letzte Änderung am 12. August 2002 | |
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Allem Anschein nach ist die Benutzeroberfläche der Gesellschaft aus althergebrachten Diskursen und Ritualen gewoben, die die wirkliche Entwicklung nur verschleiern. Stets werden Sprüche wiederholt, die keiner mehr glaubt. Die tiefen Tendenzen der Gegenwart erscheinen nicht. Es ließen sich zahlreiche Beispiele dafür erwähnen, bloß werden wir uns hier auf das Hauptthema des aktuellen Wahlkampfs beschränken, nämlich die angekündigte Reform des Arbeitsmarktes. Denn vor all den brennenden Fragen, die es in einer echten Demokratie verdienen würden, zur Debatte zu stehen, scheint nur noch diese die Wahlentscheidung zu bestimmen (von der Frisur beider Kandidaten abgesehen, natürlich). In der beschleunigten Gesellschaft sind vier Jahre so lang wie die Ewigkeit, doch einige wissen noch, daß Helmut Kohl wegen seines Versagens, Landschaften blühen zu lassen, abgewählt wurde (dies obwohl seine Regierung es kurz vor der Wahl ganz sozialistisch ABM-Stellen regnen ließ). Und wir erinnern uns auch flüchtig, daß Gerhard Schröder sich dank des Versprechens wählen ließ, er würde die Zahl der Arbeitslosen halbieren. Nun, niemand wird ihm heute vorwerfen, er habe sein Ziel verfehlt, denn als er das versprach, glaubte ihm sowieso keiner. Aber gerade darin liegt der entscheidende Punkt: an dieser ständigen Beschwörung von Chimären, dieser Sinnentleerung des öffentlichen Diskurses, dieser generellen Verachtung. Die Würde des Regierenden ist unauffindbar.
In den letzten Jahren hatten die Glücklichen Arbeitslosen manchmal Gelegenheit, ihre Thesen vor Gewerkschaftlern, Unternehmern, Akademikern oder sonstigen Mittelständlern zu vertreten. Selbstverständlich riefen manche Inhalte und vor allem die ironische Form unserer Aussagen keine uneingeschränkte Zustimmung hervor. Dazu waren sie auch nicht da. Dennoch wurde uns in den anschließenden Gesprächen fast immer in zwei Punkten recht gegeben. Erstens: Es ist illusionär, mit einer Beseitigung der Arbeitslosigkeit zu rechnen, mit welcher Politik auch immer und ganz gleich, wie die wirtschaftliche Konjunktur aussieht. Der zweite Punkt: Es ist infam, Arbeitslose für diese strukturelle Entwicklung schuldig zu machen und die Rechnung der globalisierten Wirtschaft von den Schwächsten bezahlen zu lassen. Es war oft verblüffend zu erfahren, mit welcher Selbstverständlichkeit Demagogie und Verlogenheit in Sachen Arbeitsmarktpolitik in diesen gutsituierten Kreisen zugegeben wurden. Weit entfernt von der glänzenden Zuversicht, die Entscheidungsträger vor den Kameras vorzuzeigen pflegen, war die Stimmung solcher Gespräche dumpfe Verlegenheit. Und deshalb wurden wir überhaupt eingeladen und erhört: Diese Leute haben einfach ein schlechtes Gewissen - was immerhin besser ist, als gar kein Gewissen zu haben. Manchmal bekommen wir auch private Botschaften von Entscheidungsträgern, die sich dafür bedanken, daß wir eine längst fällige Debatte angeregt haben. Auch sie wagen sich offenbar nicht, ihre wirkliche Meinung öffentlich auszusprechen und haben deswegen ihre heimliche Freude daran, daß andere es stellvertretend tun. Offenbar schenken viele vom ihnen der eigenen Welt nur wenig Glauben.
Auf zahlreichen Tagungen und Kongressen zur "Zukunft der Arbeit" pflegen Hofsoziologen und sonstige autorisierte Experten, sich für ein "radikales Umdenken" der Arbeitsideologie und eine "Grundsicherung für alle" auszusprechen. Solche Lippenbekenntnisse kommen beim Publikum immer gut an. Doch offensichtlich werden sie nicht bis in die Regierungskreise getragen, wo diese Spezialisten sonst verkehren. Es sind bloß Beruhigungspillen für den aufgeklärten Mittelstand. Währenddessen kann sich der Sozialabbau ungestört fortsetzen. Bekanntlich wird nicht mittels des Feuilletons bürgerlicher Zeitungen regiert, sondern mittels Bild-Zeitung und Fernsehen. Und dort reichen populistische Sprüche gegen das "Recht auf Faulheit" und für die Ausrottung der Schmarotzer aus. Soweit bekannt hat sich keiner der "querdenkenden" Staatsintellektuellen erlaubt, gegen diese Demagogie Stellung zu nehmen. Das ist nicht weiter erstaunlich.
