Herausgegeben von der Bundesstiftung Rosa Luxemburg, August 1999
In fast allen Ländern der Europäischen Union nehmen Kräfte des demokratischen Sozialismus durch Opposition, Tolerierung oder Regierungsbeteiligung Einfluß auf Politik. Dies verlangt sowohl den Bezug auf und die Auseinandersetzung mit der Strategie des Neokonservatismus als auch der Sozialdemokratie. Gemeinsamkeiten müssen fixiert und Differenzen markiert werden. Die Positionen einer modernen sozialistischen Linken bedürfen der selbstbewußten Erklärung.
Freie Entwicklung eines jeden als Bedingung der freien Entwicklung aller! – Das ist die Botschaft eines freiheitlichen, modernen und demokratischen Sozialismus. Der politische Anspruch eines demokratischen Sozialismus besteht in einer solchen Gestaltung der Gesellschaften, die die Durchsetzung der sozialen und politischen Menschenrechte für jeden einzelnen und für alle garantiert. In diesem Sinne kann Sozialismus auch als die Menschenrechtspolitik moderner Gesellschaften bezeichnet werden. Sie will die Gleichheit in der Freiheit und basiert deshalb auf einer Freiheit, die sich als solidarisch erweist.
Im folgenden sollen zwölf Thesen für eine demokratisch- sozialistische Politik am Ende des Jahrhunderts formuliert werden.
Moderne Gesellschaften unterscheiden sich von den traditionellen vor- oder frühkapitalistischen Gesellschaften durch die ”fortwährende Umwälzung der Produktion und die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung” (Karl Marx). Motor dieser ständigen innovativen Veränderung ist ein institutionell geregelter Wettbewerb in Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Bildung, Medien und Kultur, der auf der pluralen Verteilung von Eigentum, Macht und Einfluß beruht. Die Sicherheiten einer Bindung an lebenslang unveränderlich scheinende Lebensbedingungen sind aufgehoben.
Die Permanenz der Modernisierung ist ein ambivalenter Vorgang. Ihre Institutionen in Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Bildung, Medien und Kultur sind in diesem Jahrhundert oft genug als Instrumente krassester Unterdrückung gestaltet worden. Daraus gingen die Katastrophen des Jahrhunderts, gingen Weltkriege, Holocaust, Völkermord, Elend, Hunger und Umweltzerstörung hervor.
Der staatssozialistische Versuch, der Spontaneität und Unsicherheit des Kapitalismus mittels einer Ersetzung von Wettbewerb und Evolution durch planmäßige Steuerung und zentrale Verwaltung der Ressourcen zu entgehen, ist gescheitert. Auch wenn historisch seiner steten Bekämpfung und den damit verbundenen Bedingungen Rechnung getragen werden muß, gilt: Die allgemeinen Voraussetzungen von Innovation und Fortschritt wurden zerstört oder konnten nicht entstehen. Die soziale Sicherheit hatte somit keine dauerhafte ökonomische Grundlage gefunden. Freiheit und individuelle Initiative wurden eingeschränkt und grundlegende demokratische Rechte waren nicht gewährleistet. Der Staatssozialismus wurde zu einer stagnierenden Gesellschaft, die zunehmend zerfiel und schließlich zusammenbrach. Er hat der Menschheit dennoch wichtige Erfahrungen vermittelt, die es kritisch zu analysieren, nicht zu denunzieren gilt.
Sozialistische Politik nach dem Untergang des Staatssozialismus bedeutet, die Entwicklungspotentiale des Wettbewerbs in Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Bildung, Medien und Kultur von der Dominanz der Kapitalverwertung zu befreien bzw. sie davor zu bewahren und ihre patriarchale Verfaßtheit zu überwinden. Erst dadurch wird es möglich, sie als Ressourcen für die Emanzipation und Entwicklung aller Individuen zu gestalten und die mit ihr verbundenen Risiken, Spontaneitäten und Unsicherheiten gemeinschaftlich zu kontrollieren und solidarisch auszugleichen. Die Gleichstellung der Geschlechter ist Konsequenz einer solchen Veränderung und zugleich Bedingung ihres Eintritts. Der Aufbruch in eine sozialistische Moderne zielt darauf ab, an die Stelle der Dominanz der Kapitalverwertung über Richtung, Gestalt und Tempo des Wandels der menschlichen Zivilisation die Dominanz sozialer, kultureller und ökologischer Zielstellungen zu setzen. Dazu bedarf es der politischen Steuerung, bewußter Gesellschaftsgestaltung und der Entwicklung von Gegenmächten, die dies durchsetzen können.
Es geht nicht um die Abschaffung von Märkten, sondern um andere Märkte; es geht nicht um die Unterdrückung unternehmerischer Initiative, sondern um neue Rahmenbedingungen für ihre soziale und ökologische Ausrichtung. Dies ist nicht durch Beschwörungsformeln wie sie im gemeinsamen Vorschlag von Gerhard Schröder und Tony Blair enthalten sind, zu erreichen, sondern dadurch, daß die Verfügungsmacht über Kapitaleigentum dort beschnitten wird, wo sie dem Gemeinwohlinteresse zuwider läuft, und sie dort neu ausgerichtet wird, wo sie jetzt zu ökologischer Degradation und sozialer Desintegration führt. Öffentliches Eigentum wird dabei eine neue Funktion erhalten müssen.
Es geht nicht um den Rückfall in eine Vor- oder Anti- Moderne, sondern um die Umgestaltung der Moderne. Die Verbindung von Moderne und Sozialismus ist nicht zwangsläufig, aber sie kann zur Gestaltungsaufgabe der Generationen des beginnenden 21. Jahrhunderts werden.
Gerhard Schröder und Tony Blair zeichnen ein Bild sozialdemokratischer Politik vergangener Jahrzehnte als Quelle von Gleichmacherei, Innovationsfeindlichkeit, ständig steigenden und unproduktiv verwendeten öffentlichen Ausgaben, von Etatismus und verantwortungslosem Anspruchsdenken. Dieses Bild ist ahistorisch und ungerecht. Es macht vergessen, welches Maß an Produktivitätsentwicklung, Innovation, sozialem und kulturellem Aufstieg breitester Schichten der Bevölkerung in den letzten 50 Jahren erreicht wurde, gerade auch weil sozialdemokratische Vorstellungen großen Einfluß hatten.
