aus express 9/99, Zeitung für Betriebs- und sozialistische Gewerkschaftsarbeit
Auf einer Tagung des Diakonischen Werks Bayern Mitte September in Nürnberg trafen sich neben SozialpolitikerInnen und AmtsinhaberInnen vor allem Organisationen und Beschäftigte des sogenannten 2. Arbeitsmarktes. Das Motto der Tagung „Strategien für mehr Beschäftigung, neuer Mut zu neuer Arbeit" war freilich eher ein Versuch in Sachen Öffentlichkeitsarbeit seitens der Beschäftigungsbetriebe, die bekanntlich vorwiegend aus Mitteln des Arbeitsamtes und der Sozialhilfe gespeist werden. Der allgemeine Trend der Aussagen bestätigte die Tendenz einer weiteren Deregulierung des Arbeitsmarktes, zum Abbau von Tarifstandards und beschäftigte sich mit dem Fetisch der „Selbständigkeit durch sogenannte Existenzgründungen". Dass damit Abhilfe von Not und Armut für die steigende Zahl von Arbeitslosenhilfe- und SozialhilfeempfängerInnen geschaffen würde, glaubte ernsthaft wohl niemand.
Gegen den genannten Trend formulierte Günther Schedel-Gschwendtner, Mitglied im Ausschuss für Angestellte und Tarifpolitik der GEW Bayern und Leiter des Sozialpädagogischen Büros der GEW Franken, einige Thesen, die wir im folgenden in überarbeiteter Fassung dokumentieren. Dabei geht es auch um das Verhalten der Kirchen, Wohlfahrtsverbände und Weiterbildungsträger als Arbeitgeber:
Lohnnebenkosten, d.h. eigentlich Risikokosten der Marktwirtschaft, sind in den letzten 20 Jahren so gestiegen, dass Arbeitnehmereinkommen real um 1,7 Prozent gefallen sind. Diese Kosten sind systembedingt und werden doch nur einem Teil von Arbeitgebern und ArbeitnehmerInnen als Sozialversicherungsbeiträge abverlangt: Immer weniger Geldbeutel unterhalten immer mehr Arbeitslose, Rentner, Kranke etc. Zahllos sind die Versuche, die Sozialversicherungspflicht zu umgehen. Illegale Beschäftigung wie Schwarzarbeit, halblegale wie Scheinselbständigkeit und (bis April ‘99) geringfügige Beschäftigung und legale wie die Sozialversicherungsfreiheit von PolitikerInnen, BeamtInnen und der meisten Selbständigen haben dazu geführt, dass diese Kosten immer einseitiger verteilt wurden, wobei die Leistungen für die Versicherten gleichzeitig verschlechtert wurden.
Auch die neue Bundesregierung hat es geschafft, die 630-DM-Jobs bürokratisch perfekt abzukassieren, aber die Diäten, Beamten- und Selbständigengehälter von Sozialbeiträgen freizuhalten. Dabei sind die Nettogewinne gerade dieser Gruppen offensichtlich.
Ein erstes Gebot ist es daher, die sozialen Kosten der Marktwirtschaft auf alle Erwerbstätigen sozial ausgewogen zu verteilen und damit Solidarität innerhalb der Gesellschaft allererst herzustellen. Denn die Sozialversicherung ist vom Prinzip her ein auf Selbsthilfe und sozialen Ausgleich orientiertes System inmitten einer hemmungslosen Konkurrenzwelt. Allerdings ist gesellschaftliches Vertrauen in dieses System durch die jahrzehntelange Politik der Zweckentfremdung und Ausbeutung dieses ‘Sozialtrusts’ erheblich gestört. Um Ausfallleistungen für die Opfer der Marktwirtschaft auch nur in Höhe der bloßen Existenzreproduktion zu garantieren, brauchen wir inzwischen die Beiträge aller, vor allem die der höheren Einkommen.
Allen Verfechtern eines Niedriglohnsektors (Kombilohn, Korridor etc.) sei es gesagt: Es gibt ihn bereits, und zwar sogar tariflich, vom Geschlecht her: weiblich!
Und er ist weit entfernt etwa von dem im Baugewerbe ausgehandelten verbindlichen Mindestlohn von z.Z. 18,50 DM bei 39 Stunden! An dieser Stelle sei angemerkt, dass auch das Diakonische Werk Bayern vor kurzem mit Hilfe der Arbeitsrechtlichen Kommission eine Absenkung der Einkommen von sog. einfachen Tätigkeiten unter das Existenzminimum beschlossen hat.
Originäre Aufgabe der Gewerkschaften ist es aber, Tarifverträge so abzuschließen, dass ihre Mitglieder davon leben können, also nicht niedriger als das Existenzminimum. Was für die Arbeitsverhältnisse gilt, kann bei den sog. Lohnersatzleistungen nicht anders gesehen werden: Statt ständig sinkender Bezüge für Arbeitslosengeld, Krankengeld, Unterhaltsgeld etc. brauchen wir auch hier einen Sockel, der von Zuzahlungen von Sozialhilfe (zum Lebensunterhalt) generell unabhängig macht. In der Rentenversicherung ist diese Mindestsicherung wenigstens geplant.
Während das Arbeitslosengeld einmal bei 70 Prozent und das Krankengeld bei 90 Prozent des Nettolohns lag, ist heute gerade bei Langzeitarbeitslosigkeit häufig ergänzende Sozialhilfe fällig, die vom Bund auf die Kommunen abgewälzt wird. Auch die politisch gewollte Unterfinanzierung von ABM-Jobs (75 – 90 Prozent von 80 Prozent des Tariflohns) wirkt kontraproduktiv auf die Tariflöhne, die für die unteren Lohngruppen wenigstens das Existenzminimum sichern müssen.
