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Updated: 18.12.2012 15:51
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Auslese: Was ein Arbeitsloser wert ist

Nach dem Grundgesetz soll die Bundesregierung eigentlich die Menschenwürde achten und schützen (GG Art.1). Wie aus der Antwort des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (Drucksache 16/1085 (1)) auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag hervorgeht, hat man bei Arbeitslosen diesen Grundsatz längst aufgegeben und ordnet Menschen in Kategorien mit unterschiedlichen Behandlungsformen ein.

Armin Kammrad, 30.04.2006

Am auffälligsten an der Antwort des Bundesministeriums ist die Selbstverständlichkeit, mit der Arbeitslose in unterschiedliche Töpfe gesteckt werden. Diese Kategorisierung soll sich zwar aus dem Sozialgesetzbuch (konkret: SGB III § 6 "Vermeidung von Langzeitarbeitslosigkeit") ableiten, dem Gesetz selbst ist sie jedoch nicht zu entnehmen. Diejenigen, die sich noch mit einem positiven Weltbild bei der BA arbeitslos melden, wissen deshalb in der Regel nicht, dass die erste Handlung des Sachbearbeiters (bei ALG II: des Fallmanagers) darin besteht, den Arbeitslosen in ein vom Bundesministerium abgesegnetes sog. "Handlungsprogramm" einzuordnen.

Der zweite Punkt, der in der Antwort auf die Kleine Anfrage der Linksfraktion auffällt, ist, dass die Bundesregierung angeblich gar nicht weiß, wie die Kategorisierung von Arbeitslosen in der Praxis eigentlich abläuft. So kann die Frage nach konkreten Angaben zur Einordnung nicht beantwortet werden, weil "nach Aussagen der BA umfangreiche Auswertungen und Analysen erforderlich" wären, "die der BA nicht vorliegen", oder weil eine detaillierte Zusammenstellung der angefragten Daten, "umfängliche Auswertungen und Analysen" voraussetzt, "die in der für die Beantwortung der Kleinen Anfrage zur Verfügung stehenden Frist nicht zu leisten ist." (16/1085, S.3). Ohne Kenntnis der realen Abläufe, lässt sich natürlich leicht behaupten, dass alles "korrekt" abläuft.

Solches Herangehen wählt die Bundesregierung immer dort, wo Kritik an der Praxis der BA laut wird. Da die Kategorisierung der Arbeitslosen, "von den Vermittlungsfachkräften der Agenturen für Arbeit getroffen" wird (16/1085, S.2), gibt es für die Bundesregierung kein Mobbing, keine Diskriminierung, keine Gesetzverstöße durch die maßgeblichen Vermittlungskräfte. Kein Wunder - sie weiß ja nichts Genaues (vgl. oben). Laut " Aussage der BA" läuft grundsätzlich alles richtig (16/1085, S.4), obwohl die BA aufgrund fehlender Detailkenntnis gar keine konkreten Angaben machen kann.

Natürlich weiß sie schon, was sie da tut. Geht es z.B. um die Möglichkeiten für die Betroffenen, Einfluss zu nehmen auf ihre Eingruppierung, so werden zunächst die üblichen Behauptungen aufgestellt, dass hier "einvernehmlich" eine sog. "Zieloption" ermittelt wird. Doch ist dies alles Augenwischerei. Denn bei "abweichenden Einschätzungen wird die Zieloption festgelegt, die von der Vermittlungsfachkraft als aussichtsreichste eingeschätzt und somit von der Agentur der Arbeit auch sinnvoll unterstützt werden kann." (Drucksache 18/1085). Die BA hat also immer Recht. Gegen Diskriminierung von dieser Seite wird der oder die Betroffene von der Regierung bewusst rechtlos gestellt. Die Bestimmungen der Sozialgesetzgebung zur Arbeitslosigkeit sind zu einem Feld reiner Absichtserklärungen geworden, die nicht mehr durch rechtstaatliche Konfliktbeseitigung gelöst werden sollen. Statt die Menschenwürde auch und gerade bei Arbeitslosigkeit zu schützen, stellt der Gesetzgeber ein rechtliches Instrumentarium zur Verfügung, um die Menschenwürde des Arbeitslosen zu verletzten und im Extremfall sogar völlig absprechen zu können.

