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Martin Dieckmann:

Auf dem "Dritten Weg" ins 21. Jahrhundert?

Überlegungen zur neuen Sozialdemokratie

Worum unter Schlagworten wie New Labour und Neue Mitte gerungen wird, ist mehr als eine neue Variante von Neoliberalismus. Das neue Regulationsmodell von oben bindet vielmehr aus alter Sozialdemokratie, Liberalismus und Konservativismus die reaktionärsten Elemente zusammen. Vor diesem Hintergrund plädiert der folgende Beitrag für eine linke Widerstandsperspektive, die sich nicht in einer Kritik des Reformismus erschöpft, sondern auch bisherige Grundorientierungen neu überdenkt. Er basiert auf einem Referat, das im September in Hamburg gehalten wurde.

Ende der siebziger Jahre sprach Ralf Dahrendorf vom "Ende des sozialdemokratischen Zeitalters". Ein klassisch gewordener Begriff, an den in den vergangenen Jahren – nach den Wahlen in England und Frankreich 1997 und in Deutschland 1998 – mehrfach erinnert wurde. Zwanzig Jahre nach dem "Ende des sozialdemokratischen Zeitalters" wird die EU mehrheitlich von sozialdemokratischen Parteien beziehungsweise Mitte-Links-Koalitionen regiert. Beginnt also auch das 21. Jahrhundert mit einem neuen Zeitalter der Sozialdemokratie? Aber welcher Sozialdemokratie? Oder handelt es sich lediglich um eine politische Konjunktur, um eine mehr oder weniger zufällige Konstellation, die recht bald wieder beendet werden kann?

Beides trifft zu. Zum einen handelt es sich tatsächlich um eine politische Konjunktur, von der die Sozialdemokratie eine Weile profitieren kann. Zum anderen aber ist diese Konjunktur Teil einer langfristigen Entwicklung, und in dieser Perspektive stellt sich durchaus die Frage nach einem "neuen Zeitalter". Ob es denn ein sozialdemokratisches sein wird, mag dahin gestellt bleiben. Aber es ist gewiss kein Zufall, dass ausgerechnet die Sozialdemokratie zum zentralen Ort geworden ist, an dem die Auseinandersetzungen über diese historischen Perspektiven auf programmatischer Ebene geführt werden. Als Programmpartei, die sich wesentlich über den Sozialstaats-Kompromiss der Nachkriegszeit legitimiert, ist sie existentiell auf eine derartige Orientierungsdebatte angewiesen. Dabei reflektiert die sozialdemokratische Programmdebatte Fragen und Probleme herrschender Politik, denen sich auch konservative und liberale Parteien in der Regierung ausgesetzt sehen werden.

Sowohl in den reformpolitischen wie radikalen Strömungen der Linken schlägt sich dies in ersten Kontroversen über den Charakter der neuen Sozialdemokratie nieder. Zugespitzt in den Formulierungen: "Tod des Neoliberalismus" (Eric Hobsbawm) und auf der anderen Seite: "alter Wein in neuen Schläuchen" (Daniel Bensaid). Innerhalb der sich gerade erst formierenden gewerkschaftlichen Linken in Deutschland deutet sich eine ähnliche Kontroverse an. Die Frage einfach nach Kontinuität und Bruch innerhalb der neoliberalen Politik zu stellen, scheint mir in die Irre zu gehen. Die Frage selbst wäre anders zu stellen: Ist ein neues Modell gesellschaftlicher Regulation möglich, das den Prämissen neoliberaler Politik folgt und dabei zugleich einen neuen Sozialstaats-Kompromiss beziehungsweise hegemonialen Konsens herbeiführen kann?

