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Analyse des Gegenstandpunktes vom 20.8.01

Reisen bildet: Deutscher Standortpolitiker besichtigt vorbildliches Verarmungsmodell in Wisconsin/USA

Da soll noch mal einer an den Reisen unserer Politiker herumkritisieren! Nutzlose Luxustrips auf Kosten des Steuerzahlers? Im Gegenteil: Traumziel des Sommers ist der US-Staat Wisconsin und dessen Haupt-Touristenattraktion das Sozialministerium – "eine Art Pilgerstätte nicht nur für Konservative" (SPIEGEL 33/01), wo bildungshungrige Verantwortungsträger wie Hessens Ministerpräsident Koch das "spektakuläre" Armutsbekämpfungsprogramm "Ending Welfare" besichtigen und mit einem Koffer voller gemeinnütziger Vorschläge heimkehren.

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Roland Kochs Pilgerreise in die berühmt-berüchtigten "amerikanischen Verhältnisse" zielt auf Enttabuisierung jener Floskel, die im "Modell Deutschland" seit jeher als Synonym für absolute Rücksichtslosigkeit im Umgang mit den Verschlissenen und Ausgemusterten des Kapitalismus fungiert. Denn natürlich stand die "Erkenntnis", die er an diesem erbaulichen Ort gewinnen würde, vorher fest: Zwang zur Arbeit ist die einzige Welfare. Die Erfolgsmeldung "Sozialhilfeempfänger um 90% reduziert!" lautet glasklar: Armut wird beseitigt, indem man die Ansprüche auf staatliche Fürsorge beseitigt. In diesem Sinne ist nicht nur, wie generell in USA, soziale Alimentation auf maximal 5 Jahre der Lebenszeit lohnabhängiger Weißer und Schwarzer begrenzt; Stütze bekommt auch nur der, wer unter behördlicher Aufsicht einen Job sucht. Diese sinnreiche Verknüpfung wird ergänzt durch "community service jobs", die bislang bloß "passive Leistungsempfänger" zu aktiven Straßenfegern befördern. Die, die der Offerte "Wisconsin Works" nicht widerstehen können, erhalten auf Einkaufs-Chipkarte einen elektronischen Warenkorb, mit dem der Staat die Lebensbedürfnisse seiner Elendsgestalten zu- und einteilt (also keinen Alkohol und Zigaretten). Die andern "ca. 40%", die keine Arbeit finden oder sich dem Programm verweigern, "fallen unter die Armutsgrenze und aus der Statistik heraus": Eine zynische, aber treffende Ausdrucksweise dafür, dass diejenigen, die "es" schaffen – irgendeinen Job "mit dem gesetzlichen Mindestlohn von 5,15 $" abzukriegen –, per definitionem nicht arm sind, während der selbstverschuldet arme Rest in der Gosse endgültig für keinerlei staatliches Interesse gut ist. Zu meckern, gar diese soziale Ordnung zu stören, die solche Existenzen in aller Regelmäßigkeit hervorbringt, registriert, dienstverpflichtet und/oder ganz abschreibt, haben sie deshalb beide nicht. Dafür steht Kochs "Vorbild Wisconsin!"

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"Vorbild Wisconsin?" Das Echo, das der "Vorstoß" erfährt, ist so einhellig wie aufschlussreich: Gibt es bei uns doch schon! Die Kritik – "abgekupfert von dem, was die Bundesregierung getan hat und tut" (Kanzler Schröder), "alter Hut" (Gabriel, Niedersachsen), "in Hessen längst üblich" (Sozialamt Offenbach), "400 000 erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger werden schon auf Initiative der Sozialämter beschäftigt" (Deutscher Städtetag), die einfühlsame Frage: "Wie soll man mit 900 DM Sozialhilfesatz ein noch bescheideneres Leben führen können?" (Schreiner, SPD) – unterstreicht offen den Konsens der Demokraten hinsichtlich Geist und Ziel moderner Sozialpolitik:

- Wo der Urheber der aktuellen Debatte mit dem Motto "Sozialhilfe ist kein Lebensstil" agitiert (FAZ, 15.8.) und der Bundeskanzler, der auch schon "Kein Recht auf Faulheit" dulden wollte, mit dem Vorwurf des Plagiats kontert, da sind die herrschenden Manager des Sozialstaats sich einig: darin, den Willen aussortierter Lohnabhängiger als Frage eines frei gewählten Lifestyles in Haftung zu nehmen, der Staatsalmosen "schick" finde statt anständig zu arbeiten; also darin, dass es Arbeitslose auf Dauer nur gibt, weil es an ausreichendem Zwang fehle, einen nützlichen "Beitrag für die Gemeinschaft zu leisten" (Koch). Welche staatliche Behandlung diese als Schmarotzer entlarvten dreisten Lebenskünstler verdienen, ist keine Frage:

- Wo die Ansage eines "Hessisches Modells", Sozialhilfe als irgendwie gearteten Lohnersatz zu streichen und an pure Arbeitswilligkeit zu binden, das Echo ‚Brauchen wir nicht, haben wir schon‘ erntet; wo die Sozialdemokratie das Projekt mit ihrer erfolgreichen Verarmungspolitik und folgerichtiger Problematisierung von Schmerzgrenzen konterkariert; wo leitende Charaktermasken der Armutsbürokratie treuherzig versichern, wie viele Faulenzer sie schon zur Arbeit "motiviert" und wie vielen die Staatsknete gekürzt haben, da ist klar: Das "amerikanische Experiment" soll sich an der Realität deutscher Elendsbuchhaltung und Armendisziplinierung als überflüssiges Vor-Bild blamieren. Sollte der Tabubrecher das etwa übersehen haben?

