Arbeit und Arbeitslosigkeit - das Spiel mit den Zahlen

von Wolfgang Maul

Alle große politische Aktion besteht in dem Aussprechen dessen, was ist, und beginnt damit.
Alle politische Kleingeisterei besteht in dem Verschweigen und Bemänteln, dessen, was ist.
Ferdinand Lassalle


"Trau keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast" - dieser Spruch ist den meisten Menschen vertraut und offenbart eine Erkenntnis: Mit der "Sprache der Zahlen" (Hans Zeisel) kann man fast alles beweisen. Darstellbar ist selbst das Gegenteil von dem, was die Zahlen eigentlich abbilden sollten, - das wirkliche soziale Geschehen. Am Beispiel von Daten zur Arbeit und zur Arbeitslosigkeit sollen die Möglichkeiten der Manipulation bis hin zur Praxis der Irreführung der Adressaten aufgezeigt werden. Es soll aber auch als positives Beispiel vorgestellt werden, wie in den USA in den 70er Jahren der Census Employment Survey (C.E.S.) mit Hilfe des Unterbeschäftigungsindexes das Ausmaß an Unterbeschäftigung erforschte.


Die Prosperität einer Volkswirtschaft kann ausgedrückt werden durch das Volkseinkommens, üblicherweise innerhalb eines Jahres. Ist das Jahr gut verlaufen, werden die Auguren verschiedenster Institutionen, Verbände und Parteien lauthals diese Zahl verkünden. 2.666,6 Mrd. DM wurden in Deutschland im Jahr 1996 "verdient". Dividiert durch die Anzahl aller Einwohner ergibt das den hübschen Betrag von 32.600 DM pro Einwohner. Dividiert man das Volkseinkommen durch die Anzahl aller Erwerbstätigen, dann kommt man sogar auf das staatliche Einkommen von 77.500 DM pro Erwerbstätigen.(1)
Wer würde angesichts solcher Einkommen nicht davon reden, daß Deutschland ein reiches Land sei und daß es sich offensichtlich für einen Arbeitnehmer lohne, dort zu arbeiten. Bekanntlich setzt sich das Volkseinkommen aber aus den zwei Einkommensarten "Bruttoeinkommen aus unselbständiger Arbeit (Erwerbseinkommen)" und "Bruttoeinkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen" zusammen. Nur das Erwerbseinkommen ist aber eindeutig den Arbeitnehmern zuzurechnen. 2.666,6 Mrd. DM war, wie schon gesagt, der gesamte "Kuchen" groß. Davon entfielen 1.895,2 Mrd. DM auf das Erwerbseinkommen. Nimmt man diese Zahl und dividiert sie durch die Anzahl der Erwerbstätigen (1996 = 34,421 Mio.) sinkt das Einkommen schlagartig auf 55.000 DM pro Erwerbstätigen. Fast unnötig ist es, zu erwähnen, daß nur die höhere Zahl in der Broschüre des Bundesministeriums für Wirtschaft angegeben wird. Das eindeutig zuzuordnende Einkommen der Erwerbstätigen wird auf diese Weise um 22.500 DM oder um fast 30% "geschönt".

Funktion bürgerlicher Wissenschaften - Legitimation bestehender Machtverhältnisse

Die Mathematik und auch ihr so oft mißbrauchter Sprößling - die Statistik - ist an und für sich ein völlig wertfreies und neutrales Werkzeug. Ein Werkzeug, das eifrig auch von den Sozialwissenschaftlern verwendet wird. Dieses Werkzeug in den Fängen der bürgerlichen Wissenschaft wird dort sofort zur Waffe im Kampf gegen die Wirklichkeit. Das Verhältnis der bürgerlichen Wissenschaften zur Wirklichkeit entspricht etwa dem des Christentums zur Sexualität. In ihrer Vielfältigkeit, Lebendigkeit und Kraft wird sie häufig empfunden als Bedrohung für das kunstvoll geknüpfte Netz aller Glaubenssätze. Ihre Fähigkeit, scheinbar feste, ja ewige Beziehungen sprengen zu können, weckt den Wunsch nach Zähmung und Glättung. So ist für die meisten bürgerlichen Wissenschaftler die Wirklichkeit in erster Linie nicht Quelle der Erkenntnis, sondern Mittel zum Zweck. Der vorherrschende Zweck aber ist die Legitimation bestehender Machtverhältnisse.