Der fordistische Wohlfahrtsstaat, der nach dem zweiten Weltkrieg in Westeuropa und den USA entstand, konnte über eine lange Phase der Prosperität weitgehende Vollbeschäftigung, im Maße der Produktivitätsentwicklung steigende Arbeitsein-kommen und an der allgemeinen Lohnentwicklung orientierte Sozialleistungen im Alter, bei Krankheit, Berufsunfähigkeit oder Arbeitslosigkeit gewährleisten, ohne allerdings Armut je vollständig überwinden zu können. Industrielle Massenproduktion materieller Güter und private Massenkonsumtion waren hervorstechende Merkmale dieses Fordismus. Damit verbunden waren eine Ausweitung partizipatorischer Möglichkeiten – z. B. der betrieblichen Mitbestimmung – und der Emanzipationschancen. Nicht alle, aber auch nicht wenige Träume der Sozialdemokratie gingen in Erfüllung. Und es war nicht nur, aber doch zuerst den Gewerkschaften, der Sozialdemokratie, sozialistischen Bewegungen und Parteien sowie der Konkurrenz mit dem Staatssozialismus geschuldet, daß Institutionen entstanden, die den Interessen der Arbeiterschaft Geltung verschaffen konnten und das Prinzip des Kapitals partiell durch das Prinzip sozialer Partizipation ergänzten. Der Wohlstand wurde allerdings mit der Unterdrückung und Ausbeutung der sogenannten Dritten Welt und der zunehmenden Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen der Gattung Mensch bezahlt. Aber auch hier gab es Entwicklungen. Das Kolonialzeitalter wurde überwunden. Die Verelendung und die Ausbeutung der Dritten Welt findet heute über bilaterale und internationale politische und ökonomische Abhängigkeit statt. Die Ökologie wurde politisches Thema und fand Einzug in gesellschaftliche Bewußtheit.
Wenn die Errungenschaften der sozialen Marktwirtschaft nun bröckeln und zerfallen, so nicht, weil schnell steigende Löhne, wachsende staatliche Umverteilungen, eine keynesianische Ausgabenpolitik und staatliche Steuerung über Großorganisationen schon immer falsch waren. Die Grenzen des alten Modells sind in hohem Maße die Folgen seines Erfolgs. Die Krise der fordistischen Arbeitsgesellschaft ist das Ergebnis eines Wachstumstyps, der nur solange funktionierte, wie immer neue Bereiche des menschlichen Lebens in Erwerbsarbeit umgewandelt, wirtschaftlich durchorganisiert und rationalisiert werden konnten, bis schließlich immer weniger gesellschaftliche Arbeit notwendig war, um alle benötigten Konsum- und Investitionsgüter zu erzeugen. Der so entstandene Reichtum an freier Zeit aber kann in einer fordistischen Arbeitsgesellschaft nur verwendet werden, um noch mehr zu produzieren und noch mehr zu konsumieren, und er wird investiert, um noch mehr lebendige Arbeit einzusparen. Dies kann nicht schrankenlos fortgesetzt werden. Die ökologischen Probleme dieses Wachstumstyps und die Zunahme ”überflüssiger Arbeit”, finden ihren Ausdruck in wachsenden Diskrepanzen zwischen Kapitalverwertung, Löhnen, Steuern, Sozialabgaben und Transfereinkommen.
Heute ist der Punkt erreicht, an dem es einer Neubestimmung des Verhältnisses von Arbeit und Leben bedarf. Freigesetzte Arbeit kann nicht vollständig reinvestiert werden, aber sie darf auch nicht überflüssige Zeit, tote Zeit einer scheinbar überflüssig werdenden Unterschicht werden. Ebenso anachronistisch ist es, freigesetzte Zeit in billige und staatlich subventionierte Dienstbotenjobs zu verwandeln. Dies ist der Weg in eine andere, neue Klassengesellschaft – hier die Hochverdiener: viel Arbeit, viel Einkommen, keine Lebenszeit – dort die Niedrigverdiener, die als Dienstboten die Kinder der Hochverdiener aufziehen, deren Haus und Garten warten und für die rasche Abwicklung aller unprofitablen Lebenstätigkeiten sorgen. Diese neue Klassenspaltung wäre anti- modern und anachronistisch.
Anstatt auf die Errungenschaften des sozialdemokratischen Zeitalters nur herabzusehen, wie es Gerhard Schröder und Tony Blair tun, sollte versucht werden, sie grundlegend gewandelt in neue Gesellschaftsstrukturen einzubringen. Wirkliche Modernisierung ist nicht Abbau und Deregulation sozialer Institutionen, sondern die Suche nach einem neuen Entwicklungspfad, und die Entscheidung für eine alternative Reformpolitik, die den Zusammenhang von wirtschaftlicher, sozialer, ökologischer und individueller Entwicklung herstellt.
Mit einer Kette aggressiver Reformen hat der Neoliberalismus in den letzten zwanzig Jahren den Abriß des fordistischen Wohlfahrtskapitalismus begonnen. Dies geschah in einer Weise, die vor allem im Interesse der transnationalen Unternehmen und internationalen Finanzmärkte, der globalen ökonomischen, politischen und kulturellen Oberklassen lag. Die Suche nach einer neuen, zukunftsfähigen Art der Verbindung von wirtschaftlicher Entwicklung und sozialem Fortschritt ist kein relevanter Bestandteil des neoliberalen Reformprogramms. Das entstandene System ist deshalb extrem ungerecht, instabil und bedroht Frieden, Umwelt und den sozialen Zusammenhalt.
In Deutschland wurden die neoliberalen Reformen bislang nur partiell durchgesetzt. Wichtige Strukturelelemente des sozialdemokratischen Zeitalters blieben bisher erhalten. Diese können einerseits Reformen dadurch erschweren, daß berechtigte soziale Interessen noch in Formen vertreten werden, die der Vergangenheit angehören. Sie können andererseits Reformen aber auch erleichtern, weil die Möglichkeit besteht, vorhandene sozialstaatliche und korporatistische Institutionen für die neuen Aufgaben umzubauen.
Die Sozialdemokratie der neuen Mitte oder des dritten Wegs macht den Versuch, den neoliberalen Ansatz aufzunehmen und partiell zu korrigieren. Sie versucht, den Staat wieder stärker ins Spiel zu bringen, nicht als fordistischen Umverteilungsstaat, sondern als ”aktivierenden” Staat. Er soll einerseits Marktmechanismen und Wettbe-werbsformen etablieren, fördern und moderieren, die im Sinne des Neoliberalismus die Wettbewerbspositionen von Nationalstaaten oder Großregionen im globalen Konkurrenzkampf verbessern, und andererseits (anders als im Neoliberalismus à la Thatcher gedacht) einen minimalen sozialen Grundkonsens im Innern gewährleisten, indem Aushandlungsprozesse der Kontrahenten gefördert werden (z. B. im Bündnis für Arbeit).
Die Tatsache, daß in vielen europäischen Ländern sozialdemokratische Regierungen an der Macht sind, beweist, daß die Bevölkerung Korrekturen am neoliberalen Reformkonzept verlangte. Die Niederlage gerade der deutschen und britischen Sozialdemokratie bei den Europawahlen bezeugt jedoch, daß ihre bisherige Politik auf keine stabile Unterstützung rechnen kann. Zum einen zeigt sie sich nicht in der Lage, die neuen Chancen offensiv zu nutzen. Zum anderen hat sie nicht bewiesen, daß sie den sozialen Bedrohungen wirksam entgegentreten will und kann. So scheint sie gleichermaßen hinter den Neoliberalismus und die alte Sozialdemokratie zurückzufallen und enttäuscht die, die auf neue Chancen setzen, ebenso wie jene, die bedroht sind.
