Nebensache Mensch:
Über das Elend des Regelsatzes von Alg
II und das Versprechen der Eingliederung von Langzeitarbeitslosen
Vortrag von Rainer Roth auf einer Veranstaltung
des Forums Gewerkschaften, der DGB-Region Nordhessen u.a. in Kassel am
14.01.2005
Unter Ausschluss der Öffentlichkeit ist mit Hartz
IV das Existenzminimum neu bemessen worden. Ein neuer Regelsatz von 345
Euro wurde aus der Taufe gehoben.
Bisher hat sich die Aufmerksamkeit kaum darauf gerichet, eher auf Lohndumping,
die verschärfte Zumutbarkeit der Arbeit die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe
und jetzt auf die "Ein-Euro-Jobs".
Wie der Regelsatz von 345 Euro zustandegekommen ist und
wie er sich zusammensetzt, legt die Bundesregierung bis heute nicht im
Einzelnen offen. Sie hält es die Bemessungsgrundlagen für das
Existenzminimum von Millionen Menschen geheim. Aber ein Jahr nach der
Verabschiedung dieses Regelsatzes ist etwas durchgesickert. Der DPWV hat
die Ergebnisse der Sonderauswertung der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe
1998 (EVS 1998), die der Bemessung des regelsatzes zu Grunde lag, in ihren
groben Strukturen veröffentlicht. (Der Paritätische Wohlfahrtsverband,
"Zum Leben zu wenig ..." Eine offene Diskussion über das
Existenzminimum beim Arbeitslosengeld II und in der Sozialhilfe. Berlin
Dezember 2004)
I) Ausgaben für Nahrung und Genuss im
Regelsatz
- Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit stehen
einem Alg II-Bezieher von seinen 345 Euro mtl. täglich 0,88 Cent
für Frühstück und jeweils 1,67 Euro für Mittag-
bzw. Abendessen zur Verfügung oder 4,02 Euro am Tag. (Hinweise
der BA zur Durchführung des Alg II, BA 9.14) Insgesamt sind im
Regelsatz 4,23 Euro am Tag für Nahrung und Getränke enthalten.
(info also 2004, 189) Die verbleibenden 21 Cent täglich können
Sie für Kaffee und Kuchen ausgeben. Guten Appetit, wünscht
die Bundesregierung. Im alten Regelsatz waren noch 4,35 Euro tägl.
drin.
- Für Gaststättenbesuche sind 0,34 Cent
täglich eingeplant. Das sind ein Drittel der realen Ausgaben der
unteren 20% der Einpersonen-Haushalte der Verbrauchergruppen der EVS,
aus deren Ausgabeverhalten der Regelsatz abgeleitet wurde. Nur der reine
Nahrungsmittelanteil (eben ein Drittel) wird anerkannt, nicht z.B. die
im Verkaufspreis enthaltenen Personalkosten eines Kellners oder die
Mietkosten der Gaststätte.
- Nach dem Mittagessen darf ein AlgII-Bezieher auch rauchen.
18 Cent kann er dafür täglich ausgeben. Das reicht für
1-2 Zigaretten. Alg II ist was für Nichtraucher. Im alten Regelsatz
durfte man noch die 3-4 Zigaretten konsumieren.
Mit dem Regelsatz wird das Rauchen bekämpft. Ob das dem Einfluss
der gesundheitsbewußten Grünen zuzurechnen ist?
Aber auch die Trunksucht wird energisch angegangen. Denn
im alten Regelsatz waren noch 27 Cent täglich für alkoholische
Getränke erlaubt. Die sind jetzt gestrichen.
Für Nahrung und Genuss insgesamt stehen heute
4,75 Euro tägl. zur Verfügung. Im alten Regelsatz waren es noch
5,31 Euro. Der Staat, der dieses lausige Lebensniveau zugesteht und noch
kürzt, nennt sich stolz Sozialstaat. Und wer immer ihn als
Sozialstaat bezeichnet, muss sich darüber im klaren sein, das er
damit diesem Armutsniveau ebenfalls das Schild "sozial" umhängt.
Die Ausgaben für Nahrung, Getränke und Genussmittel
sind gesenkt worden, weil nach Auffassung der sozialdemokratischen Bundesregierung
die gegenwärtige Höhe des Sozialleistungsniveaus ein "Fehlanreiz"
(Schröder) ist, der die Motivation zu arbeiten schwächt. Zweifellos
steigt mit 88 Cent fürs Frühstück die Bereitschaft alles
zu tun, um aus dem Bezug dieser "Sozial"leistungen herauszukommen.
Und die Bereitschaft würde sicher noch mehr steigen, wenn man den
Umfang der zugestandenen Nahrungsmittel noch weiter kürzt. Die Verweigerung
von Leistungen erscheint als "sozial".
II) Regelsatz - relativ zu gestiegenen Ausgaben
gekürzt
Man soll nun nicht glauben, dass ein AlgII-Bezieher diese
4,75 Euro tatsächlich zur Verfügung hat. Denn eine ganze Reihe
Ausgaben werden im neuen Regelsatz gegenüber dem alten Regelsatz
nicht mehr anerkannt, obwohl es sie gibt. Das führt dazu, dass man
weniger zu essen hat.
Die Ausgaben z.B. für Telefon werden nicht mehr zu 100%, sondern
nur noch zu 60% anerkannt. 17,85 Euro mtl. stehen dafür zur Verfügung,
statt der tatsächlich ausgegebenen 29,75 Euro. Die zwölf Euro
werden im Wesentlichen über Verzicht bei der Ernährung wieder
"hereingeholt".
