letzte Änderung am 13. Nov. 2002

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Achim Trube/Norbert Wohlfahrt

"Die Arbeitslosen halbieren" – Zur Frage der fachlichen und wissenschaftlichen Qualität wohlfeiler Reformkonzepte der Arbeitsmarkt- und Sozialhilfepolitik

 

Vorbemerkung

Modelle für eine "Arbeitsmarktpolitik aus einem Guss" (Stoiber) haben gegenwärtig Konjunktur. Der Wahlkampf erweist sich als eine Phase hoher Produktivität für wegweisende Einfälle, wie in der Bundesrepublik Deutschland eine nachhaltige Reduzierung der Sozialstaatskosten erreicht werden kann, die zugleich zu dem charmanten Doppeleffekt führt, die Anzahl der Arbeitslosen zu halbieren, zu vierteln, zu dritteln usw. usw. Fachkommissionen (Hartz u. a.), wissenschaftliche Beiräte (Sinn u.a.) oder exponierte Vertreter renommierter Forschungsinstitute (Zimmermann, Steiner u.a.) sind tagesaktuell und öffentlichkeitswirksam im politischen Geschäft, wobei derzeit der Sachverstand für die sozialpolitischen und sozialwissenschaftlichen Fragestellungen in den Managementetagen der Unternehmen oder den wirtschaftswissenschaftlichen Instituten beheimatet zu sein scheint.

Das Argumentationsmuster der heilsverkündenden Botschaften ist meist sehr ähnlich: Zuerst wird das bisherige Instrumentarium der Arbeitsmarkt- und Sozialhilfepolitik abqualifiziert, um dann der ökonomisch-monotheistischen Glaubengemeinschaft die Wege der Erlösung zu verheißen. So z. B. Hans-Werner Sinn aus dem wissenschaftlichen Beirat des Finanzministeriums: "Eine der wichtigsten Ursachen für die Arbeitslosigkeit gering qualifizierter Arbeitskräfte in Deutschland bildet die Sozialhilfe" (Sinn u.a. 2002, S. 8), um dann anschließend ihre Halbierung zu empfehlen. Diese sog. "Aktivierende Sozialhilfe" führt mittelfristig zu 2,3 Mill. neuen Arbeitsplätzen. Ähnlich auch vom "argumentativen" Muster her agiert Klaus Zimmermann, der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung: "Zum einen gibt die Regierung noch immer vier Milliarden Euro für unsinnige Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen aus, die sich weitgehend einsparen ließen. Zum anderen würde Geld frei , wenn die Regierung getreu ihrem Motto ‚fördern und fordern‘ den Druck auf Arbeitslose verstärken würde, gering bezahlte Jobs auch anzunehmen" (Zimmermann 2002). Der Vorsitzende der nach ihm benannten Hartz-Kommission bemüht gar die Leere unserer Kirchen und fordert ein Bündnis der "Profis der Nation", in dem die Pfarrer die Beratung und Betreuung der Arbeitslosen verstärkt mit übernehmen sollen (vgl. Hartz 2002a, S. 37).

Allen öffentlichkeitswirksamen Vorschlägen gemeinsam ist die Umdefinition des Strukturproblems Arbeitslosigkeit in ein Vermittlungsproblem. Nicht fehlende Arbeitsplätze, sondern deren Besetzung hemmende Faktoren sollen beseitigt werden und die sind nach Meinung der Gutachter in erster Linie darin begründet, dass der Arbeitslose zu teuer, zu vermittlungsresistent, zu faul, zu anspruchsvoll usw. ist. Begutachtet wird also konsequent aus der Sicht derer, die mit ihren Entlassungen zur Arbeitslosigkeit nicht unerheblich beigetragen haben: nicht die Unternehmen, sondern die aus den Sozialkassen alimentierten Arbeitslosen werden für ausbleibendes Wirtschaftswachstum verantwortlich gemacht: Die Parteilichkeit dieser wissenschaftlichen Gutachten ist unübersehbar.