Soziale Gerechtigkeit ist die soziale Grundbedingung für eine dauerhafte, wirklich moderne Politik. Sie darf nicht auf individuelle Fairneß reduziert, die sozialen Grundlagen individueller Leistung dürfen nicht ignoriert werden. Der demokratische Sozialismus setzt deshalb auf einen neuen Gesellschaftsvertrag.
Grundelemente dieses Vertrages sind
Der Neoliberalismus hat die Politik der Nationalstaaten und der internationalen Organisationen in Vollzugsgremien transnationaler Unternehmen und internationaler Finanzmärkte verwandelt, denen der Rahmen keynesianischer Wirtschaftssteuerung zu einer Fessel geworden ist. Die neue Sozialdemokratie will die Förderung der Wirtschaft und die Schaffung von Rahmenbedingungen, ”unter denen ein einwandfreies Spiel der Marktkräfte möglich ist” (Schröder/ Blair).
Dem ”einwandfreien Funktionieren” von hochgradig vermachteten Weltmärkten ist soziale Gerechtigkeit und ökologische Nachhaltigkeit fremd. Von der Verbesserung der Angebotsstärke der gegenwärtigen Hauptakteure dieser Märkte den Zugang zu sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit zu erwarten, ist daher entweder weltfremd oder bewußte ideologische Täuschung. Ohne starke, sozial und ökologisch ausgerichtete gesellschaftliche Kräfte und eine entsprechende globale und regionale Regulierung ist Umsteuern unmöglich.
Für einen demokratischen Sozialismus kann Modernisierung von Politik nicht darin bestehen, in noch effizienterer Weise der Wirtschaft als Magd zu dienen und deren nichtverwertbaren ”Abfall” etwas sozialer zu entsorgen. Und es reicht auch nicht, die Verwertungsmöglichkeiten der Arbeitskraft durch Ausbildung zu verbessern. Modernisierung von Politik bedeutet zunächst einmal Wiedergewinnung von Politik als bewußte Gestaltung von sozialen Verhältnissen, die den Kräften des Marktes und der ganzen Gesellschaft wirksam eine Orientierung auf das Gemeinwohl gibt.
Eine Politik des Dialogs und ein Europäischer Beschäftigungspakt sind notwendig. Sie sind aber nur sinnvoll, wenn sie für jene, die heute arbeitslos oder in unterbezahlten Beschäftigungen sind, neue Chancen eröffnen. Die Orientierung am Gemeinwohl hat zur Bedingung, daß jene, die schon jetzt benachteiligt sind, dabei gewinnen. Sie kann nur dann erfolgreich sein, wenn der Anteil der lohnabhängig Beschäftigten am gesellschaftlichen Reichtum erhöht und das kleine und mittlere Unternehmertum real gefördert und deren fast vollständige Abhängigkeit von Banken und großen Konzernen wenigstens deutlich reduziert werden.
Die Macht der Politik hängt wesentlich von den Kräfteverhältnissen in der Gesellschaft und vor allem in der Wirtschaft ab. So wie im politischen System die Gewaltenteilung eine Bedingung für Demokratie ist, so ist die Teilung von ökonomischer Macht Bedingung einer sozialen und ökologischen Wirtschaftsordnung. Eine gemeinwohlorientierte Entwicklung kann nur aus der Institutionalisierung ökologischer und sozialer Gegenmächte gegenüber der Macht bloßer Kapitalverwertung und der verkürzt verstandenen reinen Lohn- und Konsummaximierung erfolgen.
Wer machtlos ist, hat keine Verhandlungsmacht und ist kein Partner. Die Allmacht des organisierten Kapitals zieht die Ohnmacht der Politik gegenüber der Wirtschaft zwangsläufig nach sich. Die sogenannten Sachzwänge sind vor allem Zwänge, die sich aus der Übermacht der einen und der relativen Machtlosigkeit der anderen ergeben. Ohne die Veränderung der Machtverhältnisse in der Wirtschaft wird aus einem ”Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit” ein Zwangsvertrag zur Meistbegünstigung von Großunternehmen werden, mit Sozialabbau aber auch einigen sozialen Zugeständnissen, die eher im ”Gnadenweg” gewährt werden.
Die Sozialdemokratie hat seit Jahrzehnten darauf verzichtet, Bürgerinnen und Bürger darauf vorzubereiten, daß Entwicklungsblockaden nicht anders als durch ihr eigenes Handeln zur Veränderung der Machtverhältnisse aufgebrochen werden können. Der Aufruf von Gerhard Schröder und Tony Blair für einen Dritten Weg und die Neue Mitte ist nicht zufällig ein Appell an die Regierungen und nicht an die Völker Europas.
Aufbruch zu sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit beginnt mit dem Erkennen der eigenen Interessen von Betroffenen, beruht auf dem Engagement von Bürgerinitiativen, von Projektträgern, Verbänden, Gewerkschaften, Kirchen, Expertengruppen und kommunalen Akteuren für einen derartigen Wandel. Eine moderne Linke muß zivilgesellschaftliche Selbstorganisation und Interessenvertretung fördern, zu ihrer Vernetzung beitragen und ihre Angebote auf der Suche nach einem neuen Entwicklungspfad politisch aufgreifen. Staat und Recht gewinnen gerade in dem Maße an Bedeutung, in dem sie ordnend solche Entwicklungen ermöglichen und fördern.
Es geht um einen neuen Entwicklungsweg, der den sozial gebändigten Kapitalismus der Nachkriegszeit ablöst.
Technologisch sind die Gesellschaften heute in der Lage, alle Menschen der Erde mit einem geringen Aufwand an Arbeitskraft zu versorgen. Diese Entwicklung hat aber nicht dazu geführt, daß alle weniger arbeiten. Ein wachsender Teil der erwerbsfähigen Bevölkerung hat keine bezahlte Arbeit, der andere Teil arbeitet immer mehr, verdient zum Teil auch mehr, muß aber über die steigenden Steuern und Sozialabgaben für die ”überflüssig” gemachten Bevölkerungsteile mit aufkommen. Diese Art der Produktivitätsentwicklung und des Wachstums bedeutet, daß zunehmend die soziale Integration zerstört wird und die Lebenswelten der Menschen veröden – derjenigen ohne Arbeit wie derjenigen, denen in der Leistungskonkurrenz die Zeit und die Fähigkeit für reichhaltige menschliche Beziehungen und Genüsse abhanden kommen.
Der enormen Steigerung der Arbeitsproduktivität entsprach keine äquivalente Entwicklung der Effektivität im Umgang mit Ressourcen und Produktionsfaktoren. Insbesondere die Ausbeutung von Naturressourcen ist enorm gewachsen, ohne daß die Effizienz ihrer Nutzung in vergleichbarem Maße gestiegen wäre. Eine solche Entwicklung untergräbt nicht nur die Bedingungen künftiger Produktion und Konsumtion auf katastrophale Weise, sie zerstört die menschlichen Lebenswelten, deren Grundlage die Natur ist.