Mit den 17,85 Euro mtl. sollen vor allem "die Grundgebühren
für Telefon und ein durchschnittlicher Verbrauch an Gesprächsgebühren
erfasst" sein. (Verordnung zur Durchführung des _ 28 des Zwölften
Buches Sozialgesetzbuch (Regelsatzverordnung - RSV), Begründung,
info also 4/2004, 187) Die Grundgebühr für den einfachsten Anschluss
der Telekom macht 15,66 Euro aus. Es bleiben 2,21 Euro für den "durchschnittlichen
Verbrauch". In diesem sollen jetzt auch die Internetzugangskosten
enthalten sein. Denn ein "Ausschluss von den Informationsmöglichkeiten,
die das Internet bietet, (wird) nicht mehr als akzeptabel angesehen."
(ebda. 187) Für den Internetzugang werden zwar zusätzliche Gebühren
fällig. Wie man Zugang zum Internet bekommt, ohne Gebühren zu
zahlen, dieses Problem muss in Eigenverantwortung gelöst werden.
Aber die ja erfreulicher durch Hartz IV erheblich gestärkt worden.
Eigenverantwortung braucht man auch, um mit Ausgaben für Computer
und Software in Höhe von 1,83 Euro mtl. (der Hälfte der realen
Ausgaben) sich die nötige Hard- und Software zu beschaffen. Jedenfalls
hat die Bundesregierung mit den im Regelsatz gekürzten Ausgaben für
Nachrichtenübermittlung alles getan, um den Ausschluss der Armutsbevölkerung
aus dem Internetzugang zu beenden.
Haushaltsstrom wird nicht mehr zu 100%, sondern nur
noch zu 85% anerkannt, 20,74 Euro im Monat statt 24,40 Euro.
60 Cent am Tag stehen für Verkehrsmittel zur Verfügung.
Das reicht vielleicht für eine Hin- und Rückfahrt in der Woche
in Großstädten.
Das KfZ ist als Vermögen jetzt weitgehend anerkannt. Darauf
sind Clement und die Bundesagentur mächtig stolz. Clement und Eichel
aber haben dafür gesorgt, dass im Regelsatz nicht ein Cent für
die Unterhaltungskosten eines KfZ vorgesehen ist. Obwohl die unteren Verbrauchergruppen
sowieso nur 18,40 Euro im Monat dafür ausgeben. Die Gesamtsumme der
insgesamt gekürzten Ausgaben beläuft sich auf rd. 37 Euro. Der
Regelsatz ist also im Verhältnis zu den früher anerkannten realen
Ausgaben erheblich gekürzt worden.
III) Maßstab für den neuen Regelsatz
war letztlich der alte Regelsatz
Andererseits sind andere Positionen in höherem Umfang
anerkannt worden, vor allem Ausgaben für Freizeitgestaltung und Gesundheitskosten.
Schließlich hat sich die Struktur der Verbrauchsausgaben von 1983
bis 1998 verändert. Der alte Regelsatz wurde ursprünglich auf
der Grundlage einer Auswertung der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe
1983 festgelegt.
Letztlich wurde der neue Regelsatz von 345 Euro so festgesetzt, dass bei
der Auswertung der EVS 1998 genauso viel gekürzt wurde, wie an zusätzlichen
Ausgaben zugestanden werden musste. Es kam für 1998 genau der
Regelsatz heraus, der 1998 sowieso schon bezahlt wurde. Maßstab
für den Regelsatz war also letztlich der bisher gezahlte Regelsatz,
nicht die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe. Relativ zu den gestiegenen
Ausgaben bedeutet der Regelsatz von 345 Euro also eine deutliche Senkung,
keine sichtbare absolute, sondern eine unsichtbare relative Senkung. Der
Regelsatz hätte nicht gleichbleiben, sondern erheblich erhöht
werden müssen.
IV) Regelsatz erhöht?
Die Bundesregierung versprüht ganze Wolken von Sozialparfum.
"Der neue Regelsatz verbessert die Situation der betroffenen Menschen."
(Pressemitteilung Nr. 653 vom 16.12.2004) Die Bundesregierung verhindert
die notwendige Steigerung des Regelsatzes und faselt von Verbesserung.
Der neue Regelsatz ist ein Meisterstück sozialdemokratischer Heuchelei.
Aber liegt nicht der neue Regelsatz bei 345 statt bei vorher 297 Euro?
Ist das nicht eine Verbesserung?
Für den, der vorher einmalige Beihilfen nicht in dieser Höhe
in Anspruch genommen hat, ist es eine Erhöhung.
Aber: die zusätzlichen 48 Euro entsprechen genau dem, was bislang
im Durchschnitt bei einem Alleinstehenden tatsächlich von den Sozialämtern
ausgegeben wurde.
Es handelt sich also allenfalls um die Beibehaltung des bisherigen Zustandes,
nicht um eine Verbesserung. Aber auch hier hätte mehr gezahlt werden
müssen, denn die Ausgaben unterer Verbrauchergruppen für Bekleidung
wurden nur zu 90% anerkannt, die für Schuhe und für Möbel
nur zu 80%. Wären sie zu 100% anerkannt worden, hätte der Regelsatz
allein deswegen um 6 Euro höher ausfallen müssen.
Bei minderjährigen Kindern liegen die heute anerkannten Beihilfen
sogar 20% unter dem, was bisher bezahlt wurde. (Helga Spindler, Die neue
Regelsatzverordnung - Das Existenzminimum stirbt in Prozentschritten,
info also 2004, 150) Und die Regelsätze der Mehrheit der Kinder,
nämlich der Schulkinder wurden um etwa 10% gesenkt. Wenn Eltern das
ausgleichen, kürzt sich ihr Regelsatz.
