letzte Änderung am 19. März 2003

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Verarmung und Repression

Harald Rein und Christa Sonnenfeld über Hintergründe und Auswirkungen erzwungener Leiharbeit

Gemessen an vielen anderen Entscheidungsprozessen der Bundesregierung, die über lange Zeit hin- und hergeschoben werden, fällt die Geschwindigkeit auf, in der man die Veränderung der Rahmenbedingungen des Arbeitsmarktes in Angriff nimmt und umsetzt. Der Druck hin zu einer neoliberalen Neustrukturierung wird aus verschiedenen Quellen gespeist und konzentriert sich im Wesentlichen auf die Bereiche der Arbeitsverhältnisse, des Arbeitsschutzes und der sozialen Sicherungssysteme. Neu sind die Forderungen nicht, aber sie haben an Intensität zugenommen und gipfeln in der Frist der EU-Kommission, bis Ende Mai 2003 einen Bericht über die vollzogenen Veränderungen abzugeben (FR, 8. Januar 2003).

In der Bundesrepublik Deutschland lässt sich der entschiedene Wille zum neoliberalen Umbau bis zur »Deregulierungskommission« zurückverfolgen, die von Helmut Kohl 1987 eingesetzt wurde und 1991 ihren Forderungskatalog präsentierte: Abbau der Tarifautonomie, Einschränkungen beim Kündigungsschutz, Aufhebung des Verbots der Leiharbeit (diese war ab 1982 verboten worden) und »im Notfall« die Herabsetzung tariflicher Leistungen. Bereits zu diesem Zeitpunkt erfuhren die deutschen Wirtschaftsverbände (Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt: »Wir entfesseln den Arbeitsmarkt!«) breite Unterstützung durch die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD). Sie hob in unregelmäßigen Abständen, aber kontinuierlich, u.a. die Notwendigkeit von Leiharbeit, von befristeten Arbeitsverhältnissen und Niedriglohnarbeitsplätzen, verbunden mit der Ausweitung des Arbeitszwangs, hervor. Flankierend unterstützten die EU-Kommission und der Internationale Währungsfonds (IWF) diesen Forderungskatalog. In den letzten Monaten meldete sich die Kommission mehrfach zu Wort, indem sie die »Deregulierung des Arbeitsmarktes« und geringere Sozialleistungen in Deutschland anmahnte (FR, 2. November 2002 und 8. Januar 2003). Der IWF wurde schon zu einem frühen Zeitpunkt konkret: Das System der Arbeitslosenunterstützung müsse reformiert, Mindestlöhne (mit besonderem Blick auf Frankreich) modifiziert und Arbeitsschutzbestimmungen geändert werden (Süddeutsche Zeitung, 4. Juni 1994) – Faktoren, die die Wettbewerbsfähigkeit und die fühlbare Kostensenkung in den europäischen Staaten behinderten. Dabei fällt auf, dass es weniger um die Senkung der Arbeitslosigkeit ging und geht, als vielmehr um die Erhöhung der Beschäftigungsrate, und damit einer Umverteilung von Arbeit auf niedrigerem Lohnniveau.