Es ist möglich und erforderlich, einen neuen Pfad wirtschaftlicher Entwicklung einzuschlagen und einen mit der Umwelt und den menschlichen Bedürfnissen vereinbaren Entwicklungstyp zu finden. Auf der Tagesordnung steht ein sozialökologischer Umbau, der auch als globale Revolution (Club of Rome) bezeichnet werden kann und das 21. Jahrhundert prägen muß. Drei Aspekte dieses Umbaus seien besonders hervorgehoben:
(1) der Übergang zu ökologischer Nachhaltigkeit und die damit verbundene und möglich werdende Umorientierung der Produktion von der Produktion materieller Güter hin zur Erzeugung wirklich menschlichen Reichtums – ”die im universellen Austausch erzeugte Universalität der Bedürfnisse, Fähigkeiten, Genüsse, Produktivkräfte etc. der Individuen” (Karl Marx);
(2) eine globale Offensive zur Überwindung von Armut, Hunger und Unterentwicklung und
(3) ein Aufbruch, der die Gleichstellung der Geschlechter in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Bildung, Medien und Kultur durchsetzt. Eine moderne Linke reduziert die Überwindung patriarchaler Macht jedoch nicht auf Gleichstellungspolitik. Sie sieht die emanzipatorischen Kämpfe der Frauen als eine der großen Bewegungen für gesellschaftlichen Wandel an.
Es steht nicht weniger als der Umbau der Weltgesellschaft selbst auf der Tagesordnung. Das Aufbrechen von Herrschaftsstrukturen betrifft die Vorherrschaft der Kapitalverwertung über die Gesellschaft, das zerstörerische Herrschaftsstreben der Gesellschaft über die irdische Natur, die Herrschaft des ”Nordens” über den ”Süden” und die Herrschaft von Männern über Frauen.
Das gesamte System von Produktion, Dienstleistungen, Wohnen, Verkehr und Lebensweise, wie es im 20. Jahrhundert entstanden ist, muß umgebaut werden. Die Effektivität des Einsatzes von Naturressourcen und die Fähigkeit, damit ”produktiv” umzugehen, müssen in den nächsten zwanzig Jahren auf ein Mehrfaches steigen. Es sind dies die völlig unterentwickelten Märkte der Zukunft. Dazu werden Arbeit, Kapital und vor allem Wissen gebraucht. Der ökologische und soziale Umbau wird umfangreiche Innovations- und Investitionsprozesse in Gang setzen und kann schon mittelfristig zu einem Nettozuwachs an Arbeitsplätzen führen.
Damit dies erreicht wird, ist ein neuer Rahmen für Märkte unverzichtbar. Er muß u. a. die der Gesellschaft aufgebürdeten Folgelasten des Wirtschaftens, die bisher in den betriebswirtschaftlichen Kosten nicht erscheinen, durch Ökosteuern – die tatsächlich ökologisch regulieren -, Zertifikate und Abgaberegelungen in die Preise hineinholen. Strukturund Regionalpolitik können zu wünschenswerten Entwicklungen beitragen. Die neue Wirtschaft wird auf einer Globalisierung des Informationsaustauschs, weitgehender Regionalisierung der Stoff- und Energiekreisläufe und Kommu-nalisierung vieler personenbezogener Dienstleistungen beruhen. Dies ermöglicht die Ausschöpfung des regionalen Arbeitsvermögens und die Herstellung um-weltfreundlicher Wirtschaftskreisläufe. Die notwendige Effizienzrevolution im Umgang mit Naturressourcen erfordert entsprechende Neuorientierungen der Forschungs- und Technologiepolitik auf nachhaltige Entwicklung.
Sozialökologische Nachhaltigkeit und Modernisierung der Arbeitsgesellschaft bedeuten Erwerbsarbeit und Verkürzung der Lebensarbeitszeit in differenzierten und flexiblen Formen für alle. Eine moderne Arbeitsgesellschaft muß auch eine neue Verbindung von Erwerbsarbeit und schöpferischer gemeinschaftlicher und individueller Eigenarbeit ermöglichen. Die Erschließung reichhaltiger und sinnerfüllter Felder für Gemeinschafts- und Eigenarbeit kann bei der ökologischen Umgestaltung der Lebenswelten beginnen, muß die Rückgewinnung der Gestaltungshoheit über die gemeinschaftlichen Angelegenheiten in den Kommunen und Regionen umfassen und wird in die Entwicklung einer Vielzahl sozialer und kultureller Projekte münden. Der Ausbau der Möglichkeit zu freiwilliger gemeinschaftlicher und individueller Eigenarbeit ist die Alternative zur weiteren Verwirtschaftung und Kommerzialisierung der sozialen Beziehungen und zur weiteren Reduktion des Lebens auf materiellen Konsum.
Kreativität und Engagement müssen nicht länger auf individuellen Aufstieg im Erwerbsleben, hohe Einkommen und exklusiven Konsum von wenigen beschränkt bleiben. Alle sollen an Erwerbsarbeit und Eigenarbeit nach dem Maß ihrer Fähigkeiten und ihrer Bedürfnisse partizipieren, Sinn für die Verbindung von Arbeit, Leben und Genuß entwickeln und Erfüllung finden.
Weltmarktorientiertes Wachstum und Senkung der Lohnnebenkosten werden das Problem der Massenarbeitslosigkeit nicht lösen. Die traditionelle Arbeitsmarktpolitik greift zu kurz und die Schaffung eines Niedriglohnsektors polarisiert die Gesellschaft und subventioniert auf falsche Weise Unternehmen. Ohne die Schaffung völlig neuer Gebiete für Erwerbsarbeit und ohne eine Neuverteilung von Erwerbsarbeit wird die Gesellschaft dauerhaft in Hochverdienende, deren Dienstboten und Erwerbslose gespalten.
Die Krise der Erwerbsarbeit ist lösbar. Eine moderne sozialistische Politik muß die Suche nach solchen Wegen unterstützen, die ihrem Ziel – freie Entwicklung einer und eines jeden – am ehesten entsprechen. Drei Wege seien genannt:
Heute wird die Erwerbsbiographie durch das Neben- und Nacheinander sehr verschiedener Rollen geprägt. Gestern Lehrling, heute selbständig und Teilzeitbeschäftigte bzw. Teilzeitbeschäftigter, morgen arbeitslos und übermorgen vielleicht Unternehmerin bzw. Unternehmer, schließlich Aktienbesitzerin bzw. Aktienbesitzer mit Sozialhilfe usw. Die verschiedenen sozialen Rollen sind nicht mehr eindeutig mit bestimmten sozialen Klassen, Schichten und Gruppen verbunden. Dies bedeutet nicht, daß die soziale Ungleichheit geringer geworden wäre, im Gegenteil, sie wächst. Aber die Zuordnungen sind nicht mehr eindeutig. Es gibt Arbeiterinnen, Arbeiter und Angestellte mit relativ hohen Einkommen, reiche Selbständige, aber auch solche, die über Jahre an der Existenzgrenze leben, pleite gegangene Unternehmerinnen bzw. Unternehmer ohne jede soziale Sicherung, reiche und arme Ärztinnen bzw. Ärzte und Hochschulabsolventinnen bzw. Hochschulabsolventen ohne Arbeit und ohne Anspruch auf soziale Sicherungen und solche mit besten materiellen Chancen.
