortgeschrittenste Form der Unterwerfung der Arbeit ist - die Verlagerung des Kommandos in die Subjekte selbst -, kann zur Keimform ihrer Befreiung werden. Dies darf aber nicht als fortschreitende, kontinuierliche, gleichsam automatische Entwicklung gedacht werden, sondern nur als ein Bruch mit der Ideologie der Arbeit. Der muß organisiert werden.

Thomas Seibert

Anmerkung:

1) Lazzarato, Maurizio (1998): "So einfach ist das. Interview zur Ökonomie des Immateriellen", in: Die Beute Neue Folge. Nr. 2., S.43f.

 


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