Damit Europa bis 2010 zum weltweit »dynamischsten Wirtschaftsraum« (FR, 15. Januar 2003) wird, sollen bisherige Sicherungsstandards fallen, und die »Minderung des Lebensstandards breiter Bevölkerungsschichten« (Miegel 1998) muss in Angriff genommen werden. So warnte bereits 1994 der OECD-Experte Kumiharu Shigehara davor, Themen wie Arbeitsbedingungen, Menschenrechte, Umwelt- und Tierschutz zu Maßstäben der Handelspolitik zu machen, denn: »Enorme Nutzen und Vorteile haben sich aus einem zunehmend freien Handelssystem über die Jahre ergeben« (FR, 1. Juli 1994). Gilt Shigehara die Dimension der Menschenrechte als Hindernis für die Kapitalverwertung, so hat man damit hierzulande auf der politischen Seite bislang noch Legitimationsprobleme. Dies zeigt sich z.B. bei der geplanten Durchsetzung des Hessischen OFFENSIV-Gesetzes, das im Wesentlichen die Verschärfung der Zumutbarkeitsbestimmungen und den Ausbau sowohl von Leiharbeit als auch von »gemeinnütziger Arbeit« vorsieht. So argumentierte ein Vertreter des Hessischen Sozialministeriums auf einer Fachtagung, dass nur Arbeit menschliche Würde sichere: »Nur Arbeit, selbst wenn sie nicht existenzsichernd ist, ermöglicht wirkliche Teilhabe an den gesellschaftlichen Möglichkeiten«. Man fühlt sich offenbar (noch) gezwungen, wachsende Repression und eine Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen – wenn auch absurd – in menschenrechtliche Kategorien zu kleiden. Die Repräsentanten europäischer bzw. weltweiter Handelsorganisationen dagegen haben keine Wähler im Blick, sie formulieren unentwegt die Hemmnisse einer uneingeschränkten Autonomie der Vermögensbesitzer und Kapitalmärkte.

Dem Staat wird in diesen Konzepten eine veränderte Rolle zugedacht, die er jedoch selbst mit vorantreibt, wie der kürzlich veröffentlichte »Masterplan« des Wirtschaftsministeriums zeigt. Er enthält eigene Vorschläge, den staatlichen Einfluss auf Wirtschaft und Markt zurückzudrängen (arbeit & ökologie, 1/2003). Entmachtet wird er dadurch zunächst nicht, aber die Verhältnisse verschieben sich, da die multinationalen Konzerne weniger Kompromisse eingehen müssen. Denn: all die vorangetriebenen Aktivitäten zur wirtschaftlichen Neuregulierung brauchen einen staatlichen Rahmen (nicht jedoch dessen Parlamente), der den »sozialen Frieden« sichert »mit dem Ziel, die Menschen zur Akzeptanz ihrer benachteiligten Position in Wirtschaft und Gesellschaft zu bewegen und zu zwingen« (Schui 1996).

Vor diesem Hintergrund muss die flächendeckende Ausweitung der Leiharbeit hin zu einem umfassenden Niedriglohnsektor und damit zu einer breiten Absenkung der Realeinkommen interpretiert werden.

 

Anspruch und Realität der »Hartz«-Beschlüsse

Ziel der Umsetzung der Hartz-Vorschläge ist eine Reduzierung der Arbeitslosigkeit innerhalb von drei Jahren auf zwei Millionen, u.a. durch die Erhöhung der Arbeitsvermittlungsgeschwindigkeit und den Ausbau von Zeitarbeit. Doch, wie so oft, wurden auch hier die anfänglich so euphorisch genannten Zielvorgaben nach einer gewissen Weile relativiert. Durch die flächendeckende Einführung von Personal-Service-Agenturen (PSA) sollten ursprünglich 500000 Arbeitslose vermittelt werden (Hartz-Kommission), jetzt ist nur noch von 50000 die Rede (Bundesanstalt für Arbeit).

Um die Arbeitslosenquote zu senken, stehen den einzelnen Arbeitsämtern theoretisch drei Möglichkeiten zur Auswahl: die Vermittlung in existenzsichernde Arbeitsplätze, die Vermittlung in schlechter bezahlte Jobs mit Hilfe von Subventionen und Zwangsmitteln, oder das Herausdrängen aus dem Leistungsbezug.

Real existiert eine ausgeprägte Arbeitsplatzlücke, die nach Angaben der Bundesanstalt für Arbeit für das Jahr 2001 bei ca. 5,9 Millionen Stellen liegt. Ob diese, auch durch eine verbesserte allgemein wirtschaftliche Lage reduziert werden kann, ist mehr als zweifelhaft. Zwischen 1991 und 2000 ist die Zahl der ArbeiterInnen in der Industrie von 4,9 Millionen auf 3,6 Millionen zurückgegangen, gleichzeitig stieg die Produktivität in diesem Zeitraum um über 70 Prozent, ebenso wie das gesamtwirtschaftliche Arbeitsvolumen. Es braucht also immer weniger Arbeitszeit, um immer mehr Produkte herzustellen.