In wachsendem Maße werden die Unterkunftskosten nicht mehr
als angemessen anerkannt. Die Angemessenheit richtet sich nach den Mietobergrenzen
des Wohngeldgesetzes plus einem Aufschlag oder nach dem Mietspiegel. Die
verfügbaren freien Wohnungen aber werden in der Regel zu Mieten oberhalb
des Mietspiegels angeboten. Wird dann nach einem halben Jahr nur noch
der angemessene Mietteil gezahlt, kürzt das den Regelsatz.
All das und andere nicht als "regelsatzrelevant" angesehene
Ausgaben führen dazu, dass die Armutsbevölkerung in der Regel
für Nahrung und Genuss nicht 4,75 Euro tägl., sondern nur etwa
die Hälfte ausgeben kann. Das ergab eine nahezu unbekannte Untersuchung
auf der Grundlage des Mikrozensus 1998. (Rainer Roth, Sozialhilfemissbrauch,
Frankfurt 2004, 22)
V) Forderung:
Regelsatz von mindestens 460 Euro
Der Paritätische Wohlfahrtsverband fordert die Erhöhung
des Regelsatzes um 19% auf 412 Euro. (FR 21.12.2004) Er fordert zu Recht,
dass die Kürzungen bei der Anerkennung regelsatzrelevanter Ausgaben
rückgängig gemacht werden müssen. Dabei berücksichtigt
er jedoch nicht, dass Stromkosten nicht mehr zu 100%, sondern nur noch
zu 85% anerkannt werden und dass alle Ausgaben für alkoholische Getränke
gestrichen wurden. Beides zusammen macht zusätzliche 12 Euro aus.
Der Paritätische tritt dafür ein, dass die Ausgaben für
KfZ in Höhe von 18,40 Euro in den Regelsatz aufgenommen werden. Aber
er berücksichtigt nicht, dass die tatsächlichen Ausgaben für
Ernährung nicht ausreichen, um eine vollwertige Ernährung zu
ermöglichen. Verschiedene Untersuchungen von Ernährungswissenschaftlern
kamen für die 90er Jahre zu dem Schluss, dass die im Regelsatz enthaltenen
Ernährungsausgaben deswegen um mindestens 30% höher sein müssten.
(vgl. Roth, Sozialhilfemissbrauch, Frankfurt 2004, 28) 30% wären,
bezogen auf den bis 2004 im Regelsatz enthaltenen Ernährungsanteil
zusätzlich rd. 40 Euro.
Erst ein Regelsatz von etwa 460 Euro wäre also halbwegs ausreichend.
Dieser Regelsatz wäre Grundlage für bescheidenes Grundeinkommen
für Erwerbslose. Es müsste bei 460 Euro plus den Kosten für
Unterkunft und Heizung, also bei etwa 850-900 Euro liegen.
VI) Regelsatz darf kein Rentnerinnen-Regelsatz
sein
Die Verbrauchergruppe von Alleinstehenden der unteren 20%
der Verbrauchergruppen steht Modell für das Existenzminimum. Sie
setzt sich überwiegend aus Rentnern zusammen.
Da Daten über die Altersstruktur der Ein-Personen-Haushalte der unteren
Verbrauchergruppen der EVS 1998 geheimgehalten werden, müssen wir
auf die Altersstruktur der Ein-Personen-Haushalte unterer Verbrauchergruppen
aus der EVS 1993 zurückgreifen.
Danach waren von 1.642 Ein-Personen-Haushalten, die ein Einkommen unter
1.600 DM hatten, rd. 50% über 70 Jahre alt. Weitere 11,1% waren zwischen
65 und 70. Etwa drei Viertel der Ein-Personen-Haushalte bestand aus Frauen.
(Statistisches Bundesamt, Wirtschaftsrechnungen, Einkommen- und Verbrauchsstichprobe
1993, Fachserie 15, Heft 4 Einnahmen und Ausgaben privater Haushalte,
Wiesbaden 1997, 148-149; 202-203)
Die typischen Arbeitslosen sind aber nicht weiblich und über 70,
sondern männlich und zwischen 25 und 45 Jahre alt. Deren im Regelsatz
anerkannte Verbrauchsausgaben sind höher als die von Rentnerinnen.
Die unteren 20% der Verbrauchergruppen sind insgesamt als Basis für
das Existenzminimum unbrauchbar. Das Existenzminimum müsste aus einem
Warenkorb heraus bestimmt werden, der sich aus den Gütern zusammensetzt,
die als notwendige Bedürfnisse anerkannt werden. Eine interessante
Aufgabe für die den Gewerkschaften nahestehenden Institute wie das
WSI, die bis heute nicht angepackt wurde.
VII) Kapital und Wirtschafts- und Finanzministerium
wollen Kürzung des Regelsatzes um 25%
Die 345 Euro sind ein fauler Kompromiss. Die Dachorganisation
aller Unternehmen in Deutschland, der Deutsche Industrie- und Handelskammertag,
ebenso Stoiber, Merkel usw. will die Senkung des Regelsatzes um 25% auf
259 Euro oder auf 3,56 Euro für Nahrung und Genuss am Tag. Dasselbe
wollen Clement und Eichel. Bisher konnten sich allerdings noch nicht durchsetzen.