Erstaunlich ist hingegen, daß es offenbar noch CDU-Wähler gibt, die sich an christlich-demokratische Werte halten und SPD-Wähler, die sozialdemokratische Ideale vertreten. Und Gewerkschafter, die sich Sorgen um Arbeitnehmerrechte machen. Und sogar Unternehmer, die das diffuse Gefühl haben, fürs Geschäft sei uneingeschränkter Egoismus mittelfristig schädlich. Es sind die Gruppen, die Technokraten gern "Bremser" nennen. Die rasanten Fahrer meinen, auf der Wirtschaftsautobahn ausreichend aufgeblendet zu haben. Nun träumen sie davon, alle langsameren Fahrzeuge an den Straßenrand zu katapultieren. Aber die "Bremser" sind noch da. Im mittleren und womöglich gar oberen Teil der Gesellschaft (der untere Teil ist hier nicht gefragt) scheint die angekündigte Modernisierung des Arbeitsmarkts, gelinde gesagt, keinen übermäßigen Enthusiasmus zu erwecken. Es herrscht eine gewisse Trägheit. So läßt sich vielleicht erklären, daß ein endgültiger Abschied von der alten "sozialen Marktwirtschaft" in Deutschland (im Gegensatz zu England) stets verzögert wurde.
Dabei wird keine Gegenstimme verlautbar. Warum? Unter anderem aufgrund des alten Vorurteils, Aberglaube sei für das Volk notwendig. Angeblich bräuchten sich Arbeitslose nur an der Illusion festzuklammern, sie würden eine feste, gut bezahlte Stelle wiederbekommen. Die Kritik der Arbeitsideologie sei Luxus für intellektuelle, für einfache Menschen hingegen sei die Zentralität der Erwerbsarbeit wie einst die Unfehlbarkeit der Kirche oder die Macht des Fürsten eine naturgegebene Tatsache. Lieber falsche Hoffnungen als Verzweiflung. Wer weiß, was passieren würde, wenn die Arbeitsbeschaffungslüge öffentlich platzte? Schließlich mehren sich schon Racheakte von gekündigten Arbeitnehmern oder von der Schule gewiesenen Schülern. Die innere Sicherheit verlangt nach Aufrechterhaltung der Heuchelei.
Da wir keine Soziologen sind, werden wir nicht behaupten, über die tatsächliche Stimmungslage an der Basis Bescheid zu wissen. Dennoch ist eines sicher: Es wird sich kaum noch jemand finden, der an eine Beseitigung der Arbeitslosigkeit glaubt. Zu viele Versprechen verderben den Brei. Meistens ist für Arbeitslose nicht die Gegenwart an sich das größte Problem (jahraus, jahrein lernt man sich zu arrangieren) sondern das Gefühl, am Rand des Abgrunds zu stehen. Die Zukunft droht. Mit einer generellen Verschlimmerung wird gerechnet. Jede neue Maßnahme, jede Zumutbarkeitsregel verschärft den Eindruck, im Begriff zu sein, von der Gesellschaft ausgespuckt zu werden. Wer spricht da von Konsens? Wir hören nur die Selbstbestätigung des industriell-medial-politischen Komplexes.
In Ämtern, Parks, Fitneßstudios, Imbißbuden und Bibliotheken kann man auf Arbeitslose treffen, auf Arbeitslosigkeit aber nicht. Der Existenzmodus von Arbeitslosigkeit ist kein direkt wahrnehmbarer, sondern ein statistischer. Diese Feststellung ist zwar banal, aber nicht belanglos: Sie ist Grund dafür, daß der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit eigentlich ein Kampf gegen die Statistik ist. In der ganzen Welt unterscheiden sich die verschiedenen Varianten der Arbeitsmarktpolitik bloß durch verschiedene Tricks und Maßnahmen der Statistikschonung, wobei die einfachste Variante sicherlich die sozialistische bleibt, nämlich gar keine Statistik darüber zu führen, um das Problem für nicht existent zu erklären. Es gibt auch elaborierte Alternativen wie das sogenannte niederländische Modell. Seit Jahren werden den "reformscheuen" Deutschen die Niederlande mit ihrer Arbeitslosenquote von fabelhaften 1,9% als Musterbeispiel vorgehalten. Nun, fabelhaft ist die Quote im wahrsten Sinne des Wortes, denn nicht in Betracht gezogen werden dabei achthunderttausend sogenannte "Arbeitsunfähige" - es sind 10% der Bevölkerung im Erwerbsalter! Um die Zahl der Arbeitslosen zu senken muß die Zahl der Arbeitsunfähigen gehoben werden, so einfach geht das.