 

Zur Güte von Gutachten

Will man die Bewertung der diversen Vorschläge nicht restlos einer normativen Beliebigkeit anheimfallen lassen – wie: "Die brauchen Druck" oder "Kirche finde ich gut" oder "Sozialhilfeleistungen waren immer schon zu hoch" – , dann empfiehlt es sich, die professionellen Standards fachwissenschaftlicher Auseinandersetzung in Erinnerung zu rufen, um zu einer weniger willkürlichen Beurteilung zu kommen. Essentials für die Güte von Gutachten sind beispielsweise:

  1. Eine Politikempfehlung sollte auf einer korrespondierenden Ist-Analyse der zu lösenden Probleme aufbauen, damit z.B. nicht Lösungen für Probleme angeboten werden, die gar nicht existieren oder relativ vernachlässigbar sind.
  2. Eine wissenschaftliche Analyse untersucht mehrere Erklärungsvariablen anstatt monokausale Bedingungsverhältnisse zu hypostasieren, da komplexe Probleme mit nur einer Ursache signifikant unwahrscheinlich sind .- demgemäß die sog. Königswege auch eher aus der Welt der Märchen stammen als aus der Welt der Wissenschaft.
  3. Aussagen, auf denen Empfehlungen basieren, sollten empirisch fundiert oder zumindest nachvollziehbar belegt sein, damit sie prinzipiell überprüfbar sind und nicht als reine Bekenntnisse entweder zu glauben oder aber eben nicht zu glauben sind.
  4. Thesen professioneller und wissenschaftlich orientierter Politikempfehlungen sind von der Logik so zu strukturieren, dass sie grundsätzlich kritisierbar sind und sich nicht z.B. als Tautologien ("Wenn der Hahn kräht auf dem Mist, dann ändert sich das Wetter oder es bleibt wie es ist") schon a priori gegen eine jedwede mögliche Widerlegung immunisieren.
  5. Professionelle Politikempfehlungen sollten die Opportunitätskosten ihrer angeratenen Strategien berücksichtigen und nachvollziehbar ausweisen, d.h., es ist zu dokumentieren, welche Folgen bzw. Kosten entstehen, wenn man der Empfehlung folgt und damit andere denkbare Alternativstrategien außer acht lässt (man spart z.B. heute Geld, hat dafür aber morgen erhebliche Mehrausgaben, die jedoch heute nicht verschwiegen werden sollten).
  6. Die Berücksichtigung auch der nicht-intendierten Effekte von Politikempfehlungen neben den intendierten gehört zu den Standards professioneller Fachwissenschaft , da z.B. ansonsten keine Nettowirkungen beschrieben werden können, wie etwa Mitnahmeeffekte, u.ä.. Wer nur das untersucht, was er gewollt hat, ist blind für alles , was sich jenseits seiner Wunschvorstellungen ansonsten abspielt.
  7. Politik- und Unternehmensberatungen stehen stets in einem ethisch-normativen Kontext. Diesen explizit zu machen, sollte zu den Standards wissenschaftlich seriöser Gutachten zählen, da stets Handlungsbereiche begutachtet werden, in denen handfeste Interessenkollisionen win-win-Lösungen zu der Ausnahme und nicht zur Regel machen.

 

Therapie ohne Analyse – oder: Der Bote, der die schlechte Nachricht bringt, ist zu erschlagen

Schaut man sich unter dieser Perspektive von Selbstverständlichkeiten, die Gutachten bzw. Empfehlungen der letzten Monate zur Sozialhilfe und Arbeitsmarktpolitik an, dann wird bedrückend deutlich, dass sie nicht einmal diesen Standards der Propädeutika der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften genügen können.