 

Zur Krise neoliberaler Hegemonie

Was wir Neoliberalismus nennen, ist eigentlich eine fragwürdige Verkürzung und allenfalls geeignet als politischer Kampfbegriff. Fragwürdig deshalb, weil hier die gesamte herrschende Politik des gesellschaftlichen Rollback seit den siebziger Jahren zusammengefasst wird. Der Begriff "Neoliberalismus" gibt das aber im strengen Sinne nicht unbedingt her. Gewiss ist Neoliberalismus nicht nur eine ökonomische Doktrin, also Neoklassik der alten Schule, sondern weiter und tiefer greifend eine gesellschaftspolitische Ideologie. Deren Kern könnte man auf die Formel bringen: radikale Ökonomisierung aller sozialen und sogar zwischenmenschlichen Beziehungen. Also, in bürgerlicher Terminologie, nicht nur Markt-Wirtschaft, sondern ganz und gar Markt-Gesellschaft, etwas wovon sich Blair und Schröder in ihrem Papier durchaus abgegrenzt haben. Als praktische Ideologie – und damit als Politik – ist Neoliberalismus eigentlich nicht weniger, aber auch nicht mehr als ein Kampfprogramm, das sich nur über seinen Feind definiert. Und dieser Feind war die historische industrielle ArbeiterInnenklasse, ihre relative Machtposition innerhalb des Sozialstaats-Kompromisses und der sogenannten fordistischen Betriebsweise. Die Stärke und Wirksamkeit neoliberaler Ideologie und Politik haben wir zur Genüge kennen gelernt; diese Stärke ist aber auch ihre Schwäche. Denn der Neoliberalismus birgt in sich keine historische Vision, kein Modell eines alternativen sozialen Konsenses. Ihm fehlt ein wirklich hegemoniefähiges Projekt. Hegemonial konnte und kann er nur in der Zerstörung seines historischen Feindes sein.

Und auch das gelang ihm zu keiner Zeit allein aus eigener Kraft. Sowohl Reagan als auch Thatcher stützten sich zugleich auf den neoliberalen Marktradikalismus und auf neokonservative Ordnungsvorstellungen. Das neoliberale Tabula rasa (gipfelnd im Satz Thatchers: "so etwas wie Gesellschaft gibt es eigentlich gar nicht") musste ordnungspolitisch flankiert werden von der Wiederbelebung alter, autoritärer Werte, die aber schon lange nicht mehr vollends tradiert werden. Gerade dieses konservative Werte-System wurde durch den Marktradikalismus als Ideologie und Lebensweise untergraben. Die neokonservative Politik blieb und bleibt in einem unauflösbaren Dilemma verfangen: Sie konnte den wesentlichen Akteuren und Trägern der neoliberalen Kultur keinerlei Integrationsangebote machen. Umgekehrt fand gerade der Marktradikalismus bei einem nicht geringen Teil des konservativen Klientels immer weniger Akzeptanz. In dieser inneren Widersprüchlichkeit herrschender Politik war schon latent eine Legitimationskrise angelegt, die im Verlauf der neunziger Jahre zu einer manifesten Krise wurde.

Bei der Bilanzierung der neoliberalen und neokonservativen Politik muss man freilich differenzieren. Auf unterschiedliche Weise – und je nach Land auch in bedeutend unterschiedlicher Intensität – gelang eine sozial-ökonomische Umstrukturierung, ein Umbruch historischer Dimension, in dessen Zentrum die Auflösung der Machtzusammenballungen der ArbeiterInnenklassen stand. Diese Prozesse sind mittlerweile schon oft genug beschrieben worden, Stichworte mögen hier genügen: Auflösung von Unternehmenseinheiten großer Konzentration, Verallgemeinerung von Dienstleistungsbeziehungen, weit hinein in die Sektoren der unmittelbaren Produktion. Damit verbunden ein Rollback in der Relation von Produktivität und Einkommen. Die wichtigsten Erfolge zeitigte die neoliberale Offensive aber gewiss in den Köpfen: in der Durchsetzung und sehr weitgehenden Verinnerlichung von Rentabilitätsnormen, zugespitzt im "Benchmarking" als Common Sense der Lohnabhängigen. Alles zusammen ergibt das Bild des "flexiblen Menschen". Dieses Bild ist deshalb so geschichtsmächtig geworden, weil es eben nicht nur Herrschafts- und Ausbeutungsinteressen artikuliert. Es nimmt auch emanzipative Bedürfnisse auf wie zum Beispiel nach Individualität und Autonomie, um sie freilich umzudrehen und auf diese Weise zu ersticken. Dies funktionierte auch deshalb, weil die fordistische Betriebsweise sowohl von oben wie von unten aufgesprengt wurde ausgehend von einer breiten Widerständigkeit und auch regelrechten Revolten in den sechziger und beginnenden siebziger Jahren.