Aber wie? Sicher nicht in der Form der BAT-Abschlüsse der letzten Jahre. Tarifpolitik muss sich davon verabschieden, besserverdienende Gruppen bedienen zu wollen (lineare Lohnerhöhungen), sondern sozialpolitisch durchdachte Tarifforderungen vertreten und durchsetzen. Dazu gehören in erster Linie Festgeldforderungen, die das Existenzminimum sichern, aber auch die Möglichkeit, Zuschläge und Zulagen in Freizeitausgleich mit Freizeitzuschlägen (‘faktorisierte Arbeitszeit’) umzuwandeln, eine Ausweitung von Altersteilzeit, Sabbathjahre, Teilzeitarbeit mit Aufstockungsbeträgen etc.
Um Tarifpolitik flächendeckend zu verbessern, ist es jedoch zuallererst notwendig, die Tarifflucht zu stoppen und – nicht nur – im Sozial- und Bildungsbereich die weißen Flecken tariflich zu gestalten (z.B. bei den Kirchen, im Weiterbildungssektor, bei den Wohlfahrtsverbänden). Und auch im sozialen Bereich, nicht nur im Baugewerbe, muss die Tariftreueerklärung eines Ministerpräsidenten Gültigkeit haben.
Der Arbeitsgesellschaft gehe die Arbeit aus – dieser Formel widerspricht unsere Praxiserfahrung auch bei oberflächlichem Hinsehen. Ob in der Pflege, Erziehung oder Bildung von Menschen jeglichen Alters: Es besteht eine chronische Unterbeschäftigung mit Personalschlüsseln am untersten Ende, meist ohne Vertretungsreserven. Während z.B. in den Pflegekassen etliche Milliarden Rücklagen schlummern, gelingt es nicht, kosten- und tariflohndeckende Leistungsentgelte und Personalschlüssel zu vereinbaren, die zugleich der Würde und den Bedürfnissen der hochmotivierten Arbeitskräften entsprechen. Zwar besteht hier kein Markt im Sinne der Profitwirtschaft, aber ein dringender gesellschaftlicher Bedarf, der nur durch öffentliche Nachfrage bedarfsdeckend befriedigt werden kann. Insofern sind Kindergärten und Behinderten- und Pflegeeinrichtungen Betriebe, die auf Dauer öffentlicher Subventionen bedürfen, die letztlich von allen zu zahlen sind.
Alle Versuche, das System der Sozialversicherung zu unterminieren und ihr Netz zu durchlöchern, schlagen auf die Kommunen in Form von Sozialhilfekosten (Hilfen zum Lebensunterhalt und in besonderen Lebenslagen), aber auch durch ständig steigende Jugendhilfe- und Daseinsvorsorgeleistungen zurück.
Eine Sanierung der Sozialversicherungen durch Versicherungspflicht und -leistungen für alle würde in erster Linie die Kommunen entlasten, zusätzliche bzw. Freiwerdende Mittel im Länderfinanzausgleich für Sozial-, Kinder- und Jugendhilfe würden den bedürftigen Gemeinden wieder Investitionen in Jugendarbeit, Tageseinrichtungen für Kinder, Gemeinwesenarbeit etc. ermöglichen.
Rund 10 Prozent eines Jahrgangs verlassen die Hauptschule ohne Abschluss, rund 20 Prozent gehen von der Berufsschule ohne Abschluss ab, immer mehr SchülerInnen landen in den Förder-, d.h. Sonderschulen Bayerns.
Für die Gewinner des 4-gliedrigen, höchst selektiven Schulsystems interessieren sich Industrie, Hochschulen und Politik, für die Verlierer höchstens das Arbeitsamt und die Jugendsozialarbeit. Dass aber so viele Verlierer bleiben und deren Selbstwertgefühl frühzeitig zerstört worden ist, an diesem Raubbau von potentieller Produktivkraft ist zum Großteil ein Schulsystem schuld, das frühzeitig sogenannte „Begabungen" voneinander trennt und nicht einmal eine Halbtagsschule für alle gewährleistet.
Dass auch AbiturientInnen nicht einmal Arbeitslehre bzw. betriebliche Praktika durchlaufen müssen, trägt nicht gerade zu einer sozialen Grundbildung bei. Ein von Anfang an integratives Schulwesen mit der Chance auf individuelles Lernen für alle würde den immer wieder geforderten Schlüsselqualifikationen eher entsprechen, zudem Gewaltprävention und soziales Lernen ermöglichen.
Die politisch gewollten Risikokosten dieses hochselektiven Schulsystems werden – wie üblich – aus Mitteln der Sozialversicherung und des Bundes bezahlt, nämlich den Maßnahmen zur Berufsfindung, -vorbereitung und zur überbetrieblichen Ausbildung.
Dass aber auch im Bereich der Maßnahmen des Arbeitsamtes (Aus-, Fort- und Weiterbildung) normale, tarifgebundene Arbeitsplätze statt ABM, Niedriglohntätigkeiten und Honorarkraft-Verhältnissen geschaffen werden, dazu bedarf es einer besseren finanziellen und personellen Ausstattung und einer Marktregulierung der beruflichen Erwachsenenbildung unter öffentlicher Verantwortung. Statt ruinösem Wettbewerb der Weiterbildungsträger müssen auch dort durch gewerkschaftliches Handeln Tarifverträge und statt Scheinselbständigkeit Sozialversicherung für alle in diesem Bereich Beschäftigten durchgesetzt werden. Zuständig dafür: GEW, DAG, ÖTV.
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