Sio konzentrierte sich die Bundesregierung zunächst auf die Abschaffung
der Arbeitslosenhilfe und die Umsetzung von Hartz IV in Behörden,
die erst noch eingerichtet werden müssen. Die Senkung des Regelsatzes
ist auf die Zukunft verschoben worden. Sie wird aufs Tapet kommen, wenn
sichtbar wird, dass die Hartz-Reformen nicht die prophezeite Wirkung auf
die Senkung der Arbeitslosigkeit haben.
VII) Regelsatzkürzung im nationalen
Interesse?
Wer weniger Geld für Essen hat, kann sich wenigstens
trösten, dass er damit nationalen Interessen dient. Denn mit Hilfe
der Agenda 2010 soll Deutschland an die Weltspitze kommen. (Bundesregierung,
agenda 2010, Deutschland bewegt sich, November 2003, 5) Deutschland soll
endlich nicht mehr Schlusslicht sein, soll den Wiederaufstieg schaffen.
Aber auch mit einer Senkung des Regelsatzes um 25% oder um 30%, wie es
der Sachverständigenrat der Bundesregierung vorschlägt, wäre
Deutschland noch nicht an der Spitze. Hier sind die USA anzutreffen, denn
die zahlen überhaupt keinen Regelsatz für Erwerbslose.
Der DGB-Bundesvorstand behauptet: "Wer bisher Sozialhilfe erhalten
hat, profitiert von der neuen Regelung." (DGB, Arbeitslosengeld II,
Tipps und Hilfen des DGB, Berlin Oktober 2004, 6)
Der DGB-Bundesvorstand besteht überwiegend aus SPD-Mitgliedern. Die
SPD setzt ihre Politik der sozialverträglichen Senkung des Existenzminimums
mit Hilfe der von ihr gestellten Bundesregierung und des von ihr
beherrschten Bundesvorstandes des DGB durch. Wer wie der DGB-Vorstand
Regierungsparolen unter Arbeitslosen und Beschäftigten verbreitet,
konnte wegen der grundsätzlichen Zustimmung zu Hartz IV auch weder
zu den Montagsdemonstrationen, noch zur bundesweiten Demonstration am
1.11. oder zu der im Oktober 2004 aufrufen.
Das spaltet Erwerbslose und Beschäftigte und schwächt sie und
nützt nur dem Kapital. Gewerkschafter, die ihren Namen verdienen,
müssen eine selbständige Haltung gegenüber dem Kapital
und seiner Regierung einnehmen und nicht auf dem Beifahrersitz Platz nehmen.
Interessen des Kapitals aufdecken, nicht vertuschen, ist die Aufgabe.
Es muss aufgezeigt werden, dass hier völlig entgegengesetzte Interessen
bestehen.
VIII) Regelsatz hat große Bedeutung
- Es geht nicht um Florida-Rolf und Kampf gegen Missbrauch.
Es geht letztlich um die Höhe des Mindestlohns. Sozialhilfe ist
in erster Linie Maßstab für Mindestlohn, nicht Hängematte
für Schmarotzer. Regelsatzsenkungen zielen auf Lohnsenkungen. (Ausführlich
dazu: Roth, Sozialhilfemissbrauch, Wer mißbraucht hier wen?, Frankfurt
2004) Aufklärung darüber müsste mehr in die Betriebe
getragen werden. Das aufzudecken und damit ein Bündnis zwischen
Erwerbslosen und Beschäftigten herzustellen, ist eine wichtige
gewerkschaftliche Aufgabe
Ein höherer Regelsatz bedeutet Erhöhung des faktischen Mindestlohns.
Zu fordern wäre ein gesetzlicher Mindestlohn. Der müsste bei
etwa 1.100 Euro netto liegen oder zehn Euro brutto die Stunde. Diese
Forderung stellt der Frankfurter Appell, der das bisher beste Gegenprogramm
der LohnarbeiterInnen zu Lohn- und Sozialabbau durch das Kapital darstellt.
Es gilt, ihn mehr zu verbreiten und Unterschriften darunter zu sammeln.
- Es geht mit der Senkung des Regelsatzniveaus auch nicht in erster
Linie um neue Chancen für Arbeitslose, sondern um staatlich organisiertes
Lohndumping, wobei ein zu geringer Regelsatz die Bereitschaft fördert,
zu Armutslöhnen zu arbeiten.
Lohndumping erhöht die Profite. Sozialdemokratische Gewerkschafter
sehen bei den Hartz-Gesetzen üblicherweise Chancen und Risiken.
Sozialabbau ist aber eine Chance für das Kapital, nicht für
die Arbeitslosen und Lohndumping ist kein Risiko, sondern beabsichtigtes
Ziel der Regierung. Mit dem Motto- Hartz IV - Chancen und Risiken werden
die Wirkungen auf die Arbeitslosen und Beschäftigten geschönt
und die Interessen des Kapitals vertuscht. Die Kräfte, die Hartz
IV so einschätzen, haben versucht, Mobilisierungen zu behindern
bzw. zu verhindern oder, wenn das nicht ging, an die Spitze zu treten,
an der sie gar nicht standen.
- Es geht mit Hartz IV nicht um die Konsolidierung des Sozialstaates,
sondern Sozial- und Personalabbau, damit die bisherigen Gewinnsteuersenkungen
refinanziert und neue Gewinnsteuersenkungen vorbereitet werden können.
- Es geht auch nicht um Deutschland, sondern um die Erhöhung von
Profiten einer Minderheit, die sich mit Deutschland verwechselt. Deutschland:
das ist immer noch die Mehrheit der hier lebenden Menschen, vor allem
die LohnarbeiterInnen.