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Natürlich nicht. Erstens kann "das sehr bescheidene Leben bis hin zur Wohnunterkunft", das Koch in Aussicht stellt, nie bescheiden genug sein; vor allem aber geht es ums Prinzip. Und da zeitigt die Reise nach Wisconsin längst politische Wirkung: Die Heimatsozialfront gibt zu Protokoll, dass sie "amerikanische Verhältnisse" nicht nur nicht abschreckend findet, sondern Deutschland sich genau daran messen will.

- "Amerikanische Verhältnisse", das steht für: Deutschland will die Standort-Konkurrenz kapitalistischer Länder bestehen, auf höchstem Niveau. Hauptgegner sind die USA; darum muss Europa auch in der Hinsicht von Amerika lernen: Erhalt und Reproduktion des im globalen Wettbewerb unrentabel oder kaputt gemachten Teils der heimischen Arbeiterklasse ist vom Standpunkt dieses Vergleichs, der über den Reichtum der Nationen entscheidet, reiner Luxus. Also sind diese lästigen Kostgänger des Haushalts ausschließlich zu behandeln, wie er jene immer schon bilanziert: als zu minimierenden Un-Kostenfaktor. Eine deutliche Auskunft: Die Verbilligung der Armut ist eine Waffe im Kampf um Weltmarktanteile; sie gilt es kräftig zu schmieden.

- "Deutsche Verhältnisse", das steht darum umgekehrt für: Die jahrzehntelang gepflegte Ideologie vom bundesdeutschen Sozialstaat als auffangbereitem Netz für Not leidende Lohnarbeiterfamilien wird ungeniert für die Sache genommen, definitiv als real existierende "Hängematte" für asoziale Drückeberger und somit als Hindernis für den Erfolg des Standorts D gehandelt. Die berechnende Stilisierung einer rechten Opposition, rot-grüne Armutsverwaltung als sozialromantische Rücksichtnahme auf Besitzstände ihrer proletarischen Klientel zu denunzieren, ist die dazu passende propagandistische Keule.

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Denn das ist das Wisconsin-Theater, neben vorauseilender Begleitmusik zu einer weiteren Etappe Verelendung, freimütig auch noch: ein Lehrstück über die Produktivkraft der Demokratie, solche Fortschritte unter konstruktiver Anteilnahme der Regierten auf den Weg und über die Bühne zu bringen. Der Verdacht, der "Populist Koch" betreibe mit dem Thema "bloßen Wahlkampf" und wolle sich "als harter Hund profilieren" (SZ, 7.8.), trifft fraglos zu – und verpasst doch den Witz. Bloß Stimmen fangen will der CDU-Reservekandidat so wenig, wie er "den Stammtischen" nach dem Mund redet; womit, also mit welchen von oben ausgegebenen Beurteilungsmaßstäben, man sich in dieser Republik und bei ihrem Volk beliebt macht: Das ist der Hammer. Wer als Schädlinge der Nation identifizierte Leute am härtesten anzupacken vermag, darum geht die Konkurrenz der Parteien um die Glaubwürdigkeit ihrer Spitzenpersönlichkeiten in dieser Sache.

- Die zupackende Pose des hessischen Landesfürsten, seine Macht zur Auflösung des menschlichen Reformstaus auf den Sozialämtern zu nutzen, hat eben diesen Inhalt: Per Anstachelung von Sozialneid auf Wohlfahrtsempfänger beim Wahlvolk aller Klassen um Sympathie werben. Zum Führen qualifiziert sich, wer "angesichts der Herausforderungen der Globalisierung" den Leuten am konsequentesten an ihrem Lebensunterhalt herumstreicht.

- Das lässt die zu Unrecht als Mattmänner verdächtigten Sozis nicht ruhen. Der Kanzler bezichtigt den möglichen Rivalen fachlicher Inkompetenz im gleichen Anliegen ("amerikanische Versatzstücke, die sich nicht einfach auf Deutschland übertragen lassen"); der Verteidigungsminister will "Arbeitslosen bis 25 kommunale Angebote wie Altenpflege und Umweltschutz machen. Wer sie nicht annimmt, brauche offenbar keine Hilfe und verliert damit jede öffentliche Unterstützung" (Scharping, WamS 19.8.)

Sozialstaatliche Pauperisierung als demokratischer Diskurs: Die Herrschenden überbieten sich im Erfinden von Zumutungen an die von der Wirtschaft Ausrangierten, damit das Elend aus der Welt geschafft wird. Jedenfalls aus der Welt, die den Staat etwas kostet.

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