Daraus folgt, daß sowohl bei der Regelung der Erwerbsarbeit als auch bei der Gestaltung sozialer Sicherungssysteme die Fixierung auf das Normalarbeitsverhältnis aufgehoben und der Vielfalt von Erwerbsformen und ihren Kombinationen Rechnung getragen werden muß. Insbesondere die Debatte um die Scheinselbständigkeit zeigt, daß die alten Kategorien inzwischen anachronistisch geworden sind. Verschiedene Erwerbsformen, Qualifikationszeiten und Eigenarbeit in gemeinschaftlichen Projekten oder im individuellen Lebensbereich müssen flexibel und vielgestaltig kombiniert werden können, ohne daß es dabei zu Einbrüchen bei den Einkommen oder der sozialen Absicherung kommen darf, aber auch ohne daß sich die bzw. der einzelne ihren bzw. seinen solidarischen Verpflichtungen gegenüber der Gemeinschaft entziehen kann.
Die Verkürzung der Lebensarbeitszeit muß in vielgestaltigen und flexiblen Formen erfolgen. Hier ist ein Interessenausgleich zwischen abhängig Beschäftigten und Arbeitgeberinnen bzw. Arbeitgebern nötig und möglich. Flexibilität bedeutet, sehr verschiedene Möglichkeiten in der Arbeitszeitpolitik anzuwenden. Die ”Wahlarbeitszeit” könnte ein Modell der Zukunft sein. Es geht um mehr als um Teilzeit, Qualifikationszeiten, Sonntagsjahre, Elternurlaube und flexible Stellvertreterregelungen ohne sozialen Abstieg nach nordeuropäischem Vorbild. Mit einer Alters- Wahlarbeitszeit sollten Möglichkeiten geschaffen werden, gleitend in den Ruhestand zu wechseln. Für Menschen ab 55 Jahre sollte ein Rechtsanspruch auf Alters- Wahlarbeitszeit eingeführt werden. Bei Flexibilisierung sollte in erster Linie an Zeitsouveränität der Beschäftigten gedacht werden.
Diese Chance zu mehr ”Reichtum” im Leben würde nicht genutzt, wenn die einen weiter zu viel und die anderen keine Arbeit hätten. Sie wäre aber auch vertan, wenn der Weg in eine Dienstbotengesellschaft beschritten würde. Die freigesetzte Arbeitszeit soll der Entwicklung aller zugute kommen.
Teils werden sie weiter als öffentliche Arbeiten zu leisten sein, allerdings in größerer Nähe zu Bürgerinnen und Bürgern. Zugleich sollte der Non- Profit- Sektor bzw. der Dritte Sektor zwischen Privatwirtschaft und Staat ausgebaut werden, der von autonomen Wirtschaftssubjekten getragen wird, statt den Niedriglohnsektor auszuweiten. Öffentliche Trägerschaften, die kommunal kontrolliert werden, könnten neue soziokulturelle und ökologisch orientierte Projekte ausschreiben, die teils durch öffentliche Zuschüsse und teils durch Gebühren und Preise finanziert werden. Die Unternehmen, die bei diesen Ausschreibungen ausgewählt werden, müßten bestimmten arbeitsmarktpolitischen, sozialen, ökologischen und kommunalpolitischen Kriterien genügen. Sie sollten durch Struktur- und Unternehmenspolitik zur Entstehung relativ stabiler regionaler ökonomischer Netzwerke beitragen. Hier ist der öffentlich geförderte Beschäftigungssektor anzusiedeln. Eine weitere Möglichkeit wäre, daß individuelles Einkommen aus der Kombination von sozialer Grundsicherung und einem Zuschlag für die Übernahme sozial sinnvoller Aufgaben entsteht. Eine Verkürzung der Arbeitszeit kombiniert mit einer Grundsicherung für erwerbsarbeitsfreie Zeiten sollte es der und dem einzelnen ermöglichen, im Wechsel oder parallel zur Erwerbsarbeit Zeit für die eigene Qualifikation oder bzw. und für die Mitarbeit an gemeinnützigen Projekten kultureller, ökologischer, sozialer, wissenschaftlicher oder pädagogischer Natur zu finden.
Der Ausstieg aus einer Konsumtionsweise, die Genuß auf Massenkonsum reduziert und schließlich zu einer Verschlechterung der Lebensqualität und einer Verödung der Lebensweise führt, bedeutet nicht, die positiven Seiten der fordistischen Konsumgesellschaft zu vergessen. Es geht nicht um Verzicht, sondern um eine andere Nutzung des materiellen Reichtums, der Mobilität, des Raumes und der Warenwelt. Die Gegenstände des Konsums sind dann Gegenstand des Genusses und der Befriedigung, wenn sie die Vielfalt genußvollen Verhaltens und den Reichtum menschlicher Beziehungen vermitteln. Dazu bedarf es freier Zeit und selbstbestimmter Eigenarbeit. Das bedeutet nicht die Reduzierung der Kaufkraft und damit der Nachfrage, deren Erhöhung darf aber nicht die einzige undifferenzierte Alternative zur einseitigen Angebotspolitik sein. Die Tarifverhandlungen im nächsten Jahrhundert sollten deshalb auch dafür genutzt werden, Produktivitätssteigerung zur Steigerung der beschriebenen Lebensqualität zu nutzen.
Der eigene Körper, die Erziehung der Kinder, die Gestaltung von Lebensumwelt, Wohnung, Haus und Garten, Essen und Trinken, kommunale Angelegenheiten, Leben mit der Natur und deren Erhaltung sind keine zu verwirtschaftenden Zwänge, keine zu minimierenden Aufwendungen, von denen man sich durch Dienstboten oder Dienstleister befreien muß. Sie sind die Lebenswelt, aus der Genuß und Befriedigung mindestens ebenso folgen, wie aus der Erwerbsarbeit und der Karriere. Die Kämpfe der Zukunft werden in starkem Maße Kämpfe um eine neue Lebensweise sein. Die Neuverteilung der Lebenschancen ist eine Grundbedingung zur Bewahrung eines gesellschaftlichen Zusammenhalts und der Demokratie.
Eine erhebliche Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit ist eine Grundbedingung dafür, daß Männer und Frauen gleichberechtigt an Erwerbs- und Eigenarbeit teilnehmen können. Dies schafft auch neue Möglichkeiten für die reale Teilhabe von Frauen an der Erneuerung von Demokratie. Die wirkliche Gleichstellung verlangt, daß es nicht zu Sektoren mit deutlicher Unterbezahlung kommt, bei denen Frauen oder auch Männer finanziell an ihre Partner gefesselt werden.
