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Updated: 18.12.2012 15:51
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Dirk Hauer, Sozialpolitische Opposition Hamburg

Die Auswirkungen von 1-Euro-Jobs auf das soziale Hilfesystem

Referat für die 1-Euro-Konferenz am 5.3.2005 in Hamburg

19.300 1-Euro-Arbeitsgelegenheiten hatten diverse Einrichtungen und Träger in Hamburg beantragt, doppelt so viele wie der Senat selbst geplant hatte. Selbst wenn von diesen Zwangsdienststellen nur die Hälfte wirklich eingerichtet werden: Bei diesen Größenordnungen kann das Programm nur umgesetzt werden, wenn es außerdem jede Menge Kooperationspartner gibt. Mit im Boot des 1-Euro-Programms sind deshalb nicht nur Beschäftigungsträger, sondern Wohlfahrtsverbände, Schulen, Kirchengemeinden, Initiativen und Einrichtungen des sozialen Hilfesystems.

1-Euro-Jobs bedeuten Deregulierung

Die 1-Euro-Pflichtarbeiten sollen „im öffentlichen Interesse“ sein. Deswegen haben Politik und Verwaltung sich vor allem Öffentliche Einrichtungen und die Träger der frei-gemeinnützigen Wohlfahrtspflege ausgeguckt.

Die Zwangsdienste sollen zudem „zusätzlich“ sein. Dabei wird diese „Zusätzlichkeit“ täglich produziert: Der Kahlschlag in allen Bereichen des sozialen Hilfesystems und der sozialen Sicherung, die Ausdünnung von Leistungskatalogen, jede Entlassung und jede geschlossene Einrichtung schafft neue „Zusätzlichkeiten“, mit denen 1-Euro-Tätigkeiten in diesen Bereichen gefordert und begründet werden. „Zusätzlich“ sind auch staatliche Regelaufgaben, die durch neue Gesetze entstehen, etwa Deutschkurse für MigrantInnen, die das neue Zuwanderungsgesetz seit dem 1.1.2005 vorschreibt. Ein weites Feld für erwerbslose SprachlehrerInnen, aber natürlich als 1-Euro PflichtarbeiterInnen.

Die Perspektiven sind bedrohlich: ErzieherInnen, die bei der Schließung von Kitas arbeitslos werden, sollen nach einem Jahr Erwerbslosigkeit dieselbe Arbeit in einer anderen Einrichtung oder als Tagesmutter erledigen – erzwungenermaßen und für 1 Euro die Stunde. Entlassene KrankenpflegerInnen arbeiten anschließend für 1 Euro in irgendwelchen Pflegediensten, erwerbslose MaschinenschlosserInnen oder LandschaftsgärtnerInnen leiten für 1 Euro in Beschäftigungsprojekten Jugendliche an – die dort ihrerseits auf 1-Euro-Basis arbeiten. Reguläre Deutschkurse für MigrantInnen auf 1-Euro-Basis; TechnikerInnen, die als 1-Euro-Kräfte in Schulen Labors und Geräte warten und dann mal eben schnell auch eine Krankenvertretung übernehmen können.

Bereits jetzt werden reguläre Festangestellte durch 1-Euro-Kräfte ersetzt. Bis in die Anleiter- und Fachkräftestellen hinein werden 1-Euro-Arbeitsgelegenheiten angeboten. Und 1-Euro-Arbeitsgelegenheiten entwerten die Qualifikation von KollegInnen. Immer öfter wird es heißen: „Das, was du da machst, das kann doch auch ein 1-Euro-Jobber.“

1-Euro-Jobs bedeuten Lohndumping

Für die regulären Beschäftigungsverhältnisse sind die 1-Euro-Zwangsdienste eine permanente Bedrohung. Mit diesem Drohpotenzial wird es in Zukunft noch schwieriger, Stellenabbau, Lohn- und Gehaltskürzungen oder Arbeitszeitverlängerungen zu verhindern. „Arbeitet länger! Verzichtet auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld, Schicht- und Wochenendzulagen und Pausenregelungen! Willigt in Haustarife ein! Oder wir ersetzen euch durch 1-Euro-JobberInnen!“ – Eine solche Sprache sprechen alle Arbeitgeber, auch die im Öffentlichen Dienst, bei den Kirchen und in der frei-gemeinnützigen Wohlfahrt. Vor allem spricht der staatliche Zuwendungsgeber eine solche Sprache: Warum Mittel für Honorarkräfte bewilligen, wo doch die Einrichtungen auf 1-Euro-Kräfte zurückgreifen könnten?

1-Euro-Jobs fangen die Kürzungen im Sozial- und Bildungsbereich nicht auf!