Soweit die Erfolgsbilanz der neoliberalen Offensive. Als Kehrseite ist aber auch festzuhalten, dass der Staat, egal in welcher Formationsphase, immer noch Staat der bürgerlichen Gesellschaft ist. Der "flexible Mensch" hat nicht aufgehört, sich in "Proletarier" und "Citoyen" aufzuteilen. Genau auf diesem Terrain schlug die latente Krise neoliberaler Hegemonie in eine manifeste um: nämlich auf der Ebene der sozialen BürgerInnen-Rechte – auch in Fragen von Umverteilung und sozialen Transfers, also der Höhe und Zusammensetzung des "Soziallohns". Der enorme Druck auf die öffentlichen Haushalte ist zwar von Anfang an ein klassenpolitisches und international abgestimmtes Mittel gewesen, um neue Arbeitsverhältnisse durchzusetzen und um massiven Druck auf das gesellschaftliche Einkommen auszuüben. Aber die sozialen Proteste, Bewegungen und Kämpfe seit Beginn der neunziger Jahre fanden eben nicht in erster Linie im Bereich der unmittelbaren Arbeitsbeziehungen statt, sondern auf sozialstaatlicher Ebene.

 

New Labour als Herrschaftsmodell

Die wohlfahrtsstaatlichen Systeme sind dabei nicht nur Bezugspunkt von sozialen Gerechtigkeitsvorstellungen geblieben, sie sind es auch auf neue Weise geworden. Denn auch die neuen prekarisierten Arbeitsverhältnisse brauchen sozusagen als Schmiermittel für den "flexiblen Menschen" eine sozialstaatliche Vermittlung und Kontrolle, auch durch Mindestgarantien. Insofern haben die bisherigen Formen von sozialem Protest, Unruhe oder Widerständigkeit maßgeblich dazu beigetragen, auf der Ebene der Macht nach neuen Formen für einen herrschaftlichen Konsens zu suchen.

Auf gesellschaftlicher Ebene scheint die wohlfahrtsstaatliche Ideologie zur "moralischen Ökonomie" der Lohnabhängigen geworden zu sein, unabhängig von der historischen Realität der Sozialstaatssysteme. An diesem Punkt setzte auch die politische Konjunktur der Sozialdemokratien als Anschein eines neuen "sozialdemokratischen Europas" ein. Bei näherem Hinsehen ergibt sich, dass diese sozialdemokratischen Mehrheiten real entweder keine sind oder auf einer höchst prekären Wählerbasis beruhen. Die bisherigen liberalen und konservativen Regierungen wurden lediglich abgewählt. Die Erwartungen in neue Regierungen dürften weit auseinander gehen, wenn es denn überhaupt noch positive Erwartungen gibt. Entsprechend gibt es auch keine europäische sozialdemokratische Politik, schließlich hat es sie im Rahmen der europäischen Integration noch nie gegeben. Aber es gibt einen programmatischen Streit, in dem New Labour federführend geworden ist. Diese Debatte nimmt nur auf, was unter dem höchst schemenhaften Begriff der "sozialen Gerechtigkeit" von rechts bis links auf die Tagesordnung gesetzt wird. Auf bemerkenswert übereinstimmende Weise wird dabei die Erosion des "gesellschaftlichen Zusammenhalts" (Joachim Bischoff) bzw. der "soziale Bruch" (Jacques Chirac) beklagt und ein "neuer Gesellschaftsvertrag" eingefordert.

