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Updated: 18.12.2012 15:51
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Existenzsichernder Mindestlohn?

Text des Vortrags von Rainer Roth beim Hanauer Sozialforum, DGB-Region Main-Kinzig, IG Metall Hanau, ver.di Hanau am 15.11.2006

Auf dem Boden der Lohnarbeit müssen Menschen im Allgemeinen ihre Arbeitskraft als Ware verkaufen. Der Preis dieser Ware wird Lohn genannt. Wie der Preis jeder Ware hängt auch dieser Preis von den Kosten der Wiederherstellung (Reproduktionskosten) der Arbeitskraft und von Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt ab. Er fällt unter die Reproduktionskosten, je mehr Arbeitskräfte freigesetzt werden, je mehr sich die Warenbesitzer auf dem Arbeitsmarkt unterbieten und je tiefer die Spaltung zwischen erwerbstätigen und erwerbslosen LohnarbeiterInnen ist.

Im Unterschied zu anderen Preisen wie z.B. dem von Bananen enthält der Lohn jedoch ein starkes subjektives Element. Seine Höhe hängt auch davon ab, welches Bedürfnisniveau die Lohnabhängigen für notwendig halten, wie gut sie organisiert sind, wie sie dafür kämpfen und wie stark das Bündnis zwischen Beschäftigten und Erwerbslosen ist, das die Konkurrenz abmildert.

Es kann also nicht nur um einen Lohn gehen, der die Existenz sichert. Existenz heißt Dasein. Das bloße Dasein wäre schon gesichert, wenn nur das physische Überleben garantiert wäre. Da wäre noch viel Luft für Löhne weit unterhalb von 7,50 Euro.

Die Höhe der Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn muss sich also daran orientieren, was eine Arbeitskraft unter den konkreten Umständen in Deutschland mindestens braucht. Man muss sich also Gedanken über dieses "Mindestens" machen. Die Forderung nach einem Mindestlohn muss begründet werden mit dem, was ein lohnarbeitender Mensch zum Leben braucht, nicht damit, was der Arbeitsmarkt gegenwärtig hergibt.

Wie wäre es mit einer breiten Umfrage, um das festzustellen? Diese Möglichkeit hätten Gewerkschaften, nutzen sie aber überhaupt nicht. Auch eigenständige wissenschaftliche Untersuchungen über die Höhe der notwendigen Reproduktionskosten von Lohnarbeitern werden nicht unternommen.

Angesichts dieser kümmerlichen Ausgangslage auf Seiten der LohnarbeiterInnen sind wir gezwungen, hilfsweise die Maßstäbe heranzuziehen, die das Kapital selbst und verschiedene Institutionen entwickelt haben. Allerdings nur zur Orientierung, nicht zur kritiklosen Übernahme.

I) Der Mindestlohn muss oberhalb von Alg II liegen!

Die Forderung des DGB-Bundesvorstands nach 7,50 Euro brutto läuft bei einer 38,5 Stundenwoche auf 1.252 Euro brutto oder bei einem KV-Beitrag von 13,8% auf 912 Euro netto hinaus. Der durchschnittliche Alg II-Bedarf eines alleinstehenden Lohnabhängigen mit 1.252 Euro brutto liegt aber schon bei rd. 930 Euro, d.h. 650 Euro Regelsatz plus Warmmiete und mindestens 280 Euro Freibetrag. Der Alg II-Bedarf definiert vom Standpunkt des Kapitals aus die unterste Grenze eines Mindestlohn.

Ein gesetzlicher Mindestlohn, der darunter liegt, ist inakzeptabel. Ver.di schreibt:" Bei Vollzeittätigkeit nicht auf zusätzliche Almosen und Unterstützung angewiesen zu sein, ist Grundlage des Selbstwertgefühls eines jeden Menschen ." (Arm trotz Arbeit, 2006, 2; www.mindestlohn.de) 7,50 Euro jedoch machen im Durchschnitt zusätzliche Unterstützung notwendig. Die Mindestlohn-Forderung des DGB-Vorstandes läuft auf die Forderung nach einem Kombilohn hinaus. Unsere Forderung muss sein: Mindestlohn statt Kombilohn , nicht Mindestlohn als Kombilohn.