Ad 1: Korrespondenz von Analyse und Empfehlung

Die meisten Vorschläge der Hartz-Kommission wie z.B. JobCenter, PersonalServiceAgenturen (PSA), Familienfreundliche Quick-Vermittlung, Neue Zumutbarkeit etc. (vgl. Hartz 2002b), zielen im Wesentlichen letztlich darauf ab, die Übergänge von Arbeitslosigkeit in Arbeit zu verbessern, was unterstellt, das eigentliche Problem in der Bundesrepublik sei eine Mismatch- bzw. friktionelle Arbeitslosigkeit, d.h., dass vorhandene Arbeitslose nicht passgenau auf die vorhandenen Stellen zu vermitteln wären. Nur das ist ausdrücklich nicht das eigentlich entscheidende Problem, sondern die negative Arbeitsmarktbilanz, die einen Fehlbedarf von ca. sechs Millionenen Stellen ausweist. In der Bundesrepublik herrscht seit über 25 Jahren Massenarbeitslosigkeit, die in ihren Grundzügen maßgeblich eher auf Struktur- als auf Vermittlungsprobleme zurückzuführen ist. Neben den tendenziell sinkenden Wachstumsraten in der Volkswirtschaft sind insbesondere der Produktivitätsfortschritt mit der Ersetzung vor allem gering qualifizierter Arbeitskraft durch High-Tech-Kapital sowie nicht zuletzt die Globalisierung von Geld- und Warenströmen bei internationaler Konkurrenz mit in die Erklärung einzubeziehen, die floatendes Kapital unproduktiv in monetären Werten absorbiert, die zudem die Verschiebung der relativ "teuren" Einfacharbeitsplätze in sog. Billig-Lohn-Länder akzeleriert und schließlich u.a. zu Fusionen zwingt, bei deren Synergieeffekten es zu gigantischen Vernichtungen von Erwerbsarbeit kommt. So ist die Arbeitslosigkeit offensichtlich nicht durch Vermittlungsinkompetenz oder durch eine – wie auch immer geartete - Passivität der Arbeitslosen bedingt, die etwa durch neue Zumutbarkeitsregelungen heilbar wäre, sondern neben nationalstaatlich gar nicht mehr zu beeinflussenden Faktoren auch durch eine lang andauernde Passivität der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik, die den Strukturwandel nicht angemessen zu begleiten wusste. Die Hartzschen Therapievorschläge sind offenkundig nicht durch eine fundierte Problemursachendiagnose begründet, sondern beruhen weitgehend auf normativen Spekulationen, was allerdings den ungetrübten Genesungsoptimismus dann auch nicht weiter analytisch behindern kann (Reduzierung der Arbeitslosigkeit auf 2 Mill. bis 2005).

Ad 2: Multikausale Strategieempfehlungen

Die Vorstellung, "auf einen Schlag" tatsächlich alle Probleme zu lösen, ist gleichsam märchenhaft und lässt sich demgemäß auch gut vermarkten. Wenn man erst mehrere Ursachen ermittelt und dann zu differenzierten Strategien raten muss, ist dies zumindest medial kaum attraktiv und lässt sich weder kurz und knapp noch öffentlichkeitswirksam "rüberbringen". Gutachten unterliegen insbesondere dann dieserart Versuchung, wenn sie im Wesentlichen nur einen Grund für das zu lösende Problem hypostasieren, wie etwa die Sozialhilfe als Ursache von Arbeitslosigkeit des gering qualifizierten Erwerbspersonenpotenzials. In diesem Fall muss auch nur eine Lösung aufgetan werden – Halbierung der Sozialhilfe mit zwei flankierenden Ergänzungen (vgl. Sinn 2002 S. 19 ff.) – und das Herkuleswerk ist schon im Wesentlichen auf den Weg gebracht. Solche monokausalen Modelle sind in fast allen Fällen signifikant unterkomplex, da sie zumeist nur einen minimalen Anteil der tatsächlich vorfindbaren Varianzen des Problems erfassen können. Auch die massive Diskussion um die Insuffizienz der Bundesanstalt für Arbeit, die zur Einsetzung der Hartz-Kommission beigetragen hat, supponierte zumeist nur einen einzigen entscheidenden Grund für die Probleme, nämlich den Dilettantismus der Anstalt, die außerdem noch die katastrophalen Arbeitsmarktzahlen von Amts wegen monatlich zu verkünden hat. Vorschläge, die Anstalt aufzulösen oder die wesentlichen Teile als Zeitarbeitsfirmen / PSA outsourcen (vgl. Hartz 2002b, Modul 8), haben insofern gleichsam etwas vom zweifelhaften Charme altertümlicher Problemlösungen, in denen z.B. der Bote, der die schlechten Nachrichten zu überbringen hatte, kurzum erschlagen wurde, wobei das jeweilige Verhängnis auch damit nicht aus der Welt zu schaffen war. Sicherlich ist die Bundesanstalt für Arbeit kein Dienstleistungsunternehmen professioneller Provenienz, doch kann das nicht mit dem Hauptgrund der Arbeitslosigkeit verwechselt werden. Gefordert sind vielmehr multikausale Erklärungsmuster, die in der Lage sind, auch verschiedenartige Problemlösungsangebote zu entwickeln, die dann im Sinne von Versuch und Irrtum synergetische Lernprozesse in die Wege leiten können.

