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Updated: 18.12.2012 15:51
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Kopfgeldjäger

Das Essener Modell der Gemeinwohlarbeit

Katja S. traut zunächst ihren Augen nicht, als sie an einem Mittwoch Morgen im November in ihrer ruhigen Wohnstrasse im Essener Stadtteil Steele eine mit Spaten und Besen bewaffnete Kolonne von fünf bis sechs jungen Männern den Bürgersteig entlang laufen sieht. Nebenher fährt im Schritttempo ein VW-Bus mit dem Logo der Neuen Arbeit, dem lokalen Beschäftigungsprojekt des Diakonischen Werkes. Im Wagen sitzt offensichtlich der Anleiter, der die Arbeitskolonne bei ihrem Einsatz überwacht. „Auf meinen empörten Anruf beim Geschäftsführer der Neuen Arbeit, Michael Stelzner, behauptete dieser einfach, dass es sich unmöglich um eine Einsatzgruppe der Neuen Arbeit gehandelt haben könne.“ Sollte in Zukunft die Straßenreinigung tatsächlich durch Ein-Euro-Jobber erledigt werden, überlegt die Hausbesitzerin Katja S. ihre Nebenkostenzahlungen für die öffentliche Straßen- und Wegereinigung einzustellen.

Vermutlich handelte es sich bei den Grünflächenarbeitern um Teilnehmer an einem Vorlaufprojekt zur Einführung von Ein-Euro-Jobs in Essen. Seit Oktober letzten Jahres wurden auf ‚freiwilliger Basis’ über 600 Stellen im Bereich der ‚Gemeinwohlarbeit’ mit Langzeitarbeitslosen besetzt. Die ‚Neue Arbeit’ ist gemeinsam mit anderen Beschäftigungsträgern federführend bei der Koordination und Besetzung dieser Stellen. Noch befindet sich das ganze Projekt in der Erprobungsphase, doch eine Vielzahl kleinerer Träger steht bereits mit 1.500 gemeldeten Einsatzstellen in den Startlöchern. Die fristgemäße Einführung der Pflichtarbeit scheiterte bisher daran, dass die kommunale Arbeitsgemeinschaft von Arbeitsagentur und Sozialamt (ARGE) noch nicht in vollem Umfang arbeitsfähig ist. Die Behörde war bisher hauptsächlich mit der Bewältigung der 34 000 ALG II-Anträge beschäftigt. Die pünktliche Auszahlung der ALG II-Gelder geriet auch in Essen zu einem personellen Kraftakt, so dass die Fall-Manager der ARGE noch gar nicht mit der individuellen Beratung und Vermittlung begonnen haben.

Für die von Zwangszuweisungen Bedrohten dürfte es sich allerdings nur um eine kurze Schonfrist handeln. Spätestens im April soll der ganze Apparat mit Eingliederungsvereinbarungen und Zuweisungen in vollem Umfang angelaufen sein.
Bereits jetzt laden die Job Center ihre Kandidaten gruppenweise zu sog. Beratungsgesprächen ein. Dort müssen Sie dann nach ihrem ALG II –Antrag einen zweiten Fragebogen ausfüllen. Sollten sie nicht dazu bereit sein, berufsfremd sowie bei Zeitarbeitsfirmen und Personalverleihern zu arbeiten, an Maßnahmen zur beruflichen Eingliederung teilzunehmen und bundesweit vermittelt zu werden, wird ihnen mit dem Entzug des Arbeitslosenstatus gedroht. Auch mit einer pauschalen Weitergabe ihrer persönlichen Daten an private Dritte müssen sie sich einverstanden erklären. Die Landesdatenschutzbeauftragte in NRW, Bettina Sokol, sieht darin „einen frappierenden Verstoß gegen das Sozialdatengeheimnis“.

In Essen haben die großen lokalen Beschäftigungs- und Qualifizierungsträger, die ‚Essener Arbeit- und Beschäftigungsgesellschaft’ (EABG), die ‚Jugendberufshilfe’ (JBH) und die ‚Neue Arbeit der Diakonie’ im Auftrag von Arbeitsagentur und Stadt ein Konzept für ein ‚Netzwerk der Gemeinwohlarbeit’ erarbeitet. Mit diesem ‚Projekt Gemeinwohlarbeit’ möchte die Stadt auch anderen Städten und Regionen ein nachahmenswertes Modell anbieten. Die Idee den vorbelasteten Begriff der Ein-Euro-Jobs durch die wohlklingende Formel von der GemeinWohlArbeit zu ersetzen, stammt aus einem Entwurf des Paritätischen Wohlfahrtsverbands. Für Hans-Peter Leymann-Kurtz, Mitglied des Essener Kreisvorstandes des Paritätischen, handelt es sich „angesichts der hemmungslosen Verwertung des Rohstoffs Arbeitslose bei dem Begriff der Gemeinwohlarbeit um einen zynischen Euphemismus“. Kernpunkt des Konzeptes ist die Einrichtung von zwei großen ‚Fachstellen Gemeinwohlarbeit’, die gemeinsam von EABG, JBH und NEUE ARBEIT getragen werden. Sie sind die Vermittlungsinstanz zwischen den Fallmanagern der ARGE und den 80 bis 100 kleineren Trägern von Gemeinwohlarbeitsstellen.