II) Die Mindestlohnforderung muss ein Bündnis von Erwerbstätigen und Erwerbslosen ermöglichen; die Höhe des Mindestlohns darf keine Regelsatzerhöhung ausschließen.

Der Regelsatz des gegenwärtigen Alg II-Niveaus reicht im Durchschnitt nicht aus, um bis zum Monatsende über die Runden zu kommen. Eine deutliche Regelsatzerhöhung liegt im Interesse der Erwerbslosen. Die Gewerkschaftsführungen stellen jedoch keine Forderung nach einer Erhöhung des Regelsatzes auf. Das fällt Erwerbslosen in den Rücken. Ursache ist m.E. die kümmerliche 7,50 Euro-Forderung. Wer 7,50 Euro fordert, kann im Prinzip keine Forderung nach einer Erhöhung des Regelsatzes aufstellen. Würde der Regelsatz z.B. auf 420 Euro angehoben, wie es immerhin der Paritätische Wohlfahrtsverband fordert, läge der Alg II-Bedarf schon bei 1.005 Euro. Der entsprechende Mindestlohn müsste dann 8,70 Euro die Stunde übersteigen, wenn er kein Kombilohn sein sollte. Die 7,50 Euro-Forderung ist mit einer Erhöhung des Regelsatzes nicht vereinbar, es sei denn, man möchte den Kombilohncharakter des Mindestlohns ausbauen.

420 Euro Regelsatz schließen aber ein, dass nur 3,79 Euro am Tag für Ernährung zur Verfügung stehen. Außerdem wird mit diesem Regelsatz akzeptiert, dass das Lebensniveau von Erwerbslosen auf der Basis des wesentlich niedrigen Verbrauchs von über 65-jährigen festgelegt wird. (Vgl. Thesen zum Regelsatz von Alg II-BezieherInnen, Klartext e.V., November 2006 - www.klartext-info.de) Der Eckregelsatz müsste allein aus diesen beiden Gründen mindestens 500 Euro betragen.

7,50 Euro schwächen also das notwendige Bündnis zwischen Erwerbslosen und Erwerbstätigen. Der gesetzliche Mindestlohn muss so hoch sein, dass er oberhalb eines deutlich erhöhten Regelsatzes liegt. Gesetzlicher Mindestlohn und Regelsatzerhöhung gehören untrennbar zusammen.

III) Der Mindestlohn muss mindestens so hoch sein wie der Betrag, ab dem die vom Kapital vorgeschlagenen Kombilöhne auslaufen

Kombilöhne sind Lohnsubventionen. Der vom Kapital angestrebte Kombilohn (negative Einkommensteuer) ist eine Abart eines gesetzlichen Mindestlohns, nur dass bedeutende Teile dieses "Lohns" nicht vom Kapital selbst, also den Käufern der Ware Arbeitskraft, sondern über Steuermittel von der Masse der Lohnabhängigen bezahlt werden sollen.

Der Standpunkt des Kapitals lautet: " Je höher die Zuverdienste ausfallen, die der Staat anrechnungsfrei lässt, desto besser ." (FTD 14.04.2005) " Es dürfte dann (bei höherem anrechnungsfreien Arbeitseinkommen) einen Abwärtsdruck auf die Stundenlöhne geringqualifizierter geben ," kommentierte die FTD. (21.03.2005)

Der Sachverständigenrat der Bundesregierung tritt für einen Lohnzuschuss ein, der erst bei einem Nettoeinkommen von rd. 1.000 Euro ausläuft. Der Betrag, an dem die Lohnsubvention ausläuft, definiert faktisch das Mindesteinkommen, das ein Lohnabhängiger braucht. Dieses zuschussfreie Mindesteinkommen eines Lohnarbeiters als Höchstbetrag für staatliche Lohnsubventionen ist wiederum vom Interesse des Kapitals begrenzt, möglichst wenig Steuermittel für den Ausbau der Lohnsubventionen einzusetzen, um eher weitere Gewinnsteuersenkungen durchsetzen zu können. Gewerkschafter sollten mit der Höhe des gesetzlichen Mindestlohns nicht das unterbieten, was das Kapital und seine Sprachrohre selbst als Mindesteinkommen ohne Staatszuschuss für notwendig halten.