Eine kooperativere Arbeitswelt, eine neue Beschäftigungspolitik und die stärker selbstbestimmte Verbindung mit Phasen freiwilliger Eigenarbeit für alle ermöglicht es, den Mißbrauch des durch die patriarchale Sozialisierung entwickelten spezifisch weiblichen Arbeitsvermögens (zwischenmenschliche Solidarität und Fürsorgebereitschaft, soziale Sensibilität, Kompromißorientierung) in zumeist schlecht bezahlten Dienstleistungsbereichen zu überwinden und solche Verhaltensorientierung allgemeiner auszuprägen.
Hier wie auf den anderen Feldern kommt der Stärke und Entwicklung der Gewerkschaften eine zentrale Bedeutung zu.
Sozialer und ökologischer Umbau bedeuten eine Veränderung des Verhaltens einer Vielzahl von Akteuren - Individuen, Organisationen, Unternehmen, staatlicher Behörden usw. Jede weitreichende Verhaltensänderung setzt daher eine Reform der Institutionen voraus, die Verhalten strukturieren und regulieren. Dabei geht es nicht um die schlichte Gegenüberstellung – mehr Regulation durch Märkte oder den Staat. Institutionen funktionieren nur so gut, wie sie mit den Verhaltensmöglichkeiten und –mitteln der Akteure korrespondieren. Das im Fordismus entstandene Regulationssystem mit oligopolistisch verfaßten Märkten, Großorganisationen, korporatistischen Aushandlungsprozeduren, detaillierter Bürokratisierung der Wirtschaftstätigkeit, der Umweltnutzung, der Arbeitsordnung etc. entspricht nicht mehr den sozialen Gegebenheiten am Ende des 20 Jahrhunderts. Die traditionelle Regulierung des Weltgeldes und der internationalen Märkte ist zusammengebrochen, ohne daß wirksame neue Institutionen geschaffen wurden.
Deregulierung aber ist keine Lösung, sondern nur ihre durch einseitige marktbeherrschende Kapitalverwertungsinteressen geleitete negative Variante. Ein neuer Entwicklungspfad bedarf daher institutioneller Reformen, vor allem im Bereich der Wirtschaft, der Sozialsysteme und des Steuersystems. Bei der Neuverfassung der Wirtschaftsregulation könnten u. a. folgende Richtungen von Bedeutung sein:
Ohne die Schwierigkeiten einer Re- Regulation der Weltmärkte zu unterschätzen, muß von den sozialdemokratischen Regierungen Europas wesentlich mehr Initiative hierfür erwartet werden. Für die regionalen Vormächte der Weltwirtschaft ist eine Vorreiterrolle geboten. Es ist nicht nur unredlich, wenn reiche Länder mit dem Verweis auf internationale Konkurrenten die Einführung bestimmter Umwelt- und Sozialstandards ablehnen, sondern auch ein Verzicht auf Zukunft.
Ökologischer Umbau heißt aber nicht nur, die Kosten für die Nutzung ökologischer Ressourcen einzutreiben, sondern ebenso, diese Einnahmen in sozial und ökologisch sinnvoller Weise zu verwenden. Erstens ist es notwendig, für Bezieherinnen bzw. Bezieher unterer Einkommen eine Kompensation ihrer zusätzlichen Belastungen zu sichern. Zweitens sollen Unternehmen nicht durch Ausnahmeregelungen teilweise von Ökosteuern befreit werden, da die langfristige Berücksichtigung ökologischer Kosten dringend geboten ist. Dort, wo dies notwendig und sinnvoll ist, soll die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen durch zeitlich begrenzte Kapitalhilfen gestützt werden, unter anderem für Investitionen zur Senkung des Ressourcenverbrauchs und zur Entlastung von Naturkreisläufen. Die besondere Förderung von kleinen und mittleren Unternehmen sollte direkt und nicht durch eine systemwidrige Verwendung der Ökosteuern für die Senkung der Sozialbeiträge erfolgen. Drittens muß es den Verbrauchern möglich sein, den durch Ökosteuern entstehenden Belastungen durch umweltgerechtes Verhalten zu begegnen. Dafür sind beispielsweise die Förderung des öffentlichen Fernund Nahverkehrs und der Energieeinsparung notwendig. Deshalb ist ein ökologisches Investitionsprogramm, das die aus Öko- Abgaben fließenden Mittel über halböffentliche Kapitalbeteiligungsgesellschaften in effizienzsteigernde und wirtschaftlich sinnvolle ökologische Projekte der Unternehmen und der Kommunen reinvestiert erforderlich. Dadurch würden auch neue Arbeitsplätze geschaffen werden.
Denkbar sind Kombinationen öffentlich rechtlich verfaßter Trägergesellschaften, die demokratisch kontrolliert werden, partizipatorisch verfaßt sind, aber nicht von einer Staatsbehörde geleitet werden und die mit einer Vielzahl kleiner und mittlerer privater Dienstleistungsunternehmen die entsprechenden Versorgungsaufgaben erfüllen. Hier könnten pluraler Wettbewerb und öffentliche Kontrolle verbunden werden. Solche Überlegungen sind weiterzuführen und zu erproben. In diesem Zusammenhang wäre die Einführung der Rechtsform eines öffentlichen Unternehmens sinnvoll, das vom Staat öffentliche Güter bzw. öffentliche Aufgaben zweckgebunden übertragen bekommt, handelsrechtlich wie ein Wirtschaftunternehmen im Wettbewerb agiert, nicht oder nur zeitlich befristet subventioniert wird, aber öffentlich kontrolliert werden kann und hinsichtlich der Gewinnverwendung gemeinwohlverpflichtet ist.
Ein zweites Feld institutioneller Reformen der Regulation ist der Sozialstaat. Die Sozialhilfe und die im Fordismus ausgebauten und dynamisierten Sozialsysteme – Kranken- und Rentenversicherung, Arbeitslosenversicherung, Pflegeversicherung – sind seit längerer Zeit Gegenstand hitziger Debatten und bislang unzureichender Reformversuche. Die jetzt von der deutschen Bundesregierung eingeleitete Reform des Gesundheitswesens und der Rentenversicherung hat einige richtige Ansatzpunkte – insbesondere die Einführung einer Grundsicherung – vor allem aber problematische Züge.
Modern wären Reformen der Sozialsysteme, die den im 20. Jahrhunderts entstandenen neuen Sozialstrukturen entsprächen und den Übergang auf einen neuen, ökologischen Entwicklungspfad und eine neue Verbindung von Wirtschaft und Lebensweise unterstützten. Dies verlangt vor allem zwei große Schritte – die Generalisierung der Sozialversicherung und die Einführung einer Grundsicherung. Es soll künftig nur noch eine gesetzliche Grund- und Krankenversicherung geben.
Die Entlastung der sozialen Sicherungssysteme von versicherungsfremden Leistungen und eine höhere Effizienz in der Nutzung der Sozialkassen ist sofort möglich. Leistungen, für die keine Beiträge abgeführt wurden bzw. werden, sind aus Steuermitteln zu finanzieren, gegebenenfalls über die Versicherung. Die Vereinheitlichung der gesetzlichen Kassen erhöht die Effizienz, beseitigt Ungleichbehandlungen, ermöglicht eine Vereinfachung des Rechts und baut Bürokratie ab. Die Selbstverwaltung der Kassen ist auszubauen und transparent zu gestalten.