Dies enthüllt die von oben abgesegnete Kategorisierung von Arbeitslosen sehr anschaulich. Die vier, als offizielle und bindende sog. "Handlungsanweisungen" vorgegebenen, Kategorien der Zuordnung sind im Folgenden benannt. Bei ihnen soll - völlig abweichend vom Gesetzestext - durch Zwangsgespräche ermittelt werden, ob die Integrationschancen des Arbeitssuchenden durch "Fördern" oder (!!) "Fordern" (Anm.: oder auch gar nicht) "verbessert werden können" (16/1085, S.2). Konkret gibt es als Kategorien bei Arbeitslosigkeit:

  • Das sog. "Marktprofil" (Fordern und begrenztes Fördern, "sofern die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind und eine berufliche Eingliederung ermöglicht wird" (16/1085, S.5)
  • Das sog. "Beratungsprofil aktivieren" (Fordern als maßgebliche Form des "Förderns")
  • Das sog. "Beratungsprofil fördern" (Fördern möglich, z.B. durch Eingliederungs- und Mobilitätshilfen, Umschulung usw.)
  • Das sog. "Betreuungsprofil" (bei dem - nach eigenen Angaben - angeblich "weder durch "Fördern" noch durch "Fordern"" der oder die Betroffene "schneller" in den Arbeitsmarkt "integriert werden kann" (16/1085, S.4).

Im Hinblick auf SGB III §7, was die Leistung der aktiven Arbeitsförderung unter dem "Grundsatz der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit" stellt, ergibt die Kategorisierung, dass die unter Kategorie 4 subsumierten Betroffenen gar keine Förderung mehr erhalten. Klar, dass Langzeitarbeitslose, die unter SGB II fallen, völlig abgeschrieben werden und das Geld eher zugunsten Betroffener der Kategorie 3 ausgegeben wird.

Das wirklich Teuflische besteht jedoch darin, dass durch Zwang der oder die Betroffene gezwungen werden soll, die Daten erst zur Verfügung zu stellen, damit eine möglichst einfache Kategorisierung vorgenommen werden kann. Die Beurteilungskriterien, "Engagement/Motivation", "Fähigkeiten/Qualifikation", "Hemmnisse" und "spezifische Arbeitsmarktbedingungen" (16/1085, S.2), sind bis auf den letzten Punkt völlig unbestimmt und öffnen subjektiver Willkür Tür und Tor.

Faktisch wird in den ersten drei Punkten ein asoziales Menschenbild vermittelt. Denn genau betrachtet würde aus sozialer Sicht, fehlende Motivation ein besonders hohes Maß an Förderung erfordern, würden "Hemmnisse" (was auch immer damit gemeint ist) ein zu starkes Fordern verbieten; würden fehlende "Qualifikation" an den Interessen des Betroffenen orientierte Fortbildung erfordern usw. Tatsächlich ist es genau umgekehrt: Es werden nur die gefördert, welche es am wenigsten brauchen. Wer Förderung benötigt wird umgekehrt in die "untersten" Kategorien gesteckt.

Warum dieses Verfahren angewendet wird, enthüllt das letzte Kriterium, die "spezifischen Arbeitsmarktbedingungen". Die BA folgt den Interessen der Wirtschaft mit einer Art sozialdarwinistischen Auslese. Was ist noch brauchbar für den Profit bei den Arbeitslosen? Der Rest wird gedrückt, unterdrückt, abgeschrieben oder gar durch extremes Fordern in den existenziellen Untergang getrieben.

So verzichtet die BA bei dem sog. "Betreuungsprofil" nicht etwa auf das Fordern, obwohl dies - nach eigenen Angaben (vgl. oben) - gar nicht zur schnelleren Integration in den Arbeitsmarkt beitragen kann. Das Fordern dient hier offensichtlich der gesellschaftlichen Ausgliederung. Wenn schon nichts an billiger Arbeitskraft zu holen ist, so soll der oder die Betroffene wenigstens von jeglichem Anspruch auf Unterstützung durch Sanktionen abgeschnitten werden.

