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Updated: 18.12.2012 15:51
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Antonín Dick

Zur Sprache der vollständigen Okkupation des Individuums
Die Bundesagentur für Arbeit und die Produktion „marktfähiger“ Individuen

„Die Erde an sich – sosehr sie Hindernisse darbieten mag,
um sie zu bearbeiten, sich wirklich anzueignen – bietet
kein Hindernis dar, sich zu ihr als der unorganischen
Natur des lebendigen Individuums, seiner Werkstätte, dem
Arbeitsmittel, Arbeitsobjekt und Lebensmittel des Subjekts
zu verhalten. Die Schwierigkeiten, die das Gemeindewesen
trifft, können nur von andren Gemeindewesen herrühren,
die entweder den Grund und Boden schon okkupiert haben,
oder die Gemeinde in ihrer Okkupation beunruhigen. Der
Krieg ist daher die große Gesamtaufgabe, die große
gemeinschaftliche Arbeit, die erheischt ist, sei es um die
objektiven Bedingungen des lebendigen Daseins zu
okkupieren, sei es um die Okkupation derselben zu
beschützen und zu verewigen.“

Karl Marx: Formen, die der kapitalistischen Produktion
vorhergehn, in: Grundrisse der Kritik der Politischen
Ökonomie, Berlin 1953, Seite 378

Schaut man sich die gegenwärtige Sprache der Herrschenden in der Bundesrepublik an, so möchte man glauben, wir würden jetzt in eine Epoche eintreten, in der es einzig und allein um eine Okkupation der subjektiven Bedingungen des lebendigen Daseins gehen würde, kurz gesagt, um die vollständige Okkupation des Individuums, der letzten Domäne der Freiheit. Mehr noch, es scheint so, als würde die Arbeit selbst mehr und mehr den Charakter eines Krieges annehmen. Aus der Formel „Krieg gleich Arbeit“, die Marx für archaische Gesellschaften entwickelte, droht nun die Formel „Arbeit gleich Krieg“ Wirklichkeit zu werden. Soziale Regression mitten im Hochkapitalismus?

Auf dem Pressetreff von infoRADIO Berlin-Brandenburg am 01. 02. 2004, auf dem es um die Modernisierung von Wirtschaft und Arbeit im Land Brandenburg ging, brach es aus dem Munde des Brandenburgischen Ministerpräsidenten Matthias Platzeck urplötzlich hervor: „Klotzen, nicht kleckern!“ Diese Redewendung stammt aus den Vernichtungsfeldzügen der Deutschen Wehrmacht. Erstmals im „Blitzkrieg“ Nazideutschlands gegen Holland, Belgien und Frankreich rief der Erfinder dieser berüchtigten Devise, der General der deutschen Panzertruppen Heinz Guderian, den angriffsbereiten Wehrmachtsangehörigen zu: „Klotzen, nicht kleckern!“. Im weiteren Verlauf jenes Pressetreffs steigerte sich Platzeck noch dadurch, daß er den Chefs von Wirtschaft und Arbeit zurief, dass man sich an die Front werfen müsse. Zu den jetzt ruchbar gewordenen Plänen der Bundesagentur für Arbeit, Arbeitslose zu zwingen, detaillierte Angaben zur familiären Situation, zur Wohnsituation, zur Mitgliedschaft in Vereinen und Organisationen, zum Gesundheitszustand, zu Freunden und Nachbarn zu machen, sagte eine Sprecherin des Bundesministers für Wirtschaft und Arbeit Wolfgang Clement (nachzulesen in „Arbeitslose sollen über Privates Auskunft geben“ / Tagesspiegel vom 23. 05. 2005, Seite 15): „Es handelt sich um eine ganz normale Methode für die zielgenaue Betreuung.“ Zielgenau? Das klingt wie ein Bombenabwurf auf ein arbeitloses Individuum zum Zweck seiner „Wiedereingliederung“.

Im sogenannten Fachkonzept „Beschäftigungsorientiertes Fallmanagement im SGB II“, herausgegeben von Rainer Göckler, Mitarbeiter des Zentralbereichs S / S 21 der Bundesagentur für Arbeit, heißt es über das arbeitslos gewordene Individuum, das wegen drohenden Hungers an die strengbewachten Tore der Arbeitslosenbürokratie klopft und nach dem „Zugang“ unversehens zum „Fall“ wird: „Der Fall wird diagnostiziert und durchleuchtet, vergleichbar mit der Erhebung relevanter Daten im Krankenhaus, beim Therapeuten oder beim IT-Techniker " (ebenda, Seite 21) und in die Form einer umfassenden „Anamnese“ (ebenda, Seite 21) gegossen. Die „Therapie“ kann beginnen. Wer außer Hunger noch irgendeinen Funken Gefühl der eigenen Würde im Leibe verspürt und darauf pocht, kein therapierbarer „Fall“ zu werden, womöglich noch diesen ganzen permanenten Kriegszustand einer postfaschistischen Arbeitsgesellschaft aus Gewissensgründen ablehnt, wird in den Augen des Fallmanagers unweigerlich zum Vertreter „fatalistischer Lebenseinstellungen“ (ebenda, Seite 7) mit den entsprechenden „Folgen“ (ebenda, Seite 15). In der Sprache des Dritten Reiches wurden solche Zweifler im markigen Lutherdeutsch als „Miesmacher“ denunziert. Im blutleeren Erkennungsdienstdeutsch des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR wiederum hießen Zweifler und Andersdenkende aller Art „feindlich-negative Kräfte“.