Eine grundlegende Reform des Steuer- und Abgabensystems ist dringend geboten. Das Vorhaben der Sozialdemokratie, die Besteuerungsbasis durch Abbau von Ausnahmen, Subventionen und Steuerbefreiungen zu verbreitern und die Steuersätze im Gegenzug zu senken, ist zunächst einmal richtig. Das absolute Steueraufkommen der Unternehmen in Deutschland ist jedoch nicht zu hoch, sondern die Steuerlast zwischen den Unternehmen, Eigentümerinnen bzw. Eigentümern großer Vermögen und Lohnabhängigen ist wirtschaftlich falsch und sozial ungerecht verteilt.
Die sozialdemokratischen Ansätze reichen für eine wirkliche Reform des Steuerrechts nicht aus. Die Vorstellung ist illusionär, Einkommen aus Unternehmenstätigkeit und Vermögen, die Steuer- und Abgabenbelastung der gesellschaftlichen Mitte, die Besteuerung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und der finanziell Schwachen zugleich senken und dennoch finanzpolitische Spielräume für eine Steuerungsfähigkeit des Staates gewinnen zu können.
Das Kernproblem ist, daß die Grundverfassung des deutschen Steuerrechts den sozialen Gegebenheiten am Ende des 20. Jahrhunderts nicht mehr entspricht. Eine fällige Modernisierung muß eine vernünftige Unterscheidung zwischen privaten Haushalten und Unternehmen auch für Nichtkapitalgesellschaften einführen, die den Transfer von Einlagen und Einkommen zwischen Unternehmen und privaten Haushalten gerecht besteuert. Die Trennung von privatem Haushalt und Betrieb muß in der Gestaltung des Handels-, Unternehmens-, Steuer- und Sozialrechts ihren adäquaten Ausdruck finden. Im Unternehmen verbleibende Gewinne und Investitionen sollen anders behandelt und wesentlich niedriger besteuert werden als in den privaten Haushalt transferierte höheren Einkommen. Wertzuwachs von Unternehmen, solange die Einlage im Unternehmen verbleibt, soll nicht zu hoch besteuert werden, im Gegenzug wäre aber auch Schluß mit Abschreibungsmodellen für fiktive Einlagen zu machen, die nur der Ersparnis von Steuern auf private Haushaltseinkommen dienen.
Die verschiedenen Unternehmensformen einerseits und die verschiedenen Einkommensarten der privaten Haushalte andererseits sollten jeweils vergleichbar besteuert werden. Vor allem muß die Besteuerung für Gewinne aus und der Transfer in Finanzanlagen grundlegend neu geregelt werden. Prinzip sollte auch hier sein, daß Einlagen und reinvestierte Gewinne niedriger, in private Haushalte transferierte Gewinne hingegen höher besteuert werden. Unter dieser Voraussetzung ist eine Vermögenssteuer vor allem für nicht produktiv investierte Vermögen realisierbar. In erster Linie ist aber zu sichern, daß Gewinne, die zur Spekulation eingesetzt werden oder aus ihr resultieren, wesentlich höher besteuert werden müssen als Gewinne, die in oder aus Produktion und Dienstleistungen fließen. Anders ist der Trend weg von Unternehmern hin zu Spekulanten nicht zu stoppen. Nur wenn sich Gewinne aus Produktion und Dienstleistung mehr lohnen als Gewinne aus Spekulationen gibt es eine reelle Chance, Arbeitsplätze zu schaffen und den gefährlich unkontrollierten internationalen Geldtransfer einzudämmen und beherrschbar zu gestalten.
Das Erbschaftssteuerrecht könnte so geregelt werden, daß die im Unternehmen verbleibenden Anteile geringer belastet, aber die in private Haushalte transferierten Vermögen oberhalb einer bestimmten Grenze, die beispielsweise persönlich genutztes Wohneigentum nicht antastet, höher veranlagt werden.
Die öffentlichen Finanzen in Deutschland, aber auch in anderen führenden westlichen Ländern, gleiten seit Jahren in eine ernste Krise. Diese Krise wird vor allem als Problem der öffentlichen Verschuldung wahrgenommen. In Deutschland stieg die Bundesschuld seit Anfang der 80er Jahre um rund 600%; schon 1997 überstieg die Gesamtsumme der öffentlichen Schulden deutlich die Grenze von 2000 Mrd. DM. Fast jede vierte Steuermark wird inzwischen für Zinszahlungen ausgegeben. Und die Verschuldung wächst weiter. Auch im Bundeshaushalt 1999 wird rund ein Viertel der Ausgaben durch Kredite und Vermögensverkäufe finanziert.
Begrüßenswerte anfänglich neue Ausgabenakzente der deutschen Bundesregierung wie eine Verstetigung der aktiven Arbeitsmarktpolitik oder der Einstieg in das 100.000- Dächer- Solarprogramm können ohne neue Lösungen schon im kommenden Jahr nicht wiederholt werden, weil die 1998 dafür verbuchten Privatisierungserlöse nur einmal eingesetzt werden können. Diese Ansätze werden inzwischen durch das Sparprogramm auch schon reduziert, zum Teil zurückgenommen. Gewichtige Wahlversprechen wie die Anhebung des Wohngeldes, der ökologische Umbau der Gesellschaft und eine moderne Innovationspolitik besonders für kleine und mittelständische Unternehmen sind nicht hinreichend finanziert.
Die Krise der öffentlichen Finanzen wurzelt nicht primär in der Tatsache, daß bislang der ”Weg zur sozialen Gerechtigkeit ... mit immer höheren öffentlichen Ausgaben gepflastert” war, wie es Tony Blair und Gerhard Schröder erklären. Davon kann in den Jahren der vorhergehenden Regierung in Deutschland nicht die Rede sein. Die Krise ist vor allem dadurch verursacht, daß den öffentlichen Kassen zunehmend jene Einnahmeblöcke abhanden kamen, die aus Unternehmensgewinnen und Vermögen gespeist wurden. In der Tat ist es so, daß in Deutschland die Gewinnsteuern und die Einkommensteuer für das gesamte Steueraufkommen eine immer geringere Rolle spielen, während der Anteil der Lohnsteuern allein von 1992 bis 1997 um 20,7% stieg und der größte Einnahmeposten für den Fiskus ist. Die Belastung der Löhne und Gehälter durch Steuern und Abgaben ist wesentlich zu hoch. Im Standortwettbewerb unter den Bedingungen der Krise des Fordismus wurden im wesentlichen nur die großen Unternehmen steuerlich stark entlastet. Die Einkommen aus Vermögen stiegen überproportional an. Der dadurch versprochene Abbau der Arbeitslosigkeit blieb aus, die Zahl der Arbeitslosen nahm sogar deutlich zu.