IX Hohle Versprechungen auf Eingliederung
in den Ersten Arbeitsmarkt
Für ein ausreichendes Mindesteinkommen für Erwerbslose
zu kämpfen, wird immer dringender. Denn die Versprechungen, mit Kürzungen
von Sozialleistungen und Löhnen bzw. jetzt mit Ein-Euro-Jobs neue
Chancen auf Wiedereingliederung in Vollzeitstellen des Ersten Arbeitsmarkts
zu fördern, sind völlig hohl. Die Nachfrage nach Ware Arbeitskraft
durch das Kapital sinkt nämlich mit steigender Produktivität.
Arbeitsgelegenheiten sind nur zumutbar für Arbeitslose, "die
keine Arbeit finden können". (_ 16 Abs. 3 SGB II) Wenn Ein-Euro-Jobs
so energisch ausgebaut werden und soviel Aufmerksamkeit als wichtigste
Eingliederungsmaßnahme genießen, dann eben deshalb, weil die
Chancen, auf dem Ersten Arbeitsmarkt existenzsichernde Arbeit finden
zu können, erheblich abgenommen haben. Weil also die Tendenzen
zur Ausgliederung stärker ist als die zur "Eingliederung".
- 2003 gab es 5,1 Millionen sozialversicherungspflichtige Vollzeit-Stellen
weniger als 1991. (Bundesministerium für Gesundheit und Soziale
Sicherung, Statistisches Taschenbuch 2004, Tab. 2.5A) 2004 sank die
Zahl der sozialversicherungspflichtigen Vollzeitstellen noch einmal
um 300.000. Um Vollzeitstellen müsste es doch bei der Eingliederung
gehen oder?! Weniger Vollzeitstellen bedeuten weniger Chancen und mehr
Ausgliederung!
- 2003 wurden gesamtwirtschaftlich über 4 Mrd. Arbeitsstunden
weniger gearbeitet als 1991. (Statistisches Taschenbuch 2004, Tab. 4.8)
Allein von 2000 bis 2003 sind 1,5 Milliarden Arbeitsstunden weggefallen
oder rechnerisch eine Million Vollzeitstellen. Das Kapital braucht aufgrund
der technologischen Revolution für seinen beschränkten Profitzweck
immer weniger Arbeitskräfte. Also gibt es auch weniger Chancen,
dass die Ware Arbeitskraft gekauft wird.
Trotz einer gewaltig gestiegenen Produktivität pro Stunde ist die
Arbeitszeit von Vollzeitbeschäftigten heute länger als 1991.
Arbeitszeitverlängerung bedeutet: noch weniger Chancen für
Arbeitslose.
- Vollzeitstellen werden abgebaut, Minijobs dagegen ausgebaut.
Inzwischen gibt es 8 Millionen davon. Sie sind überwiegend Nebenbeschäftigungen,
die nicht von Arbeitslosen, sondern von RentnerInnen, Schülern,
Studierenden, Hausfrauen oder Erwerbstätigen wahrgenommen werden.
Man kann allein davon nicht leben, ist hier weder kranken- noch renten-
bzw. arbeitslosenversichert. Solche Jobs sind mit Hartz IV für
Arbeitslose ebenfalls zumutbar.
Auch hier: weniger Chancen, von Arbeit selbständig, d.h. ohne Unterstützung
leben zu können.
- In den Bereichen des öffentlichen Dienstes sowie der
von staatlichen Zuschüssen abhängigen sogenannten Dienstleistungen
im Bildungs-, Gesundheits-, und Sozialwesen sind Millionen Menschen
beschäftigt. Ihr Schicksal hängt nicht zuletzt von Steuereinnahmen
ab. Und die sind vor allem aufgrund der Gewinnsteuersenkungen durch
die Steuerreform massiv gesunken. Die Staatsfinanzen stecken in einer
tiefen Krise.
Die Chancen, beim Staat oder bei Wohlfahrtsverbänden Arbeit finden
zu können, sind erheblich gesunken. Auch der Staat fördert
also die Ausgliederung, u.a. auch durch die von ihm betriebene massive
Arbeitszeitverlängerung.
- Ähnliches wie beim Staat spielt sich bei den von den Einnahmen
der Sozialversicherungen abhängigen Bereichen ab. Senkung der Lohnnebenkosten
bedeutet sinkende Nachfrage nach Arbeitskraft z.B im Gesundheitswesen,
aber auch bei "Dienstleistungen" für Arbeitslose usw..
- Es geht bei Hartz IV um Langzeitarbeitslose. Diese setzen sich vor
allem aus den sogenannten Problemgruppen des Arbeitsmarktes zusammen.
Dazu zählen laut Statistischem Bundesamt "insbesondere Jüngere,
Ältere, Frauen, Ausländer und Schwerbehinderte." (Statistisches
Bundesamt, Datenreport 2002, Bonn 2002, 103) Also die Mehrheit. Ein
früherer Chef von Infineon redete von "Schwach-Performern".
Je höher die Produktivität, je weniger Arbeitskräfte
Unternehmen brauchen, je länger die Arbeitszeit und je stressiger
die Arbeit, desto eher werden die Schwächeren in die Arbeitslosigkeit
ausgesondert.
Aus ihr herauszukommen wird mit wachsender Produktivität immer
schwieriger. 1973 war jeder 12.te Arbeitslose länger als ein Jahr
arbeitslos. Heute ist es jeder zweite. (Rainer Roth, Nebensache Mensch,
Frankfurt 2004, 53 f.)
Langzeitarbeitslosigkeit ist in der Regel keine Entscheidung, die man
freiwillig trifft, weil man Hängematten mag, sondern ein Produkt
des Wirtschaftssystems, das immer mehr Menschen überflüssig
macht.