Man sollte mal zusammenstellen, bei welcher Summe nach den verschiedensten Vorschlägen von Kombilohn-Befürwortern die Lohnsubventionen auslaufen sollen.

1.000 Euro netto jedenfalls entsprechen aber rd. 1.440 Euro brutto mtl. oder rd. 8,60 Euro brutto/Std., liegen auf jeden Fall über den 7,50 Euro.

IV) Der Mindestlohn darf nicht unterhalb der Pfändungsfreigrenze liegen

Die Pfändungsfreigrenze beträgt derzeit 990 Euro. Dem würden bei einer 38,5 Stundenwoche rd. 8,40 Euro brutto/Std. entsprechen. Ein Mindestlohn muss mindestens ein Lohn sein, der nicht gepfändet werden darf. Die Höhe der Pfändungsfreigrenze ist aber von dem Interessen des Finanzkapitals durchtränkt, möglichst viel pfänden zu können. Gewerkschafter sollten mit ihrer Mindestlohnforderung diese vom Finanzkapital gesetzte Größe nicht unterschreiten.

V) Die Mindestlohnforderung von 2000 sollte beibehalten werden

Eine frühere Forderung u.a. der HBV und der NGG aus dem Jahr 2000 lautete 3.000 DM als untersten Lohn festzusetzen, umgerechnet waren das 1.534 Euro. Von 2000 bis 2006 sind die Lebenshaltungskosten um 10% gestiegen. Wir kämen also auf 1.687 Euro im Jahr 2006. Das wären bei einer 38,5 Stundenwoche 10,10 Euro brutto.

Wieso ist die frühere Mindestlohnforderung um 25% gesenkt worden? Soll das der Stärkung der Binnennachfrage dienen? Mit einer Orientierung an dem, was man mindestens zum Leben braucht, hat die Senkung auf 7,50 Euro nichts zu tun. Eher mit einer Orientierung an der internationalen Wettbewerbsfähigkeit des Kapitals, d.h. an der Höhe der Renditen.

VI) Die Mindestlohnforderung darf nicht unterhalb der offiziellen Armutsdefinition liegen

Die offizielle Armutsdefinition des 2. Armuts- und Reichtumsberichts setzt für 2001 als Armutsrisikogrenze 938 Euro in Deutschland. Das entspricht der EU Definition für Armut. Fortgeschrieben mit einer Preissteigerung von 8% wären das 1.013 Euro netto oder rd. 8,75 Euro.

" Mit einer Vollzeiterwerbstätigkeit sollte ein Einkommen bezogen werden können, das eine Teilhabe am allgemeinen Wohlstand ermöglicht und zumindest oberhalb der Armutsrisikogrenze ... liegt ." (Armutsbericht 2005, 102) Löhne, die netto diesen Betrag unterschreiten sind Armutslöhne. In der Ver.di-Broschüre aber heißt es:" Mit einem gesetzlichen Mindestlohn nicht unter 7,50 Euro ... werden Armutslöhne ... bekämpft ... ." oder: "Arbeit darf nicht arm machen. Deshalb mit 7,50 Euro beginnen (ab 1.1.2008) und schrittweise auf 9 Euro erhöhen ."

Die von der EU-Kommission festgesetzte Armutsgrenze ist verfälscht durch das politische Bestreben, möglichst niedrige Armutsquoten auszuweisen. Das drückt sich auch darin aus, dass die Armutsgrenze für Nicht-Erwerbstätige und Erwerbstätige einheitlich festgesetzt wird. Erwerbstätige haben allein deswegen einen noch höheren Bedarf als 1.013 Euro, weil sie Werbungskosten haben.