Die These vom Hochsteuerstandort Deutschland ist hinsichtlich der Unternehmen an sich nicht zutreffend: Der effektive durchschnittliche Unternehmenssteuersatz beträgt rund 21%. Er ist - der OECD zufolge – innerhalb der Industriestaaten nur in den Niederlanden geringer als in Deutschland, während er in den USA (27,0%), Dänemark (28,6%) und Großbritannien (32,4%) deutlich höher liegt. Würden die deutschen Unternehmen heute noch nach den Maßgaben von 1980 besteuert, stünden dem Bund Jahr für Jahr 100 Mrd. DM mehr zur Verfügung. Das Problem besteht darin, daß die Großunternehmen sich ihrer Steuerpflicht umfassend entziehen bzw. aus ihr entlassen wurden, so daß die Hauptlast bei den kleinen und mittleren Unternehmen sowie den Lohnabhängigen liegt.
Die Überwindung der Krise der öffentlichen Finanzen kann und muß anders als auf die von der jetzigen deutschen Bundesregierung praktizierte sozial ungerechte Weise erfolgen. Dafür müßten folgende Prinzipien zur Geltung kommen:
Aus den Erfahrungen des entsetzlichsten Krieges bisheriger Geschichte und dem Scheitern des Völkerbundes entstanden die Organisation der Vereinten Nationen und in ihrer Charta ein Völkerrecht, das den Krieg ächtet, auf Konsens orientiert und demokratische Grundprinzipien den internationalen Beziehungen zugrunde legt. Fast ein halbes Jahrhundert verhinderte zudem das Gleichgewicht des Schreckens den Schrecken von Kriegen in Europa.
Die Rückkehr des Krieges auf den europäischen Kontinent, seine Ausdehnung in Afrika und Asien, seine Re- Legitimierung durch die Politik der kapitalistischen Metropolen und zahlreicher anderer Staaten ist auch ein Ergebnis der Tatsache, daß die gegenseitige Fesselung der militärischen Arsenale von West und Ost aufgelöst wurde. Vor allem aber zeigt sich, daß es niemals gelungen und wirklich beabsichtigt war, konfrontative und militärische Sicherheitskonzepte durch kooperative und zivile zu ersetzen. Das "Neue Denken" Gorbatschows hat sich für eine zivile Gestaltung der internationalen Beziehungen als folgenlose Episode erwiesen. Die Bereitschaft des Westens, sich auf solche Vorstellungen einzulassen, wurde mit dem Ende des Warschauer Vertrages und der Sowjetunion aufgegeben.
Internationale Konflikte, Gefahren vielfältiger Kriege und der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen haben zugenommen. Ungerechte Weltwirtschafts-beziehungen und die Unterentwicklung, in der viele Länder des Südens gehalten werden, sind ebenso Ursache heutiger Krisen und militärischer Auseinandersetzungen wie die Ambitionen der USA und der NATO, ein praktisch weltweites militärisches Machtmonopol zu errichten, der undemokratische Charakter der internationalen Beziehungen und die Mißachtung von Menschenrechten, Völkerrecht und Rechten ethnischer, politischer und kultureller Gruppen durch viele Staaten.
Die neoliberale, marktradikale, Globalisierung gefährdet traditionelle Sozialstrukturen und alternative Entwicklungsmöglichkeiten gleichermaßen. Sie geht mit einem Kulturimperialismus einher, der Widerstand hervorruft. Ohne die jeweils spezifischen Ursachen in den einzelnen Ländern und Regionen zu unterschätzen: Diktatorische Regime, ideologischer Fundamentalismus, kriegerische Verteilungskämpfe und die weltweite Militarisierung von Politik sind nicht zuletzt Ergebnisse wirtschaftlicher, politischer und militärischer Richtungsentscheidungen der Metropolenstaaten.
Antimilitaristische Kräfte sind gegenwärtig schwach, und das Machtmonopol des Westens ist kaum eingeschränkt. Doch eine Politik, die darauf aufbaut, ist kurzsichtig, kontraproduktiv und verantwortungslos. Sie schafft neue und verschärft alte Spannungen, zerstört ziviles und kooperatives Denken, und löst bestenfalls kriegerische Konflikte, indem sie neue und langfristig wahrscheinlich schlimmere hervorbringt. Die universale Geltung von Menschenrechten, individueller Freiheit und Demokratie kann nicht mit militärischer Drohung oder Krieg erreicht werden und wird damit auch nicht angestrebt. Aber die Gewährleistung der Menschenrechte ist ein Erfordernis für dauerhaften Frieden.
Wer eine ursachenorientierte Politik zur Verhinderung neuer Kriege, zur Beseitigung bzw. Eindämmung gegenwärtiger militärischer Konflikte will, muß erstens die Mittel des Krieges weltweit und zuerst in den militärisch dominanten Staaten der NATO verringern. Abrüstung muß wieder in das Zentrum der internationalen Politik rücken: Rüstungsexporte sind abzubauen und schließlich zu verbieten, die Produktion neuer Rüstungen, vor allem der Hochtechnologie- Waffen und der Ausbau angriffsfähiger Streitkräfte müssen wirkungsvoll beschränkt bzw. gestoppt werden. Die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen kann nur dadurch verhindert werden, daß die aktuellen Kernwaffenmächte selbst abrüsten.
Zweitens muß die erneute Legitimierung des Krieges als Mittel der Politik, und zwar jeder Politik, aufgehalten und das Gewaltmonopol der UNO wiederhergestellt werden. Die Abgabe sicherheitspolitischer Souveränität an demokratisierte internationale Institutionen könnte einer gemeinsamen Sicherheit eine zuverlässige Grundlage geben. Nicht der Ausbau der NATO und die Ausweitung ihrer Militärstrategie oder die Aktivierung der Westeuropäischen Union als militärischer Arm der EU, sondern die entschiedene Stärkung und Demokratisierung der Vereinten Nationen und - in Europa - der OSZE bieten einen Ausweg aus der Spirale der Kriege.
Eine gerechte Weltwirtschaftsordnung und die Öffnung alternativer und selbstbestimmter Entwicklungsmöglichkeiten für die Länder des Südens ist drittens die wichtigste Voraussetzung dafür, die Ursachen von gefährlichen regionalen Verteilungskämpfen, regionalem Vorherrschaftsstreben und lokalem Militarismus zu beseitigen.
Viertens müssen zivile Krisenprävention, die internationale Frühwarnung vor Konflikten, Friedenserziehung und -forschung einen völlig neuen Stellenwert erhalten. Gewaltfreie und wirkungsvolle Formen zur Durchsetzung der Menschenrechte sowie der Rechte ethnischer, politischer und kultureller Gruppen könnten die bereits bestehenden völkerrechtlichen Instrumente ergänzen.
Auch Frieden kann nur die Fortsetzung von Politik sein. Die Fortsetzung der gegenwärtigen Weltwirtschaftspolitik, der derzeitigen sicherheitspolitischen Vorstellungen, der traditionellen machtpolitischen Instrumentalisierung der Menschenrechte und der aktuellen westlichen Haltung gegenüber UNO und OSZE ist friedensuntauglich. Die sozialistische Linke muß zu einem Neubeginn auf jedem dieser Felder beitragen.