Die Fachstellen bemühen sich zudem aktiv um die Akquisition von neuen Einsatzstellen. Den kleinen Trägern und Vereinen wird dabei eine „passgenaue Zuweisung“ der gewünschten Arbeitskräfte versprochen. Im Fall von Konflikten stehen die Fachstellen den Trägern mit Beratung und Hilfe zur Seite. Zur Krisenintervention stehen Sozialarbeiter und Sozialpädagogen bereit. Renitente oder unzuverlässige Teilnehmer können bei den Fachstellen wieder ‚umgetauscht’ werden. Überhaupt müssen die Kandidaten in der Regel bei den Fachstellen eine zwei- bis dreimonatige Einstiegs- und Erprobungsphase durchlaufen. Dort wird beim Gruppeneinsatz z.B. in der Grünpflege ihre Arbeitsfähigkeit und –willigkeit getestet. Wer sich bewährt, wird dann für zunächst sechs Monate einem kleineren Träger zugewiesen. Die Unqualifizierten oder Unproduktiven bleiben in den Arbeitskolonnen der großen Zentren. Wer bummelt, krankfeiert oder blaumacht muss zurück zu seinem Fallmanager und wird dort mit den vorgesehenen Sanktionen bedacht. Bei den unter 25-jährigen kann die Verweigerung der Pflichtarbeit zur vollständigen Einstellung der Förderung führen. Den Einsatzstellen wird die Gemeinwohlarbeit als billiger Ersatz für Zivildienstleistende oder wegfallende ‚Arbeit-statt-Sozialhilfe’ Maßnahmen angedient.

Die Fachstellen der Beschäftigungsträger funktionieren in diesem Modell quasi wie eine Leiharbeitsagentur für Pflichtarbeitskräfte. Sie halten als Puffer die ganzen Konflikte bei der alltäglichen Umsetzung der Arbeitsdienste von der ARGE fern. Dafür werden sie mit der Zuweisung der kompletten ‚Fallpauschale’ von 500 Euro pro Monat und Teilnehmer honoriert. Nur ein kleinerer Teil dieser Pauschale landet als Mehraufwandsentschädigung bei den Pflichtarbeitern. In Essen werden 1,25 EUR pro Stunde gezahlt. Mindestens 300 Euro bleiben also bei den Fallstellen. Mit diesen ‚Kopfgeldern’ haben sich die großen Essener Beschäftigungsträger ein äußerst lukratives neues Geschäftsfeld erschlossen. Das Budget der ARGE zur Umsetzung der Gemeinwohlarbeit in Essen beläuft sich auf immerhin 83 Millionen Euro.
Weitere Wohlfahrtsverbände wie Caritas und der Paritätische Wohlfahrtsverband versuchen mit der Einrichtung eigener Koordinierungsstellen für Ein-Euro-Jobs auch noch ein Stück von dem großen Kuchen zu ergattern. Die vorher noch zaghaft von den Verbänden zu vernehmende Kritik am Sinn und Unsinn erzwungener Beschäftigung ist seitdem verstummt.

Langfristig sollen allein in Essen 6. bis 7.000 Beschäftigungsgelegenheiten eingerichtet werden. Um dieses ehrgeizige Ziel zu realisieren, suchen Stadt und Agentur weiter händeringend nach gemeinnützigen Trägern. Ein-Euro-Jobber werden angeboten wie Sauer Bier. Die Kriterien der Gemeinnützigkeit und Zusätzlichkeit sind leicht zu erfüllen. „Selbst Pflichtaufgaben können zusätzlich sein, wenn kein Geld zur Finanzierung regulärer Stellen zur Verfügung steht“, so der Leiter der Essener Arbeitsagentur Udo Glantschnig. Eine mehr als unverhohlene Einladung zur Kompensation von Stellenstreichungen und Etatkürzungen. Augenzwinkernd verkündete Glantschnig auf einer Werbeveranstaltung der Agentur, dass eine allzu genaue Überprüfung der zukünftigen Einsatzstellen nicht vorgesehen sei.

Der Fantasie sind beim Auffinden neuer Tätigkeitsfelder keine Grenzen gesetzt. So lässt sich die Essener Jägerschaft ihr marodes Jagdhaus mit Hilfe von Ein-Euro-Jobbern renovieren. Die Essener Verkehrs AG (EVAG) setzt in Zukunft in ihren Bussen und Bahnen zwanzig Ein-Euro-Kräfte als ‚Mobilitätsbegleiter’ ein. Diese Streifen- und Servicedienste wurden bisher von hauptamtlichen Mitarbeitern einer EVAG-Tochtergesellschaft erledigt. Trotz Bedenken hat der Verdi-Betriebsrat der Einrichtung dieser Beschäftigungsgelegenheiten zugestimmt.

Artikel von Tobias Hanke
Veröffentlicht in der Jungle World Ausgabe vom 23. Februar 05


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