Frage: Ist das Kapital, das so viele Menschen überflüssig
macht, nicht selbst eine Problemgruppe?
Die Chancen derjenigen, die zu alt, zu krank, zu stark behindert
usw. sind, vermindern sich also. Sie werden ausgegliedert. Eine 44-jährige
Frau, die als Stationshilfe entlassen wurde, weil ihre Arbeitsstelle bankrott
ging, hat sich erfolglos auf Büro-, Lager und Verkäufertätigkeiten
beworben sagte:" Aber mit 44 Jahren ist man wohl einfach zu alt."
(Stern 2/2005, 53)
Die Lohnarbeit taugt immer weniger als Rahmen für die Entwicklung
und Nutzung menschlicher Energien und Fähigkeiten.
- Je weniger Möglichkeiten das Wirtschaftssystem hergibt, desto
mehr werden die Armeen der Überflüssigen auf Eigenverantwortung
verwiesen. Sie sollen sich selber eben mehr anstrengen, wie sie weiterkommen,
als wären sie nicht trotz ihrer Anstrengung arbeitslos, sondern
wegen ihrer zu geringen Anstrengungen.
Bei 4,4 Millionen offiziell arbeitslosen und 300.000 offenen Stellen
ein unverschämter Versuch, die Verantwortung vom Wirtschaftssystem
auf die Arbeitskräfte selbst zu verlagern.
Mit den Hartz-Gesetzen sollen ausgerechnet die Arbeitskräfte, die
die Käufer der Ware Arbeitskraft ausgegliedert haben, jetzt wieder
eingegliedert werden? Das ist lächerlich. Wenn sie eingegliedert
werden, werden statt ihrer überwiegend andere erwerbslos.
- Mit den Hartz-Gesetzen sollen Langzeitarbeitslose mit einer modernisierten
Behörde wieder eingegliedert werden. Wenn Arbeitsämter sich
in total moderne Dienstleistungsunternehmen, namens Arbeitsagenturen
verwandelen, wenn die Vermittlung verbessert wird, dann soll es klappen.
Ursache der Arbeitslosigkeit ist aber nicht das Versagen
einer Behörde oder nicht professionelle Vermittlung. Arbeitslosigkeit
ist kein Behördenproblem, wie die staatsgläubigen Vertreter
des Kapitals behaupten, um von sich abzulenken.
Ursache ist das auf die Mehrung seines privaten Profits beschränkte
Interesse des Kapitals an menschlichen Fähigkeiten.
Deshalb ist auch Quatsch, von der Privatisierung der Bundesagentur für
Arbeit eine Lösung des Problems zu erwarten. Und die ist ja über
die Schaffung von als GmbH organisierten Arbeitsgemeinschaften in vollem
Gange. Privates Profitstreben, private Interessen im allgemeinen, sind
die Ursache der Probleme und nicht das Mittel zur ihrer Lösung. Nicht
privaten Interessen von Arbeitslosen und Beschäftigten, sondern die
des Kapitals erzeugen Arbeitslosigkeit.
- Wichtigste Ursache der Arbeitslosigkeit ist auch nicht
in der falschen Politik der SPD zu suchen, die man einfach mit einem
Politikwechsel wechseln müsste. Sie ist auch nicht in der Ideologie
des Neoliberalismus zu suchen, die plötzlich von den Köpfen
der Herrschenden und ihrer Parteien Besitz ergriffen hat und mit Hilfe
von Aufklärung durch die Ideologie der sozialen Gerechtigkeit ersetzt
werden müsste.
Sie ist darin zu suchen, dass das Kapital mit Hilfe der technologischen
Revolution immer weniger Ware Arbeitskraft braucht, um sich zu verwerten.
Sie ist darin zu suchen, dass dieser Prozess durch Krisen beschleunigt
wird, die ebenfalls durch die Produktivität unter der Regie des
Kapitals hervorgerufen werden. (Roth, Nebensache Mensch, Frankfurt 2003,
291-319)
Die Hartz-Gesetze reagieren auf die tiefste Krise der Nachkriegszeit
in Deutschland. Sie dauerte länger als je zuvor, nämlich drei
Jahre von Mitte 2001 bis Mitte 2004. Seither ist ein schwächlicher
Aufschwung festzustellen, der darin besteht, dass ab Mitte 2004 die
Industrieproduktion wieder das Niveau des letzten Höhepunkts von
2000 überschritten hat.
Die tiefste Krise der Nachkriegszeit äußerte sich beim Finanzkapital
darin, dass die Kreditinstitute und Versicherungen 2003 zum ersten Mal
insgesamt Verluste ausgewiesen haben. Beim Staat gibt es die größten
Haushaltsdefizite der Nachkriegszeit und und bei den Sozialversicherungen
die größten Löcher der Nachkriegszeit.
Die Krise war Ergebnis gestiegener Produktivität. Wenn immer mehr
Produkte mit immer weniger Arbeitskräften hergestellt werden, ergibt
sich daraus, dass periodisch Überproduktionskrisen ausbrechen
müssen, in denen die Überkapazitäten als Grundlage der
Überproduktion mitsamt der überflüssigen Arbeitsäfte
abgebaut werden müssen. In jeder Krise fallen die Profitraten,
aber auch in der langfristigen Entwicklung.
Die Agenda 2010 ist der Versuch des Kapitals, sie durch Lohnsenkungen,
Senkung der Sozialleistungen, Senkung der Arbeitgeberbeiträge zur
Sozialversicherung, Arbeitszeitverlängerung, Gewinnsteuersenkungen
usw. wieder anzuheben.