Aber auch bei den "zu aktivierenden" Arbeitslosen der Kategorie 2 geht es primär um Leistungskürzung. So soll nach den Plänen zu einem sog. "SGB II-Optimierungsgesetz" noch mehr als bisher, die Arbeitsbereitschaft unabhängig von den Interessen der Betroffenen überprüft werden. Wiederum sozial betrachtet, lässt sich in Wahrheit gar keine Arbeitsbereitschaft ohne die Möglichkeit einer existenzsicheren Arbeit überprüfen. In Wahrheit soll durch Zwang Unterwerfung und bedingungslose Gefolgschaft durchgesetzt und eingeübt werden. Das nicht systemkonforme Selbstbewusstsein soll gebrochen werden. Den ideologischen Hintergrund für dieses Vorgehen, enthüllen die Forderungen der Arbeitgeberverbände und Kapitalvertretungen.

Mit ihrem sog. "Arbeitspapier" mit dem Titel "Mehr Chancen am Arbeitsmarkt - Für einen besseren Einstieg Arbeitsloser" legte z.B. die Deutsche Industrie und Handelskammer (DIHK) ihre Vorstellung zur Arbeitsmarktpolitik vor (2). Ganz rigoros behauptet darin die DIHK: "Denn Fakt ist: Viele Arbeitslose haben auf dem Arbeitsmarkt nur zu geringeren Löhnen, als sie derzeit gezahlt werden, eine Chance" (2, S.13). Entsprechend soll, nach Ansicht der DIHK, auch die Arbeitsmarktpolitik gestaltet werden.

Dabei geht es der DIHK nicht nur um Arbeit zu Hungerlöhnen, d.h. "Stundenlöhne von zum Beispiel 3 oder 4 Euro" (2, S.7) oder gar völlig umsonst in Gestalt "unbezahlter betrieblicher Praktika (ohne Arbeitsvertrag)" (2, S.10), sondern vor allem um Subventionierung der produktiven, Wert schaffenden Arbeit aus Geldern der Sozialkassen. Denn "Beschäftigung in der Privatwirtschaft" sollte, laut DIHK vor Arbeit für das Allgemeinwohl, "immer Vorrang haben" (2, S.9). Dazu sollte ein "Perspektivwechsel" gewagt werden: "Erst Arbeit, dann Transfer" (2, S.6), lautet die Parole.

Zwar flaniert die DIHK zur Durchsetzung ihrer Forderung nach mehr Zwang gegen Arbeitslose, für möglichst geringe "Belastung der Gemeinschaft", der viel beschworenen "Steuerzahler" (2, S.7), verlangt von dieser Gemeinschaft allerdings, dass sie ihrem Wunsch nach subventionierter billiger Arbeit unwidersprochen nachkommt. Denn was, laut DIHK, deren Klientel nicht zahlen will, soll aus Steuergeldern oder aus der Sozialkasse gezahlt werden.

Der eigentliche "Perspektivwechsel" besteht somit für die DIHK in einer Abkehr vom Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes. Statt Förderung von Arbeitslosen, sollen diejenigen gefördert werden, welche mit ihrer verschrobenen und historisch überholten Wirtschaftsideologie gerade Arbeitslosigkeit verursachen - und das mit Geldern, welche gerade für soziale und nicht profitorientierte Wirtschaftsinteressen reserviert sein sollten.

Mit ihrer Unterteilung der Opfer von Arbeitslosigkeit in förderungs- und nicht förderungswürdig, kommt die Bundesregierung solchen Wünsche, wie die der DIHK, willig entgegen. Wo nicht durch Fördern das Interesse an möglichst billigen Arbeitskräften bedient werden kann (Kategorie 3), wird die Unterwerfung unter das wirtschaftspolitische Diktat der Arbeitgeberverbände eben gefordert (Kategorie 1 und 2). Wo selbst das Fordern nicht mehr so recht hilft (Kategorie 4), fordert man trotzdem so lange bis der oder die Betroffene irgendwohin verschwinden, d.h. nichts mehr kosten. Wichtig ist für diese Politik nur, dass sie sich selbst vor jeder möglichen Kritik oder gar Schuldzuweisung durch geschicktes Taktieren unangreifbar macht. Der Arme soll selbst schuld an seiner Armut sein.