Unter den bestehenden Umständen kommen grundsätzlich nur zwei Optionen der Arbeitslosigkeitsbekämpfung in Betracht. Entweder werden Arbeitslose in staatlich geförderter Jobsimulation geparkt und zu "Arbeitsmannequins" gemacht (die Zuckerbrot-Variante, ganz egal, ob die Betroffenen Zuckerbrot mögen oder nicht), oder sie werden als überflüssige Elemente behandelt, die an ihrer Situation allein schuld sind, und zu Obdachlosigkeit und Elend verdammt (die Peitsche-Variante). In der neoliberalen Optik ist die Zuckerbrot-Option zu teuer. Dagegen widerspricht die reine Peitsche-Option (noch) zu sehr den ethischen Maßstäben der westlichen Gesellschaft. Also werden stets Mischlösungen elaboriert, mit einer schleichenden Bewegung vom Zuckerbrot Richtung Peitsche. Die aktuell geplante Reform ist bloß eine neue Etappe in diesem Prozeß.
Nach all den geplatzten Seifenblasen, von schwarz bis rotgrün, konnte man in diesem Wahljahr gespannt sein: Was für ein Karnickel würde der Taschenspieler vom Kanzleramt diesmal aus seinem Hut ziehen? Der Startschuß des großen Reformspektakels war gut inszeniert. Anfang Februar wurde wie durch Zufall entdeckt, daß die Arbeitsamtsstatistik gefälscht war (Donnerwetter, wer hätte das gedacht?) Es wurde außerdem zugegeben, daß sich nur ein Zehntel der Angestellten in diesen Ämtern um Arbeitsvermittlung kümmert. Prompt wurde Chef Jagoda entlassen, dabei lieferte die Boulevardpresse plakative Schlagzeilen wie: "Arbeitsämter dumm, faul und schlecht". An dieser Enthüllung des offenen Geheimnisses hatte manch ein Arbeitsloser seine Freude - endlich einmal war ein anderer Sündenbock als er im Visier. Doch das taktische Ziel war offensichtlich eine Rechtfertigung. Nicht die Regierungspolitik und nicht der strukturelle Stellenabbau seien für das wiederholte Scheitern verantwortlich, sondern die Bürokratie. Alles sei eine Frage der effizienten Vermittlung. Man bräuchte nur das Arbeitsamt in eine "Personal Service Agentur" umzuwandeln, und alles wäre wieder gut. Spötter bemerkten, eine schnellere Vermittlung der Bewerberschlange bei gleichgbleibendem Jobangebot führte bloß zu einer schnelleren Ablehnung. Aber kurzfristig d.h. bis zur Wahl kann man so den Eindruck vermitteln, es täte sich endlich etwas Neues.
Zum Beistand wurden fünfzehn kühne Ritter um eine runde Tafel bestellt, mit VW-Boss Peter Hartz in der Artus-Rolle. Gleich wurde eine "Radikalkur", ja gar eine "Bombe im Arbeitsamt" angedroht. In der Tat: ist erst einmal am Arbeitsamt gekratzt worden, sind weitere Schönheitsreparaturen unerläßlich. Gerade die bürokratische Trägheit der Institution garantierte ihre Funktion als Behälter. Die diversen Schikanen waren als Schleusen konzipiert, die den Strom der Arbeitslosen regulierten. Wird die Schleuse abgebaut, dann droht der Strom auszuufern. Also zerbrach sich die Hartz-Kommission den Kopf über kreative Lösungen. Neu sind die entstandenen Vorschläge zwar nicht ganz (Vergrößerung des unterentwickelten Marktes für Dienstboten, Förderung der Selbstausbeutung, verstärkte Einschaltung von Jobberverleihen), aber immerhin gut verpackt. Im Bericht wimmelt es nur so von "Outsourcing" und "Jobfloater", "Controlling" und "Business-Units", alles mit dem grandiosen Ziel - dreimal darf man raten - die Arbeitslosigkeit bis zur nächsten Wahl zu halbieren, aber diesmal wirklich!