Fragen der Veranstalter
Die Veranstalter haben mir einige Fragen gestellt, die
ich im Folgenden versuche, knapp zu beantworten.
Wie sind die Perspektiven von Gewerkschaften in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit?
a) Immer mehr Menschen sind erwerbslos bzw. geringfügig beschäftigt.
Sie müssten von Gewerkschaften organisiert werden. Das geht nur,
wenn ihre Interessen in Gewerkschaften auch zum Ausdruck kommen. Das ist
bisher kaum der Fall. Wenn Hartz IV als Chance verkauft wird, werden Arbeitslose
abgestoßen. Das spaltet.
In Gewerkschaften muss Raum für Arbeitslose sein, sich zu treffen
und ihre Interessen auch nach außen zu vertreten. Das würde
das Bündnis zwischen Erwerbslosen und Beschäftigten stärken.
Auf der Ebene der Forderung würde das Bündnis in einer Forderung
nach Grundeinkommen in ausreichender Höhe und einem gesetzlichen
Mindestlohn in ausreichender Höhe zum Ausdruck kommen. Aber natürlich
auch im Kampf für Arbeitszeitverkürzung u.a..
b) Andererseits: wenn die Lohnarbeit immer weniger geeignet
ist, den Lebensunterhalt zu sichern, stellt das das ganze Wirtschaftssystem,
die Kapitalverwertung und die heutigen Eigentumsverhältnisse in Frage.
Letztlich haben in der Geschichte nur die Eigentumsverhältnisse Bestand,
unter denen sich Produktivkräfte ausreichend entfalten können.
Das muss auch in Gewerkschaften stärker zum Thema gemacht werden,
damit eben die Verantwortung für die Arbeitslosigkeit nicht bei den
Arbeitslosen oder bei Behörden abgeladen werden kann, sondern bei
den Eigentümern des Kapitals.
Ist der Erhalt des Sozialstaats eine sinnvolle Orientierung?
Es geht M.E. nicht darum, im Kampf gegen Hartz IV den Staat zu verteidigen,
sondern die Interessen der Lohnabhängigen. Man sollte in ihrem Namen
auftreten, nicht im Namen des Staates.
Im übrigen ist Sozialstaat eine Beschönigung, denn das Soziale
ist geprägt von den Interessen des Kapitals. Elendsniveau sollte
nicht als sozial verkauft werden. Es ist eher asozial.
Im übrigen kann die Erhaltung des Sozialstaates auch Aufruf zur Erhaltung
von Sozialämtern, Arbeitsämtern usw. verstanden werden, die
die konkrete Form des Staates im sozialen Bereich darstellen. Sollen wir
uns für die Erhaltung von Sozialamt oder Arbeitsagenturen einsetzen?
Merkwürdig.
LohnarbeiterInnen sollten ohne Umweg ihre eigenen Interessen vertreten.
Sie sollten ein ausreichendes Existenzminimum für alle LohnarbeiterInnen
verlangen, nicht um den Staat zu erhalten, der sich so aggressiv gegen
die Freigesetzten wendet, sondern um sich selbst zu schützen.
Genauso ist es bei den Löhnen. Lohnforderungen
sollten nicht in erster Linie gestellt werden, damit die Binnennachfrage
steigt und darüber die Unternehmen mehr Waren verkaufen und mehr
Profit machen können. Lohnforderungen sollten gestellt werden, damit
die Arbeitskräfte, die allen Reichtum produzieren, ihre Bedürfnisse
unter konkreten historischen Umstanden auch befriedigen können.
Bietet der Keynesianismus einen Ausweg aus der Krise?
Wer glaubt noch an Keynes?
Kern des Keynesianismus ist die Abschöpfung von Profiten durch Steuererhöhungen,
die den Staat dazu befähigen sollen, selbst zu investieren und Arbeitsplätze
zu schaffen.
Keynes strebte eine "ziemlich umfassende Verstaatlichung der Investitionen
... (für) das einzige Mittel zur Errreichung einer Annäherung
an die Vollbeschäftigung" an. (Allgemeine Theorie der Beschäftigung,
des Zinses und des Geldes, Berlin 1936 und 1994, 319) Zu diesem Zweck
müssen die Gewinne progressiv besteuert, die Erbschaftssteuer erhöht
und die Kapitalüberschüsse abgeschöpft werden. Sonst könnte
der Staat diese Aufgabe nicht erfüllen.
Seit Mitte der 70er Jahre aber sehen wir überall sinkende
Gewinnsteuern. Das hängt mit dem Fall der Profitraten seit der Weltwirtschaftskrise
1975 zusammen. Bis heute haben sie sich etwa halbiert. Das müsste
verstärkt Untersuchungsgegenstand werden. (zuletzt Robert Brenner,
Boom und Bubble, Hamburg 2003) Die Steuersätze können letztlich
nicht gleichbleiben, wenn sich die Basis der Steuersätze halbiert,
die Profitrate. Die tatsächliche Höhe der Steuersätze ist
natürlich auch von den jeweiligen Kräfteverhältnissen abhängig.