Auch die Schaffung eines Niedriglohnsektors für Geringqualifizierte ist nicht von Erfolg verwöhnt. Trotz ungleicher Verteilung der Löhne und Gehälter und damit einhergehender Verbilligung ist das erwartete Beschäftigungswunder ausgeblieben. Insbesondere der Osten Deutschlands kann als »nahezu geschlossenes Niedriglohn-Gebiet« bezeichnet werden, in dem die »effektiv gezahlten Industrielöhne 40 Prozent unter dem Westniveau liegen« (Schäfer 2000) und dennoch Arbeitsplatz-Abbau stattfindet. Selbst bei großzügigster Subventionierung schlecht bezahlter Beschäftigung, z.B. mit Hilfe verschiedenster Kombilohn-Modelle, zeigen Arbeitgeber kaum Interesse. Dies bestätigt auch das Ergebnis einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit (IAB) im Dezember 2001: Danach ergeben sich »keine größeren Beschäftigungseffekte«. Offensichtlich sind existenzsichernde Arbeitsplätze nicht in ausreichendem Maße vorhanden, und die Nachfrage nach Jobs im Niedriglohnsektor, selbst mit großzügig bedachter Unterstützung durch das Arbeitsamt, ist begrenzt.

Wie lässt sich vor diesem Hintergrund die Quote der »Abgänger« aus der Sicht der Bundesanstalt erhöhen?

 

PSA: Verarmung und Repression für Erwerbslose und Beschäftigte

Ein entscheidendes Moment ist die Erhöhung des Drucks auf Arbeitslose bei gleichzeitiger allgemeiner Leistungsreduzierung (aktuell besonders bei der Arbeitslosenhilfe und der Weiterbildung). Ziel ist, Erwerbslose mit allen Mitteln aus dem Leistungsbezug zu drängen.

Erste größere Effekte in diesem Sinne brachte bereits das »Job Aqtiv«-Gesetz. Unter dem Motto »Fördern und Fordern« erhöhten sich die Auflagen und Kontrollen gegenüber den Arbeitslosen. Die Betroffenen wurden u.a. gezwungen, vermehrt Bewerbungsnachweise vorzuzeigen (bis zu zehn Bewerbungen pro Monat) oder sich in zum Großteil unsinnige Trainingsmaßnahmen zu begeben. Resultat dieser »Vermittlungsoffensive«: ein starker Anstieg der Abgänge aus der Arbeitslosenstatistik. Rund zehn Prozent waren es im Jahresdurchschnitt, im Dezember 2002 waren es sogar 23 Prozent, die wegen »mangelnder Mitwirkung« oder »Nichterneuerung der Meldung« aus dem Leistungsbezug gestrichen wurden (taz, 10. Januar 2003). Um diese ›Erfolgsquote‹ zu erhöhen, werden für 2003 bundesweit weitere 1000 Jobvermittler eingestellt. Damit soll die »Bereinigung der Statistik« von Erwerbslosen, denen mangelndes Interesse an einer Arbeitsaufnahme unterstellt wird, fortgeführt werden (Berliner Morgenpost, 30. Dezember 2002).

Noch deutlicher äußerte sich der Frankfurter Arbeitsamtsdirektor. Er kündigte harte Zeiten für Arbeitslose an, die »ganz gezielt unter Druck« gesetzt werden würden. »Wir müssen darüber nachdenken, wie es uns gelingt, weniger Arbeitslosengeld zu zahlen.« (FR, 10. Januar 2003)

Dazu haben er und alle anderen Arbeitsamtsdirektoren nun ein weiteres Instrumentarium in die Hand bekommen: die von der Hartz-Kommission geforderten und jetzt bis Mitte des Jahres umzusetzenden PSA. Bis zu diesem Zeitpunkt ist jedes Arbeitsamt verpflichtet, mindestens eine PSA einzurichten. Dies erfolgt durch einen Vertrag zwischen dem Arbeitsamt und bereits tätigen Verleihunternehmen, wie z.B. randstad, aber auch Beschäftigungsgesellschaften stehen zur Auswahl. In Regionen, in denen diese Art von Verträgen nicht zustande kommt, kann das Arbeitsamt sich auch an Verleihunternehmen beteiligen oder selbst eine PSA gründen. In verleihfreien Zeiten soll die PSA ihre Beschäftigten qualifizieren.