Die Neuigkeit, die zumindest als Wortschöpfung die besten Zukunftschancen hat, ist die Umwandlung des Arbeitslosen in eine "Ich-AG". Selbst diejenigen, die aus dem Markt ausgewiesen wurden, sollten sich nun als integrales Unternehmen begreifen. Man darf aber nicht alles schwarzmalen. In der Zeitschrift Telepolis hat Peter Mühlbauer sehr brauchbare Ergänzungsvorschläge gemacht. Als "Ich-AG", sagt er, sollte man von großen Aktiengesellschaften lernen und sich zum Beispiel die Methoden von Enron, Kirch, WorldCom oder der Deutschen Telekom zu eigen machen: Angaben nicht wahrheitsgemäß, sondern kreativ gestalten (z.B. fürs Kindergeld zehn Kinder angeben), im Fernsehen kostenlose Werbezeit mit Manfred Krug bekommen, den Behörden eine 0190-Beschwerdenummer geben, auf der es nur eine Warteschleife zu hören gibt ("Sollte es das Arbeitsamt dann tatsächlich schaffen, sich zuviel ausgezahlte Beträge wiederzuholen, hat man immer noch das Geld aus der 0190-Nummer"), dem Gerichtsvollzieher erklären, daß Auto, Häuschen oder Computeranlage einer anderen AG vom gleichen Ich gehören, die aber in der Schweiz registriert ist. "So lassen sich auch Schizophrene wieder gut ins Wirtschaftsleben integrieren" schreibt Mühlbauer, "nur muß der Gesetzgeber handeln und die Sozialbetrugskontrollen auf Börsenaufsichtsniveau herunterschrauben".
Mit all diesem Reformkitsch könnte man sich vielleicht noch arrangieren. Mit der Zeit haben es viele Arbeitslose gelernt, mit Simulationsmaßnahmen umzugehen. Einige Vorschläge der Glücklichen Arbeitslosen wurden sogar von der Hartz-Kommission übernommen. Seit langem plädieren wir für die Abschaffung der Arbeitsämter und die unbürokratische Geldüberweisung. Und selbstverständlich läßt sich gegen eine effiziente Vermittlung für Menschen, die eine Arbeit suchen, nichts einwenden. Aber dort machte der Reformeifer der Kommission nicht halt. Denn über die Wahlpropaganda hinaus bleibt das konkrete Ziel die Beseitigung, nicht der Arbeitslosigkeit, sondern von soviel Arbeitslosen wie möglich.[1] Die Peitsche mußte noch herausgerückt werden. So sind unsere Experten nach Wochen des intensiven Brainstormings und des kreati,ven Austauschs auf eine einleuchtende Idee gekommen: die Verschärfung der Zumutbarkeitskriterien. Eingeführt werden soll eine geographische, eine materielle, eine funktionale und eine soziale Zumutbarkeit. Verweigert ein lediger Berliner eine schlecht bezahlte, zeitlich begrenzte Stelle in München, die seiner Qualifizierung nicht entspricht, so löst er sich von der "Solidargemeinschaft" und muß folglich mit "deutlichen Einschnitten" rechnen. Im Gegensatz zum bürgerlichen Strafrecht, wo die Anklage die Schuld des Angeklagten beweisen muß, wird da die Beweislast umgekehrt: "Der Arbeitslose muß beweisen, daß eine Stelle, die er abgelehnt hat, nicht zumutbar ist." Über die ausgedehnte Anwendung solcher Regeln zeigt sich das Gremium so zuversichtlich, daß es sich bereit erklärte, auf eine pauschale Reduzierung der Bezugsdauer oder Höhe des Arbeitslosengeldes zu verzichten: "Die individuellen Kürzungen werden so wirksam sein, daß man generelle Kürzungen nicht braucht".
Man würde sich in der Annahme schwer täuschen, diese Reform beträfe nur eine Minderheit arbeitsunwilliger Arbeitsloser. Auf diesem Umweg sollen die generellen Beschäftigungsverhältnisse in Deutschland umgestülpt werden. Geht es den Erwerbslosen schlechter, dann den Arbeitnehmern auch. Bekanntlich zieht die Generalisierung der Zeitarbeit die Arbeitsbedingungen nach unten. Herr Schleyer Junior von der Hartz-Kommission hat schon deutlich gewarnt: "Auch für die Beschäftigten dürfte in absehbarer Zeit nichts mehr so sein wie es war." Damit sind Lohnkürzungen, Flexibilität (auf gut deutsch bedeutet das Wort: Biegsamkeit) und erzwungenes Nomadentum gemeint.