Sie ist auch eine politische Frage. Profitraten fallen langfristig aufgrund
steigender Produktivität und aufgrund von Krisen. (vgl. Roth, Nebensache
Mensch, Frankfurt 2003, 218-233)
Diejenigen, die sich heute als Anhänger von Keynes bezeichnen würde,
treten für Gewinnsteuersenkungen ein. Gewinnsteuersenkungen aber
sind der Tod des Keynesianismus, weil das eben die notwendigen Investitionen
dem Kapital überlässt, das aufgrund zu niedriger Profitraten
Investitionen einschränkt, den Kapitalüberschuss vermehrt, den
Rentnerkapitalismus stärkt usw.. Die IG Metall hat wie der DGB-Bundesvorstand
als ganze die Steuerreform begrüßt, die ab 2001 den Körperschaftssteuersatz
auf 25% senkte und damit gegenüber 1998 nahezu halbierte.
Jetzt fordert die IG Metall die Wiederanhebung auf 30%. Sie erklärt
sich also weitgehend mit der massiven Senkung des Steuersatzes der Kapitalgesellschaften
einverstanden. Mehr noch. Sie bezeichnet die 30% als solidarische Einfachsteuer
und als gerechte Steuerpolitik. Was Gewinnsteuersenkungen mit Solidarität
zu tun haben, ist ein Rätsel. Die einzige Solidarität, die zu
sehen ist, ist die Solidarität mit den Interessen des Kapitals.
Mit Keynes hat das alles nichts zu tun. Es sind allenfalls Worte übriggeblieben.
Ebenso scheint es keynesianisch zu sein, höhere Löhne zu fordern,
um die Binnennachfrage stärken. Das aber steht in einem völligen
Mißverhältnis zu der Bereitschaft, genau die Lohnsenkungen
zu exekutieren, die das Kapital verlangt (vgl. Daimler, Siemens usw..).
Es ist ein Widerspruch in sich, die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe
zu beklagen, weil das die Binnennachfrage weiter senken würde, aber
keinen Kampf gegen die Abschaffung der AlHi zu führen.
Es ist ein Widerspruch, gegen Lohnsenkungen aufzutreten, aber für
die Senkung der sogenannten Lohnnebenkosten einzutreten, wie des der DGB-Bundesvorstand
tut.
Die Parole Senkung der Lohnnebenkosten richtet sich direkt gegen Arbeitslose
und gegen das notwendige Bündnis zwischen Erwerbslosen und Beschäftigten.
Nach Meinung des DGB-Bundesvorstandes sollen 250 Euro bei jedem Lohnabhängigen
sozialversicherungsfrei bleiben. Die Ausfälle bei der Sozialversicherung
sollen durch eine Mehrwertsteuererhöhung kompensiert werden. Arbeitslose
müssen die Mehrwertsteuererhöhung mit einer realen Senkung ihres
Regelsatzes bezahlen, während LohnarbeiterInnen wenigstens einen
höheren Nettolohn haben.
Die Interessen des Kapitals stehen bei DGB Führung
im Vordergrund. Sie vertritt Forderungen nur insoweit, als man meint,
dem Kapital einreden zu können, es wäre letztlich zum Nutzen
seiner Profite. Es gilt, direkt und ohne Umschweife Interessen zu benennen.
Und die wären auf Seiten der LohnarbeiterInnen: Rücknahme der
Senkungen der Gewinnsteuern und des Spitzensteuersatzes.
Ansonsten stehen Forderungen nach einem höheren Regelsatz oder einem
Mindesteinkommen für die wachsende Zahl der Überflüssigen
im luftleeren Raum. Man sollte den Mut aufbringen, seine Interessen gegen
das Kapital zu stellen. Umgekehrt ist das doch auch der Fall.
Der Keynesianismus ist mausetot, weil er im Gesamtinteresse
des Kapitals auftritt und das Kapital unglücklicherweise heute angesichts
erheblich gefallener Profitraten völlig andere Interessen hat, als
steigende Steuersätze.
Die Kapitalververwertung ist das Grundproblem, nicht der
mangelnde Staatseinfluss. Der Kapitalismus steckt in einer tiefen Krise.
Er hält sich aufrecht durch die maßlose Ausdehnung des Kredits
durch Staat, Unternehmen und private Haushalte. Er erzeugt riesige Kapitalüberschüsse,
die über den Kredit das Wachstum treiben.
Schulden können Widersprüche zwar abmildern (siehe USA), machen
sie aber in der Zukunft noch unlösbarer.
Der Kapitalüberschuss beflügelt Immobilienpreise, was wiederum
die Kreditaufnahme fördert. Er führt zu sinkenden Zinsen, was
ebenfalls die Kreditaufnahme fördert. Er kann zu steigenden Werten
von Finanzanlagen führen, deren Realisierung ebenfalls das Wachstum
fördert.
Das Kapital versucht sich aufzupäppeln, in dem es neue Möglichkeiten
für Geschäftemacherei in den Bereichen schafft, die ihm bisher
nicht so offen standen, wie z.B. im Bildungswesen, Sozialwesen, Gesundheitswesen,
im Bereich staatlicher Infrastrukturen usw..
Nicht zuletzt deshalb führt es den Angriff auf die Staatsquote. Umgekehrt
zwingen die wachsende Staatsverschuldung und die riesigen Haushaltsdefizite
den Staat dazu, seine Einrichtungen zu verscherbeln und zu privatisieren.
Vor unseren Augen entwickelt sich ein unlösbarer Widerspruch:
einerseits eine mit der technologischen Revolution stark steigende Produktivität
und höhere Produktion, andererseits aber wachsende Arbeitslosigkeit
mit dem entsprechenden Druck auf die Löhne. Eine Wirtschaftsordnung
aber die einen wachsenden Teil ihrer produktiven Kräfte vergeudet,
kurzhält und in immer wiederkehrenden Überproduktionskrisen
und Finanzkrisen teilweise wieder zerstört, wird die Jahrhunderte
nicht überdauern können.
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