Ad 3: Empirische Fundierung von Empfehlungen

Ein tatsächlich dann doch etwas anderer Erklärungsansatz von Arbeitslosigkeit liegt einem weiteren Vorschlag der Hartz-Kommission zu Grunde, und zwar der sog. Ich-AG: Hier wird unterstellt, dass ein maßgeblicher Grund für die Arbeitslosigkeit die vorherrschende Schwarzarbeit sei (vgl. Hartz 2002b, Modul 9), der mit der Schaffung bzw. Legalisierung von Mini-Dienstleistungsjobs bei voller Sozialversicherung und 10%iger Besteuerung beizukommen sei. Auch wenn die Ursachenvermutung "Schwarzarbeit" zuerst einmal etwas anders ausschaut als die Mismatch-Hypothese, so ist das Argumentationsmuster jedoch verwandt. Das verhärtete Strukturproblem "Arbeitslosigkeit" (s.o.) wird individualisiert zu einem Problem persönlichen Fehlverhaltens der Betroffenen, denen ähnlich wie bei der PSA-, dem JobCenter- und dem Zumutbarkeits-Vorschlag durch Fördern und Fordern mit neuen Repressionen – etwa der Umkehr der Beweislast bei Ablehnung einer Stelle (Modul 3) - "auf die Sprünge" geholfen werden muss. Gemeinsam ist dieser "Argumentations"-Figur, dass das Opfer der arbeitsmarktlichen Strukturentwicklung zum Tätern umdefiniert wird (blame the victim), das letztlich durch sein individuelles Fehlverhalten (Schwarzarbeit, Motivationsmangel etc.) für die Krise ursächlich verantwortlich zu machen ist. Dass dabei quasi unterwegs fundamentale Grundsätze des Rechtsstaats über Bord geworfen werden (in dubio pro reo), geht anscheinend unter im allgemeinen Aktivierungsfieber. Aus wissenschaftlicher Sicht ist allerdings entscheidend, dass die zentrale Hypothese, aus der die Ich-AG-Empfehlung ihre Legitimation bezieht, nämlich die Unterstellung, dass Arbeitslose in maßgeblichem Umfang schwarzarbeiten, empirisch unbelegt bleibt. Hier reicht offensichtlich die Behauptung anstelle des Beweises und das Versprechen, dass dadurch 450.000 neue Beschäftigungsverhältnisse zu schaffen wären (vgl. Hartz 2002b, Modul 12). Empirische Studien zum Phänomen "Schwarzarbeit von Arbeitslosen" lassen eher Vorsicht hinsichtlich einer Überschätzung angeraten sein (vgl. z. B. Trube 2002), was allerdings nicht weiter irritieren muss, wenn man Empfehlungen auf Behauptungen aufbaut anstelle von mühseeliger Detailforschung.