7 Millionen Arbeitsplätze fehlen in Deutschland

Ein weiteres Beispiel für das Spiel mit den Zahlen. Allmonatlich wird ein Ritual in Nürnberg bei der Bundesanstalt für Arbeit zelebriert. Der Präsident dieser Institution verliest den Stand der Höhe der Arbeitslosigkeit. Im Dezember 1997 gab es 4.522.000 Arbeitslose insgesamt.(2) Bezogen auf alle zivilen Erwerbspersonen wurde eine Arbeitslosenquote von 11,8% errechnet. Nur diese Zahl wurde in den Medien verbreitet. Es gibt aber auch noch eine andere Arbeitslosenquote, - die Arbeitslosenquote bezogen auf die abhängigen zivilen Erwerbspersonen. Nicht alle Erwerbspersonen unterliegen in gleichem Maße dem Risiko der Arbeitslosigkeit. Beschränkt man sich auf die abhängigen zivilen Erwerbstätigen, das heißt auf die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten (einschließlich Auszubildende) plus geringfügig Beschäftigte plus Beamte (ohne Soldaten) und läßt die Nichtabhängigen, das heißt die Selbständigen und ihre mithelfenden Familienangehörigen außen vor, steigt die Arbeitslosenquote um 1,3% auf 13,1%. Selbst die anfangs genannte Zahl von 4.522.000 Arbeitslosen spiegelt nicht das gesamte Geschehen am Arbeitsmarkt wider. Arbeitssuchende, die nicht die strengen Kriterien der Arbeitslosigkeit erfüllen, gelten als Nichtarbeitslose Arbeitssuchende; 1.284.000 waren es im Dezember 1997. So ergibt sich eine Gesamtsumme von 5.806.000 Arbeitssuchende in diesem Monat. Um das wirkliche Ausmaß an Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung deutlich zu machen, müssen noch folgende Gruppen hinzugerechnet werden: Kurzarbeiter (120.000), Arbeitnehmer in Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung (137.000), Teilnehmer an Maßnahmen zur beruflichen Förderung (380.000) und Eintritte in Maßnahmen zur beruflichen Förderung (32.000). So ergibt sich die Zahl von 6.475.000 offiziell registrierter Menschen, die in irgendeiner Form von Arbeitslosigkeit oder Mangel an Arbeit betroffen sind oder aus anderen Gründen Arbeit suchen.
Offiziell registrierte Menschen - also gibt es auch nicht registrierte Menschen, die aber trotzdem Arbeit suchen. "Stille Reserve" nennt man sie. Über ihre Zahl und über die statistischen Möglichkeiten, sie überhaupt zu erfassen, streiten sich die Experten. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesanstalt für Arbeit kam schon Anfang 1997 zu dem Schluß: "Alles in allem fehlen in Deutschland - je nachdem wie man rechnet - 5 bis 7 Mio. wettbewerbsfähige Arbeitsplätze".(3)

Der Unterbeschäftigungsindex des Census Employment Survey (C.E.S)

Wir haben anhand von Beispielen - die mühelos mit anderen Zahlen fortgeführt werden könnten - gesehen, daß Arbeitslosigkeit nur die Spitze des Eisberges darstellt. Unterbeschäftigung in seinen vielfältigen Formen - nicht nur in der Form der Arbeitslosigkeit - ist ein grundlegendes Merkmal kapitalistischer Gesellschaften. Wir haben weiterhin gesehen, daß Kompanien von Mathematikern und Statistikern damit beschäftigt sind, Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung "schönzurechnen" oder "wegzudefinieren". Die offizielle Arbeitsmarktstatistik ist eher ein politisches Kampfinstrument der herrschenden Klasse, als ein wissenschaftlicher Beitrag, um die Wirklichkeit zu erkennen, oder sie sogar zum Nutzen der Mehrheit der Menschen zu verändern. 1970 gab es eine Volkszählung in den USA. Im Verlaufe dieser Volkszählung wurde versucht, mit Hilfe eines Fragebogens die Beziehung zwischen Armut und Arbeitsmarkt sorgfältig zu messen. Dieser Census Employment Survey (C.E.S.) führte zu einer wichtigen Erkenntnis:
"Das Unvermögen des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Systems, die Menschen mit angemessenen Löhnen zu versorgen, ist unter der Oberfläche der herkömmlichen Arbeitslosenstatistiken nicht zu erkennen. [...] Um das Ausmaß des Arbeitsmarktversagens messen zu können, ist es notwendig, nicht nur die Größenordnung der offenen Arbeitslosigkeit zu kennen, sondern auch das Ausmaß der Entmutigung der Arbeitnehmer ('entmutigte' Arbeitnehmer sind solche, die die Suche nach Arbeit aufgegeben haben), die Zahl der Menschen, die nur Teilzeitarbeit finden können, sowie die Zahl derer, die Arbeit haben, aber nicht angemessen bezahlt werden. Der Unterbeschäftigungsindex versucht alle diese Faktoren einzubeziehen."(4)