Hinter dem üblichen Vorwand der Arbeitslosigkeitsbekämpfung ist die Reform bloß eine weitere Episode der fortdauernden Umverteilung nach oben. In Berliner Bezirken dringen angestellte Schnüffler in Wohnungen von Sozialhilfeempfängern ein, um zu spähen, ob die gekaufte Matratze wirklich notwendig, oder eine Vergeudung der Sozialleistung war. Währenddessen meldet die Presse, daß die Länder in diesem Jahr über die Finanzämter Milliardenbeträge an die Großkonzerne ausgezahlt haben. Man braucht keinen allzusehr ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, um die ständige Beschwörung einer "Solidargemeinschaft" als blanken Zynismus zu bewerten.
Vor lauter Kritik der aktuellen Regierungspolitik möchten wir nicht den Eindruck hinterlassen, die Glücklichen Arbeitslosen unterstützten die CDU. Schließlich will auch Gerhard Stoiber "die Funktion der Sozialhilfe als Mindestlohn auflockern". In diesem Bereich wie in vielen anderen sind Parteienunterschiede unbedeutend. Nicht von ungefähr hat der Kanzler einer "unabhängigen" Kommission die Umgestaltung des Systems überlassen. Im Technokratenjargon nennt sich das "Outsourcing" der Politik. Wie Don Vito Corleone hat Peter Hartz einen Vorschlag gemacht, den keiner ablehnen kann. Ganz gleich, wer die Wahl gewinnt, die Illusion namens Arbeitsmarktpolitik wird von einer "parteiübergreifenden Projektkoalition" (Hartz) aufrechterhalten werden.
Das schöne an der Börse ist, daß ein Vertrauensverlust der Aktienbesitzer eine sofortige Wirkung hat. Kein Vertrauen, und gleich ist die Finanzkrise da. Leider ist es im sozialpolitischen Feld nicht so, ansonsten hätte der allgemeine Überdruß längst eine offene Krise verursacht. Zwar machen sich Experten Sorgen: "Die immer neuen Negativmeldungen erschüttern das Vertrauen der Bürger in die Wirtschaft und in ihre eigene Zukunft" (Spiegel Online, 7.8.02). Und sie träumen von einem "massiv positiven Ereignis, das die Leute überrascht." Wir wissen, daß kein positives Ereignis kommen wird, sondern mehr heiße Luft. Aber die kommende Wahl wird keine Gelegenheit bieten, um aus diesem Erkenntnis praktische Folgen zu ziehen. Wenn alle Parteien die gleiche Ideologie vertreten, kann auch kein Stimmzettel als Mißtrauensvotum dienen. Daher plädieren manche dafür, einen neuen Gesellschaftsvertrag zu schließen. Noch bevor man darüber nachdenkt, sollten sämtlichen Förderern der Arbeitsmarktfiktion ein gesellschaftlicher Mißtrauensantrag verpaßt werden.
Uns wurde manchmal vorgehalten, unsere Vorstellungen würden die Gesellschaft ins Mittelalter zurückführen. An einem Punkt mag der Einwand vielleicht stimmen: Zur Zeit Karl des Großen war der Kaiser dazu verpflichtet, jedem Untertan im Reich Kost und Wohnung zu sichern. Um sich zu vergewissern, daß diese Pflicht der Barmherzigkeit eingehalten wurde, zögerte er nicht, eine aufwendige Bürokratie zu beschäftigen. Selbst wenn eine solche Maßnahme heute keine ultimative Lösung darstellen würde, sie wäre immerhin ein Fortschritt im Vergleich zum aktuellen Gesellschaftsstand. Das dunkle Zeitalter? Das ist eher jenes, das zur Zeit in postpolitischen Gremien entworfen wird.
Vorabdruck aus: Mehr Zuckerbrot, weniger Peitsche. Aufrufe, Manifeste und Faulheitspapiere der Glücklichen Arbeitslosen (Guillaume Paoli Hg.); Edition Tiamat. Das Buch erscheint am 15. September 2002.
1) In der kurzen Zeitspanne, die nötig war, um diesen Text zu schreiben, wurden folgende Entlassungen angekündigt: Bayer weit mehr als 10000 Stellen ; Infineon 5000 , Epcos 1300, Deutsche Bank 14500, Dresdner Bank 11000, Kommerzbank 4300, HypoVereinsbank 9100.
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