Ad 4:Logische Konsistenz und Überprüfbarkeit

Nicht nur von wissenschaftlich höchst zweifelhafter Güte sind Aussagen, die Basisanforderungen der Logik nicht genügen. Zu diesen Aussagen gehören Tautologien oder Zirkelschlüsse, die beispielsweise das, was sie erklären wollen, aus dem, was zu erklären ist, zu folgern können meinen (Der Mensch ist sündig, weil er schon sündig auf die Welt gekommen ist). Bei Hans-Werner Sinn lässt sich diese bemerkenswerte Kausalkonstruktion bewundern, indem im Ifo-Gutachten ausgeführt wird: "Die Sozialhilfe zieht eine Untergrenze in das Lohngefüge ein und erzeugt dadurch Arbeitslosigkeit. Kein Unternehmer stellt jemanden ein, dessen Wertschöpfung kleiner ist als der Lohn, den er dafür bezahlen muss... Anspruchsberechtigte, deren Produktivität nicht oder nur wenig über dem Sozialhilfeniveau liegt, sind nicht vermittelbar" (2002, S.49). Auf den Punkt gebracht: Sozialhilfeempfänger sind Sozialhilfeempfänger, weil Sozialhilfeempfänger unproduktiv sind, und deshalb auch Sozialhilfeempfänger sind. Der Nachteil dieser hermetischen Schlussfolgerungskette ist wissenschaftlich allerdings folgender: Es gibt grundsätzlich kein einziges empirisches Ereignis, was zwischen die Glieder diese Kette dringen könnte, um quasi als experimentum crucis die Aussage falsifizierbar zu machen, und zwar weil Sozialhilfeempfänger immer schon unproduktiv sind, weil sie Sozialhilfeempfänger sind, und weil eben der Sozialhilfeempfänger, der produktiv ist, nicht zu finden ist, weil er ja dann kein Sozialhilfeempfänger mehr ist. In dieser Fassung unterscheiden sich wissenschaftliche Gutachten nicht mehr von Glaubensbekenntnissen, da sie so angelegt sind, dass sie nicht widerlegbar sind, also der rationalen Kritik sich grundsätzlich verschließen.

Ad 5: Ausweisung von Opportunitätskosten

Solide Politikempfehlungen beinhalten eine Prognose der Kosten und des Nutzens der jeweiligen Reformvorschläge. Dies reicht allerdings für eine sachgerechte Abwägung der eingebrachten Empfehlungen nicht aus, denn die Realisierung der Empfehlungen bedeutet - ökonomisch gesehen - zugleich, dass denkbare andere Alternativen nicht umgesetzt werden, was demgemäß wiederum mit speziellen Kosten, die offen auszuweisen sind, verbunden sein wird. Wenn Hartz z. B. vorschlägt, die Energien und Ressourcen auf das Vermittlungsgeschäft, die Gründung unternehmerischer Marginalexistenzen (Ich-AG‘s) sowie die Subventionierung von Arbeitnehmerverleihs aus den Mitteln der BA zu fördern, so ist dies jeweils mit spezifischen Opportunitätskosten der unterlassenen Alternativstrategien versehen, die aber in dem Gutachten weithin verschwiegen oder einfach unprofessionell ignoriert werden. Im Einzelnen heißt dies z.B., wenn die Ressourcen auf das Vermittlungsgeschäft konzentriert werden, "...um in Verbindung mit der Deregulierung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes..." Chancen zur "... zusätzlichen Beschäftigung in privaten Zeitarbeitsfirmen" zu schaffen (Hartz 2002c, S. 36), dann stehen diese in den privaten Sektor fließenden öffentlichen Gelder beispielsweise nicht mehr einer synergetischen Arbeitsplatzgenerierung durch die intelligente Verknüpfung von Arbeitsmarktpolitik und Strukturpolitik zur Verfügung, die für einen Euro einen dreifachen direkten Nutzen erhält: dies sind die unmittelbare Beschäftigung ansonsten arbeitsmarktlich Ausgegrenzter, die Verbesserung der öffentlichen, sozialen oder ökologischen Infrastruktur sowie schließlich die direkten Einnahmen in den gesetzlichen Sozialversicherungen. Diese Effekte werden aufgegeben zugunsten einer vagen Hoffnung auf Klebeeffekte von Zeitarbeit in einem sich reduzierenden Arbeitsmarktsegment, d.h. den Stellen für geringer Qualifizierte, wobei allerdings die öffentlichen Subventionen privatisiert werden.