VII) Wenn ein gesetzlicher Mindestlohn alle die oben genannten Kriterien erfüllen soll, muss er bei mindestens zehn Euro liegen.

Dafür treten viele Erwerbslose und Gewerkschafter ein. Dafür steht der Frankfurter Appell. Dafür stehen auch viele Kräfte der Sozialen Bewegung, unter anderem attac oder das Aktionsbündnis Sozialproteste, das Bündnis 3. Juni usw..

VIII) Mindestlohn gleich Menschenwürde?

7,50 Euro zahlen - das ist " auch eine Frage der Menschenwürde ", heißt es in der ver.di -Broschüre "Arm trotz Arbeit".

Ein Armutslohn, von dem man nicht einmal sich selbst einigermaßen ernähren kann, geschweige denn ein Kind, soll menschenwürdig sein? Wenn dermaßen beschönigt wird, muss an der Forderung etwas faul sein.

Das Lohnniveau von zehn Euro die Stunde macht nur die Erhaltung einer Arbeitskraft selbst auf einem bescheidenen Niveau möglich. Nicht aber die Erhaltung der Arbeitskraft in dem Sinn, dass jede Generation von Arbeitskräften durch eine neue Generation von Arbeitskräften abgelöst werden muss, also durch die Kinder der bestehenden Arbeitskräfte. Die Arbeitskraft wird gewissenmaßen über Kinder abgeschrieben. Ohne diesen Nachwuchs kann auch das Kapital nicht weiterbestehen. Es möchte aber gefälligst für die Kosten des Nachwuchses nicht aufkommen.

Die offizielle Armutsgrenze der EU für Kinder unter 15 Jahren liegt 2006, fortgeschrieben mit der Preisentwicklung, bei 303 Euro oder 30% der Armutsrisikogrenze.

Gegenwärtig beträgt das Kindergeld nur die Hälfte davon.

Im Lohn einer Arbeitskraft müssten also mindestens weitere 150 Euro enthalten sein, damit ein Kind pro Arbeitskraft auf dem Niveau der offiziellen Armutsgrenze, also auf Sparflamme, ernährt werden kann. Es sei denn, man sagt, dass die Unterhaltungskosten von Kindern nicht zu den Produktionskosten der Ware Arbeitskraft gehören, sondern aus Steuermitteln getragen werden müssten.

Dann aber würden Lohnabhängige für Lohnsubventionen eintreten, die sie sich selbst bezahlen, damit das Lohnniveau im Interesse des Kapitals unter die Reproduktionskosten abgesenkt werden kann.

Zehn Euro brutto sind also ein massives Zugeständnis. Ein Zugeständnis, dass der gegenwärtigen Schwäche geschuldet ist, zu der die partnerschaftliche Zusammenarbeit der Gewerkschaftsführungen mit dem Kapital und seiner Regierung viel beiträgt.

Ein Leben in Würde und sozialer Gerechtigkeit würde auch ein Mindestlohn von zehn Euro nicht verkörpern. Es sein denn, man hält den Verkauf von Ware Arbeitskraft an einen Käufer, der an ihrer Nutzung verdienen will, für die Verwirklichung der Menschenwürde und der sozialen Gerechtigkeit.

Mit Hilfe der rasant steigenden Produktivität vermindert das Kapital die Nachfrage nach Arbeitskraft immer mehr und verstärkt damit die Tendenz, das Lohnniveau zu senken. In Deutschland ist 2005 zum ersten Mal in einem Jahr des Aufschwungs die Bruttolohnsumme gesunken.

Nicht nur die Lohnhöhe, sondern das Lohnsystem selbst steht in wachsendem Maße auf dem Prüfstand. Das kapitalistische System, das mit wachsender Produktivität gleichzeitig wachsenden gesellschaflichen Reichtum und wachsende Armut von überflüssig Gemachten und Erwerbstätigen produziert, ist nicht das Ende der geschichtlichen Entwicklung.


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