Ein Unterbeschäftigungsindex sollte das wahre Ausmaß von sozialer Not bis hin zur Armut getreuer abbilden, als es die dürren Zahlen der üblichen Arbeitsmarktstatistiken vermochten. Zu dieser Zeit - 1970 - befand sich Amerika am Ende einer wirtschaftlichen Aufschwungphase, wie es sie in der Geschichte noch nie gegeben hatte. Begonnen hatte das lang anhaltende wirtschaftliche Wachstum Ende der dreißiger Jahre. Eine aktive staatliche Arbeitsmarktpolitik verbunden mit zusätzlichen Nachfrageimpulsen durch Kriegsvorbereitungen und den darauffolgenden Krieg hatte die amerikanische Wirtschaft zu einer wahren "job machine" werden lassen. Die Arbeitslosenzahlen sanken auf historische Tiefstände. 1970 lag die offizielle Arbeitslosenrate für das ganze Land bei (sehr niedrigen) 4,9 Prozent der Erwerbstätigen. Die Wissenschaftler des C.E.S. mißtrauten der Aussagekraft dieser hoch aggregierenden und nivellierenden Zahl. Denn die Menschen lebten nicht gleich verteilt im Land, nicht überall gab es große zusammenhängende Produktions- und Absatzgebiete und die Arbeitslosigkeit war nicht überall gleich hoch. So untersuchten sie die "kapitalistischsten" Gebiete im kapitalistischen Amerika - die großen städtischen Industriegebiete, unter anderem auch die in New York City.

"[...] In den vom C.E.S. untersuchten Innenstadtzonen betrug die Arbeitslosenrate 1970 9,6 Prozent. Das ist sehr hoch. [...] Doch so hoch sie hier auch ist, die Beschäftigungsquote allein läßt nicht im entferntesten das volle Ausmaß der städtischen Krise sichtbar werden. [...] Sie [die offizielle Definition von Arbeitslosigkeit, W. M.] berücksichtigt nicht diejenigen, die die Suche nach Arbeit aufgegeben haben, nachdem sie wiederholt erfolglos gesucht haben.
Wie viele dieser entmutigten 'Nichtsucher' gibt es? Der C.E.S ermöglicht uns eine verläßliche Schätzung. Beispielsweise betrug im Jahre 1970 die konventionelle Arbeitslosenquote in New York City durchschnittlich 8,1 in den untersuchten Zonen (verglichen mit 4,4% für die Erwerbsbevölkerung der gesamten Stadt), schnellte aber hoch auf 11%, als die entmutigten Arbeitnehmer hinzugerechnet wurden."
(5)

Man erkennt jetzt, wie die offiziellen Zahlen das soziale Problem verschwiegen und bemäntelt haben: Dort, wo die kapitalistische Wirtschaft ihre Hochburgen hatte, dort, wo die Menschen lebten, die hauptsächlich auf die Arbeitsplätze in den kapitalistischen Industrien angewiesen waren, dort konnten 11% aller Erwerbstätigen ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten mit ihrer Hände Arbeit. Fast dreimal so viel, wie - aufgrund anderer Abgrenzungen, Durchschnittsbildungen und Zuordnungen - offiziell ermittelt wurde.