Die Motive, warum frei-gemeinnützige Träger, auch solche mit sozialem Anspruch, sich trotzdem an den 1-Euro-Zangsdiensten beteiligen, sind sicher unterschiedlich, und darüber will ich an dieser Stelle gar nicht spekulieren. Sicher ist, dass die Zwangsdienste als Lückenbüßer des sozialen Hilfesystems fungieren. Wo Regelangebote von Bücherhallen bis Mittagstische, von der Stadtreinigung bis zur Kinder- und Jugendarbeit oder zur kirchlichen Gemeindearbeit seit Jahren weggehauen werden, kommt jetzt die Pflichtarbeit als billiger Jakob daher. Ganzen Stadtteilen wie etwa St. Georg werden 1-Euro-Zangsdienste als billige und einfache Variante der Quartiersbelebung angedient.

Aber: Wer angesichts des permanenten Kahlschlags im Sozial- und Bildungsbereich auf 1-Euro-Tätigkeiten zurückgreift, der verbaut sich dauerhaft die Chance auf vernünftige Regelangebote.

Zum einen legitimiert der billige Rückgriff auf Zwangsdienste den Sozialkahlschlag: „Seht ihr, es geht doch! Trotz Sparen funktioniert doch alles!“

Zum zweiten führen die Pflichtarbeiten die öffentliche Daseinsvorsorge in ein strukturelles Desaster. Ein Bildungs- und Sozialsystem auf der Basis von 1-Euro-Billigtätigkeiten und Zwangsdiensten kann nicht funktionieren! Es wäre der Einstieg in eine Abwertungsspirale ohne Ende: Abwertung von Tätigkeiten, Abwertung von Leistungsangeboten, Deregulierung von Arbeitsverhältnissen.

Der flächendeckende Einsatz von ZwangsdienstlerInnen in der öffentlichen Daseinsvorsorge treibt die Träger und Einrichtungen in einen Dumpingwettbewerb. Zunehmend wird der Sozial- und Bildungsbereich als Markt organisiert, auf dem sich jeder und jede unterbieten muss. Der Einsatz von PflichtarbeiterInnen ist dabei ein neues und wohlfeiles Instrument in diesem ruinösen Wettbewerb, den zum Schluss nur wenige Sozial- und Bildungskonzerne überleben werden. Deshalb hat die SoPo gesagt: Wer sich an diesem Programm beteiligt, zementiert nicht nur einen flächendeckenden Zwangsdienst, sondern beteiligt sich auch an der qualitativen und quantitativen Aushöhlung von Versorgungsstandards. Und er schaufelt sich auf Dauer sein eigenes Grab.

An Träger mit Anspruch:

1-Euro-Arbeitsgelegenheiten sind arbeitsmarktpolitischer Unsinn. Sie deregulieren Arbeitsverhältnisse, und sie ruinieren die Standards des sozialen Hilfesystems. Wenn soziale Träger mit Anspruch dennoch meinen, sie müssten sich an diesem Programm beteiligen, so gibt es u.E. einige Kriterien für den Umgang mit den Betroffenen:

  • Träger und Einrichtungen mit sozialem Anspruch müssen alle offiziellen und inoffiziellen Register ziehen, um die materielle Lage der 1-Euro-PflichtarbeiterInnen zu verbessern. Die Subventionierung von HVV-Karten und Kantinenessen gehören da auf jeden Fall zu. Bezahlter Urlaub oder die Bezahlung bei Arztbesuchen oder Beratungsterminen auch.
  • Träger und Einrichtungen mit sozialem Anspruch müssen 1-Euro-Kräfte unterstützen, damit diese sich wehren können. Sie müssen ihnen ein umfassendes Informationsrecht einräumen genauso wie das Recht auf Teilnahme an Betriebsversammlungen. 1-Euro-Kräfte müssen die Zeit und die Räume zugestanden bekommen, um sich auszutauschen, sich zu beraten, sich zu organisieren.
  • Es versteht sich von selbst, dass tatsächliche Qualifizierungsmöglichkeiten angeboten werden und dass eventuelle Betriebspraktika nicht zur Sanierung eigener und fremder Wirtschaftsbetriebe auf dem Rücken billiger 1-Euro-ZwangsdienstlerInnen missbraucht werden.
  • Und es versteht sich auch von selbst, dass 1-Euro-Kräfte nach Möglichkeit und vorrangig auch im eigenen Betrieb in ein reguläres Arbeitsverhältnis überführt werden.

Denn das ist doch wohl klar: 1-Euro-PflichtarbeiterInnen haben die Wahl zwischen Pest und Cholera. So scheinbar „freiwillig“ deshalb der eine oder die andere die Pflichtarbeit verrichtet, weil ihm/ihr ansonsten zu Hause die Decke auf den Kopf fällt: Eigentlich und so richtig freiwillig wollen 1-Euro-PflichtarbeiterInnen einen vernünftigen und Existenz sichernden Job.

Danke


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