Das von Marx postulierte „lebendige Individuum“ hat unter heutigen gesellschaftlichen Bedingungen nur zwei Möglichkeiten der Existenz: mf oder nicht mf: „marktfähig“ (ebenda, Seite 13) oder nicht „marktfähig“, und letztere Möglichkeit wird mittels eines bizarren Psychoidioms wie folgt interpretiert: „Arbeit ist biographiediskrepant oder sogar biografiekonträr“ (ebenda, Seite 7). Der Rest ist Leben. Aber nicht mehr lange.

Wer nicht mf ist oder dies vorspiegelt zu sein („Inszenierungstaktiken“, ebenda, Seite 23), ist ein zu therapierender „Kunde“ der Bundesagentur für Arbeit, der mit hohem, „hoheitlichem“ (ebenda, Seite 4) Druck, bis hin zum lebensbedrohlichen Entzug von Arbeitslosengeld II, zu rechnen hat, d. h. „der sich damit (...) der erheblichen Sanktionsmacht der Fallmanagerin beugt“ (ebenda, Seite 21). In den beiden Weltkriegen gab es bekanntlich ebenfalls nur zwei Existenzmöglichkeiten für das lebendige Individuum: kv oder nicht kv, „kriegsverwendungsfähig“ oder nicht „kriegsverwendungsfähig“, und nach dem Willen der kriegführenden Herrschenden durfte der kv-Anteil an der Gesamtbevölkerung selbstredend nicht sinken, und es wurde drakonischer Druck ausgeübt, um die Bereitschaft zu erpressen, das Leben herzugeben. Doch selbst der Tod schützte das Individuum nicht mehr vor dem Krieg, wie der Kriegsteilnehmer und Dichter Bert Brecht in seiner „Legende vom toten Soldaten“ nachwies, indem er berichtete, wie eine „ärztlich-militärische Kommission“ einen toten und längst bestatteten Soldaten wieder ausgrub, ihn diagnostizierte, dann feststellte, „der Soldat war k.v. und er drückte sich vor der Gefahr“ und - ihn wieder an die Front warf.

Und wie jener zur Ewigkeit verdammte Soldat werden auch wir Arbeitslosen über den Tod hinaus bedroht, fügen wir voller Verzweiflung und Zorn hinzu, denn auch jetzt, mitten im angeblichen deutschen Frieden, werden Menschen, die sterben – und kraft Hartzgesetzgebung wird nach ersten Schätzungen der Anteil der verarmten Arbeitslosen an der Gesamtzahl der Frühverstorbenen rapide ansteigen! - , nach ihrem Tod quasi wieder ausgegraben und „marktfähig“ gemacht. „Sonderermittler der AOK Niedersachsen“, schreibt Kurt G. Blüchel in seinem medizinischen Aufklärungsbericht „Heilen verboten – töten erlaubt. Die organisierte Kriminalität im Gesundheitswesen“, „deckten im Rahmen einer Stichprobe Anfang 2003 auf, daß Ärzte dieses Bundeslandes bei 140 Toten Leistungen abgerechnet haben wie bei lebendigen Patienten. Unter anderem hatte ein Mediziner aus Wilhelmshaven ‚Hausbesuche und die Erhebung eines Ganzkörperstatus’ bei einer 72-jährigen Frau abgerechnet. Das Besondere dabei: Die Frau war seit fünf Jahren tot. Doch dies sei nur die Spitze des berühmten Eisbergs, wie Klaus Altmann von der niedersächsischen AOK im ARD-Magazin ‚Panorama’ erklärte: ‚Hochgerechnet auf das ganze Bundesgebiet kommt man spielend auf mehrere tausend Tote, mit denen Ärzte noch ein Geschäft machen.’ Schon im Oktober 2000 hatte die AOK Brandenburg – ebenfalls bei einer Stichprobe! – 30 Ärzte entlarvt, die seelenruhig für längst Verstorbene über Jahre Leistungen abgerechnet haben. Dem Mitteldeutschen Rundfunk sagte die AOK-Fahnderin Martina Wolle: ‚ Es gibt immer wieder neue Ansatzpunkte, und daher überrascht mich eigentlich gar nichts mehr. Nicht einmal Massagen für Tote.’ “


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