Ähnlich verhält es sich mit den empfohlenen Ich-AG’s, die zuerst einmal nur für hauhaltsnahe Dienstleistungen vorgesehen werden sollen und durch die öffentlichen Zuschüsse zu den Sozialabgaben und die Mini-Steuer von 10% (Hartz 2002c, S. 41) die schon begüterten Haushalte nochmals begünstigen, indem so der Preis für die angebotene Dienstleistung künstlich nach unten subventioniert wird, während für die Erwerbslosen eine working-poor-Existenz installiert wird. Angesichts der öffentlichen Armut, insbesondere was das Angebot menschenwürdiger Pflegeeinrichtungen, zuverlässige Kinderbetreuung in Schulen usw. angeht, ist es verwunderlich dass die öffentliche Subvention nicht direkt dort hin geleitet wird, wo die allokative Effizienz am größten ist, nämlich dort, wo der Bedarf am wenigsten ohne diese Förderung gedeckt werden kann, und zwar in Verknüpfung mit geregelter Beschäftigung, die existenzsichernd ist. Auch diese Alternative ist völlig ausgeblendet, obwohl sie keine Opportunitätskosten einer weiteren Verschärfung gesellschaftlicher Umverteilung zugunsten der schon Privilegierten unterliegt.

Ad 6. Berücksichtigung nicht-intendierter Effekte

Von geradezu bestürzend geringer Reflexivität ist das Hartz-Papier – im Übrigen wie auch das Sinn-Gutachten – im Punkt der angemessenen Berücksichtigung der nicht-intendierten Folgen der angedienten Vorschläge. Das Ifo Gutachten verwendet beispielsweise keine Zeile darauf, was aus dem Personenkreis wird, dem die Sozialhilfe auf die Hälfte reduziert wird, wenn diese angebotene Arbeitsgelegenheiten bei den Kommunen möglicherweise nicht als Hilfen bzw. Förderung erkennen und demgemäß dann auch nicht annehmen können. Vielleicht ist es zu viel verlangt von einem Gutachter, sich ein Leben mit 146,50 Euro (halbierter Regelsatz) im Monat vorzustellen, was ihn allerdings nicht exkulpiert, die gesellschaftlichen und sozialstaatlichen Folgen eines solchen Vorschlags nicht offen anzusprechen bzw. auch in seinen Analysen zu berücksichtigen.

Bei Hartz liegen die "blinden Flecken" vor allem bei der konsequenten Unterlassung der Ausweisung von Netto-Nutzen-Wirkungen, indem ständig die Verdrängungs-, Substitutions- und Mitnahmeeffekte seiner Vorschläge ignoriert bzw. bagatellisiert werden. Dies gilt sowohl für die Anhebung der Grenzen der geringfügigen Beschäftigung auf 500,-- Euro, die Vorschläge zur Ich-AG oder zur subventionierten Leiharbeit. Gefährlich werden solche Blind-Gutachten, wenn die von Ihnen vorgeschlagenen Problemlösungen mit der Gefahr verbunden sind, dass die nicht-intendierten Nebeneffekte die eigentlich beabsichtigten Effekte übersteigen könnten, sodass per Saldo ein größerer Schaden als Nutzen entsteht. Dies ist insbesondere bei den erwartbaren Verdrängungseffekten normaler Beschäftigungsverhältnissen durch die für die Unternehmen deutlich günstigeren geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse und die Subunternehmerschaft von Ich-AG’S möglich. Es wäre betriebswirtschaftlich irrational, wenn ein Unternehmer, sich die dann bietenden Gelegenheiten zur Peronalkostensenkung entgehen ließe (vgl. Bofinger 2002). Die im Hartz-Papier eingebaute "Sicherung", "Zur Vermeidung von Missbrauch bei Unternehmen beträgt die Anzahl von Beschäftigten aus Ich-/Familien-AG im Verhältnis zu normalen Beschäftigten höchstens 1:1 (stichtagsbezogen, atmend)", erlaubt im Umkehrschluss maximal eine Vernichtung von 50% der vorhandenen regulären Einfacharbeitsplätze, und zwar mit erheblichen unternehmerischen Einsparungen die Lohn- und Lohnebenkosten betreffend.