Entrechtung und der Verweis der politisch Verantwortlichen auf ihre Unkenntnis darüber, was da in den Agenturen wirklich abläuft, sind nur zwei Seiten der gleichen Strategie. Der Hinweis auf die Qualifikation und Weiterbildung der "Vermittlungskräfte() der Agenturen" (16/1085), soll eine gesetzlich fixierte Möglichkeit der Arbeitslosen, sich gegen Mobbing, Diskriminierung und Rechtsbrüche durch diese "Vermittlungskräfte" erfolgreich zu wehren, ersetzen. In keinem Bereich gesellschaftlicher Rechtsetzung, wird so extrem die reine Absichtserklärung an die Stelle juristischer Klärung gesetzt, wie bei Arbeitslosen (einzige Ausnahme: Ausländer). Weil es nichts juristisch zu klären gäben soll, bzw. weil ja - wie der frühere Bundeskanzler erklärte - Arbeitslose potenziell immer "faul" sind, braucht der oder die Arbeitslose auch nicht die gleichen Rechte wie z.B. das "fleißige" Kapital.

Allerdings zeigt das Kategorisierungsschema der BA auch, dass Verfassung und Wirtschaft in ihren Gegensätzen immer offensichtlicher werden.

So besteht, nach gängiger Staatsrechtslehre, der Wert der Grundrechte in der Verfassung, sowohl in Teilhabe- als auch in Abwehrrechten, wobei die Abwehrrechte die historisch ursprüngliche Rolle der Grundrechte sind (vgl. z.B. Frotscher / Pieroth, "Verfassungsgeschichte", München, 2005). Gleichberechtigt teilnehmen dürfen Arbeitslose schon lange nicht mehr und die herrschende Politik, welche eigentlich für die Durchsetzung einer gleichberechtigten Teilnahme verfassungsrechtlich verantwortlich wäre, kommt ihrer Aufgabe im Interesse der Wirtschaft nicht nach. Die Rekorddividende der deutschen Dax-Unternehmen 2005 von 21 Milliarden reicht denen, die ohne Arbeit so problemlos Kohle machen können, natürlich noch lange nicht. Bleibt also nur noch bei Arbeitslosigkeit die Möglichkeit, sich wieder mehr auf die Abwehrfunktion der Grundrechte zu besinnen.

Die Abwehr beginnt bereits dort, wo sich der Staat anmaßt, die eigene Person in irgendeinen Topf zu stecken. Wie sollte eine Politik, die das Sozialstaatsgebot aus ihrer Ideologie gestrichen hat, noch Gesetze machen, die dem Grundgesetz entsprechen? Da wird zwar viel juristisch getrickst, doch der Grundtenor ist unverkennbar. Wie lautete das Motto der sog. "Wertekonferenz" der CDU in Mainz am 7.Januar doch gleich? "Unser Ziel: Neue Gerechtigkeit durch mehr Freiheit« (dpa). Die einzige "Gerechtigkeit", welche die herrschende Politik demnach noch anstrebt, ist die Freiheit zur Ausbeutung der Arbeitskraft und zur Unterordnung sämtlicher Grundrechte unter die Kapitalinteressen.

Wer heute den Staat abwehrt, verteidigt sich deshalb nicht nur selbst, sondern macht auch das, was das Grundgesetz mit Artikel 79 (3) verfassungsrechtlich von Demokraten eigentlich fordert: Gerade die Artikel des Grundgesetzes (konkret: Art. 1 "Menschenwürde", Art. 20 "Demokratie und sozialer Rechtsstaat"), deren Änderung unzulässig sein soll, werden im Interesse einer asozialen und demokratiefeindlichen Wirtschaftsideologie Stück für Stück von der herrschenden Politik demontiert. Während diese versucht bei Arbeitslosen das Selbstbewusstsein zu zerstören, stärkt der Widerstand gegen dieses demokratiefeindliche Unterfangen allerdings das Selbstbewusstsein. Die herrschende Ideologie kann nicht als Weltbild für die eigene Lebensgestaltung genommen werden, da der Arbeitslose als Mensch mit eigenen Wünschen, Hoffnungen und Bedürfnissen darin gar nicht vorkommt.

Anmerkungen

1)  http://dip.bundestag.de/bfd/16/010/1601085.pdf externer Link pdf-Dateiupdated

2)  Das Arbeitspapier der DIHK im PDF Format externer Link pdf-Datei


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