Bis zum 1. Januar 2004 dürfen Verträge zur Einrichtung einer PSA nur abgeschlossen werden, wenn sich die Höhe des Arbeitsentgelts wie auch die allgemeinen Arbeitsbedingungen nach irgendeinem Tarifvertrag der Zeitarbeitsbranche richten. Nach diesem Zeitpunkt gilt das Prinzip »gleicher Lohn für gleiche Arbeit«, es sei denn ein zwischen Gewerkschaften und Zeitarbeitsfirmen abgeschlossener Tarifvertrag bestimmt etwas anderes. Flankiert wird dies von einem neuen Arbeitnehmerüberlassungsgesetz mit weitreichend deregulierten Schutzvorschriften. (S. express, Nr. 10/2002)

Ein Blick auf die bisherige Praxis der Leiharbeit macht deutlich, mit welcher Intention diese Form der Arbeitsverhältnisse vorangetrieben wird. Seit 1991 hat sich die Zahl der LeiharbeiterInnen auf 360000 erhöht und damit verdreifacht. In der Regel werden bis zu 40 Prozent weniger als der Tariflohn bzw. der ortsübliche Lohn gezahlt; auch betriebliche Leistungen haben für diese Beschäftigten keine Geltung. Nach bisherigen Erhebungen ist nur ca. jeder Fünfte länger als sechs Monate beschäftigt, von einem »Sprung in den ersten Arbeitsmarkt« kann von daher nur in wenigen Fällen die Rede sein IAB, Kurzbericht 2002).

Das Unternehmen Siemens hat Ende 2001 die Vorzüge dieses Systems für die Betriebe erkennen lassen: 1000 Beschäftigte wurden entlassen und im Anschluss daran 800 von ihnen wieder an ihren alten Arbeitsplätzen eingesetzt, und zwar zu 20 Prozent weniger Lohn. Die Hartz-Kommission formulierte diese Vorzüge in aller Klarheit: Zum einen gebe es für die Unternehmen mit Leiharbeitsverhältnissen keine arbeitsrechtlichen Verpflichtungen, Kostenrisiken bei der Personalsuche entfielen, und der Kündigungsschutz werde »neutralisiert«, weil diese Beschäftigten jederzeit entlassen werden können.

Auch mit dem neuesten »arbeitsmarktpolitischen« Instrument, der flächendeckenden Einführung von PSA, wird also nach bisherigen Erfahrungen mit dem Einsatz von Leiharbeit auf dem ersten Arbeitsmarkt kaum neue Beschäftigung geschaffen – anzunehmen ist eher ein Austausch von Festangestellten durch Leihar-beiterInnen. Die Gewerkschaften mischen kräftig mit und sind erneut bereit, Zugeständnisse auf Kosten der Arbeitslosen zu machen und das allgemeine Lohnniveau abzusenken. Mit dem zynischen Hinweis auf eine »moralische Verpflichtung« (DGB-Vorsitzender Sommer) sollen Arbeitslose in den ersten sechs Wochen der Vermittlungsphase geringeren Lohn akzeptieren. Anstatt die Tarifverhandlungen zur Leiharbeit abzubrechen, fördern sie durch die Akzeptanz ungleicher Arbeitsbedingungen – so ist zu vermuten – neue Spaltungen innerhalb der Arbeitnehmerschaft; durch die sorgfältig abgeschirmten Verhandlungen zwischen Gewerkschaften und Zeitarbeitsfirmen gibt es allerdings gegenwärtig keine konkreteren Informationen. Resultat wird aber vermutlich eine weitere Ausbreitung von Niedriglohn und Verschärfung des Vermittlungszwanges sein. Dies trifft Arbeitnehmer wie Arbeitslose gleichermaßen.

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 2/03

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