"Diese Berichtigung beginnt uns eine Vorstellung von den Realitäten des wirtschaftlichen Lebens am Boden der sozialen Struktur der Großstadt zu geben. Doch müssen wir nun eine weitere Kategorie hinzuzählen - die der Teilzeitbeschäftigung, die gerne ganztags arbeiten würden, aber keine Vollzeitarbeitsplätze finden. Im Bericht des C.E.S. wird sorgfältig unterschieden zwischen Personen, die lediglich halbtags arbeiten wollten, und denen, die ganztags arbeiten wollten, auf diese Weise werden weitere 2,3 Prozent zu unserem sich herausbildenden Index der städtischen Armut hinzuaddiert. Mit anderen Worten: wenn wir die offiziellen und die entmutigten Arbeitslosen und die unfreiwilligen Teilzeitbeschäftigten zusammenrechnen, so kommen wir nun auf mindestens 13,3% der Erwerbsbevölkerung in den Stichprobenzonen der Stadt New York."(6)

Eindrucksvoll hat der C.E.S. bewiesen, wie gegenüber den offiziellen Arbeitslosenzahlen die Arbeitslosigkeit in den ausgewählten Regionen sich fast verdoppelt und gegenüber der nationalen Arbeitslosenquote sich fast verdreifacht hat. Der Unterbeschäftigungsindex wäre aber nicht vollständig, wenn nicht noch eine Gruppe von Erwerbspersonen berücksichtigt würde: Diejenigen, die zwar Arbeit haben, Vollzeitbeschäftigte, die aber mit dieser Arbeit nicht genug verdienen, um damit auskommen zu können. Die Wissenschaftler ermittelten aus verschiedenen Annahmen (7.183 $ für eine 4-köpfige Familie, 40 Stunden Arbeit pro Woche, 50 Wochen pro Jahr) einen Stundenlohn von 3,50 $ als notwendig für den Unterhaltsverdiener, um damit 1970 in New York "auskommen zu können".

"[...] Hier haben wir das letzte Glied in unserer Kette von Beschäftigungsstatistiken. Denn wenn wir alle jene Personen, die weniger als 3,50 Dollar pro Stunde verdienen, zu den entmutigten 'Nichtsuchern', den unfreiwilligen Teilzeitbeschäftigten und den offiziellen Arbeitslosen hinzurechnen, so machen die Statistiken einen erschreckenden Sprung. In den sieben untersuchten Zonen der Stadt New York steigt die Unterbeschäftigungsrate auf zwischen 39,9 und 66,6 Prozent der Erwerbsbevölkerung an. Tatsächlich beläuft sich der Durchschnitt aller untersuchten Gebiete des Landes auf 61,2 Prozent."(7)

Ein wahrhaft erschreckendes Ergebnis einer Untersuchung, deren Verfasser ein soziales Problem mit Zahlen nicht zudecken, sondern entdecken wollten. Nicht die Anpassung der Wirklichkeit an gewünschte Zahlen war ihr Ziel, sondern die Anpassung ihrer Untersuchungsmethoden an die soziale Wirklichkeit. Ihre Zahlen "sprachen" eine deutliche Botschaft: Akkumulation von Reichtum auf der einen Seite - bei den Kapitalbesitzern - bedingt Akkumulation von Elend auf der anderen Seite - bei denen, die nur über ihre Arbeitskraft verfügen.


(1) Alle Zahlen diese Absatzes aus: Bundesministerium für Wirtschaft (Hrsg.): Wirtschaft in Zahlen '97, S. 26 (Tabelle 2.1.1 Volkseinkommen)

(2) Diese und die folgenden Zahlen des Absatzes aus: ANBA Nr. 2/1998

(3) Autorengemeinschaft: Der Arbeitsmarkt 1996 und 1997 in der Bundesrepublik Deutschland. Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt und Berufsforschung (MittAB) 1/97, S. 5-36 (dort S. 7)

(4) Artikel im New York Times Magazine (5. Nov. 1972) über die Krise der "Unterbeschäftigten", zit. nach: Harry Braverman: Die Arbeit im modernen Produktionsprozeß. Campus Verlag, Frankfurt / New York 1977 (die amerik. Originalausgabe "Labor and Monopoly Capital. The Degradation of Work in the Twentieth Century" erschien 1974 bei Monthly Review Press, New York und London), S. 303

(5) a.a.O.

(6) a.a.O., S. 304

(7) a.a.O.


Wolfgang Maul: Arbeit und Arbeitslosigkeit - das Spiel mit den Zahlen
Nürnberg 27. 3. 1998
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