Ad 7: Die Ausweisung des normativen Bezugs

Die aktuell diskutierten Gutachten operieren mit dem Schein einer objektiven Bestandsaufnahme. Alle strukturellen Faktoren ausgeblendet, bleiben nur noch die Arbeitslosen als individuell verantwortlich zu machende Vermittlungshemmnisse. Diese interessengeleitete Aktivierungsphilosophie verlangt von denen, die Arbeitskräfte beschäftigen dann auch konsequent keine Verhaltensänderung, sondern veränderte Strukturen: für sie soll es kostengünstiger werden, Arbeit produktiv anzuwenden. Das dies auch immer bedeutet, dass Arbeit immer weniger als Mittel zum Leben taugt, bleibt unausgesprochen. Das normative Diktat lautet: Hauptsache Arbeit.

 

Die "neue Qualität" des Hartz-Gutachtens

Die neue Qualität des Hartz-Gutachtens, die im Unterschied zum ifo-Gutachten zu breiter öffentlicher Zustimmung geführt hat, besteht in der Kombination von Aktivierungs- und Entbürokratisierungselementen. Während die auf Aktivierung zielenden Ansätze dem bekannten Muster des Generalverdachts "Faulenzer" folgen, den Arbeitslosen also mit Leistungskürzungen und Arbeitszwang Mobilität und Flexibilität beigebracht werden sollen, werden den Gewerkschaften zugleich Angebote präsentiert, die das Ganze für sie attraktiv gestalten sollen. Die durch das Arbeitsamt organisierte Leiharbeit soll tariflich bzw. sozialversicherungspflichtig geregelt sein. Durch die Entbürokratisierung soll eine win-win-Situation erzeugt werden, die beide Seiten, Arbeitslose und Arbeitsverwaltung, von der Reform profitieren lässt. Kennzeichnend für die "Halbierungs-Prognose" ist auch – wie schon in anderen Gutachten anzutreffen – das Prinzip der normativen Spekulation. Ohne empirische Daten über die Lebenswirklichkeit von Arbeitslosen, ohne empirische Kenntnisse der Verhaltensweisen von Sozialhilfeempfängern, ohne unterlegte Daten über die Arbeitsnachfrage in einem Niedriglohnsegment werden Behauptungen aufgestellt, die nur dadurch blamiert werden können, dass ihre Einlösung sowieso nicht zur Debatte steht. Denn eins steht fest: sollte sich die Zahl der Arbeitslosen nicht so rasch halbieren wie geplant, dann sind deren Mobilitätshindernisse, deren Anspruchsniveau und deren Vermittlungshemmnisse der Grund anhaltender Arbeitslosigkeit. Der aktivierende Sozialstaat erreicht damit ein neues Niveau selbstreferenzieller Effizienz und Effektivität: wenn Ich-Ags in die Lage versetzt werden, mobil in ganz Deutschland und darüber hinaus zu tariflich abgesicherten Niedriglöhnen jede Form zumutbarer Arbeit annehmen zu müssen, dann dürfte die Arbeitslosigkeit kein Thema mehr sein. Fragt sich nur, ob Schröders "Faulenzer" in der Lage sind, das Aktivitätsniveau aufzubringen, das zu einem solchen nachhaltigen Durchbruch an der Arbeitsmarktfront erforderlich ist.

 

Literaturhinweise:
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