Wenn auch mit erheblichen Modifikationen im Detail, ist sich die Linke in den Grundzügen bei der Analyse der aktuellen historischen Phase relativ einig. Dass es sich nämlich um langfristige Transformationsprozesse handelt, um Transformationen des sogenannten fordistischen Regulationstyp und darin des keynesianischen Wohlfahrtsstaates, hin zu einem neuen Typ kapitalistischer Regulation. Dabei kann dieser neue Regulationstyp erst Ergebnis beziehungsweise Resultante einer Vielzahl von Konflikt- und Kampfsituationen auf allen gesellschaftlichen Ebenen sein. Derartige Regulationsmodelle sind nicht nur in ihrer Durchsetzung politisch-sozial und kulturell-ideologisch strukturierte Klassen-Verhältnisse. Die Auseinandersetzungen darum bringen selbst auch neue Klassenzusammensetzungen hervor.

Das, was man Regulationstyp nennt, beruht als dauerhaftes Herrschaftsmodell auf einem sozial-kulturellen "Block" von Klassenfraktionen – als dem Kräftezentrum gesellschaftlicher Hegemonie. Damit ist vielleicht auch klar, was ein neues historisches Projekt der Sozialdemokratie alles erfüllen muss. Es reicht eben nicht aus, eine grobe Plattform für Regierungspolitik oder ein Rahmenwerk von bloßen Regulierungsmaßnahmen auszuarbeiten. Damit können zwar Leitideen transportiert werden, es ersetzt aber noch nicht die gesellschaftliche Auseinandersetzung um dieses Projekt und damit die Herausbildung wirklich tragender sozialer Kräfte. Ein hegemoniales Projekt braucht soziale Leitfiguren, die das leben, woran andere sich orientieren.

Betrachtet man New Labour und Neue Mitte von den politisch-ideologischen Grundlagen her, dann beeindruckt diese Konzeption weniger durch Kontinuität oder Bruch innerhalb der neoliberalen Logik, als vielmehr durch den integrativen Charakter der Ideologiebildung. Sie liefert eine Art historische Synthese realer Politiken und Ideologien, in der zwischen den inneren Widersprüchen der bisherigen herrschenden Politik vermittelt wird. Und diese Vermittlung selbst, also auch die Art und Weise der Konsensschaffung ist das eigentlich Neue. Das lässt sich anhand von drei zentralen Elementen von New Labour und Neuer Mitte beschreiben: am System eines nationalen Wettbewerbs-Korporatismus, am Bruch mit tradierten Sozialstaats-Ideologien und anhand der Sozialpolitik der repressiven Einschließung.

 

Wettbewerbs-Korporatismus und Pflichten-Ethik

Kernstück des nationalen Wettbewerbs-Korporatismus ist in Deutschland das Bündnis für Arbeit, wobei dessen Form schon sein wesentlicher Inhalt ist. Es ist von vorneherein darauf angelegt, dass Gewerkschaften und Unternehmerverbände als die entscheidenden "Akteure" gelten. Vermittelt über die Regierung als Moderatorin werden diese Akteure in allen Fragen von Arbeits-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik einem Vereinbarungszwang ausgesetzt, und zu dieser Konsensbildung sind sie auch legitimiert. Das führt unter anderem zu erheblichen Veränderungen der traditionellen Formen des institutionalisierten Konfliktes – weg von dem kontrollierten Kräftemessen in einer konfliktorischen Sozialpartnerschaft.

Das ganze Rahmenwerk beruht auf einer einzigen, aber zentralen Prämisse, die von allen "Akteuren" akzeptiert wird, nämlich die zum Sachzwang erhobene Logik eines nationalen Wettbewerbsstaates. Ist einmal die frühere Form von institutionalisierten Konflikten durch das Regelwerk eines institutionellen Konsenszwanges abgelöst worden, ergeben sich aus dieser Prämisse alle weiteren Vereinbarungen (fast) von selbst. Im Unterschied zur Politik der Kohlschen Ära, insbesondere im Gegensatz zu der letztlich gescheiterten Offensive gegen die gewerkschaftliche Rest-Macht in den industriellen Kernbereichen, wird hier den Gewerkschaften das Angebot gemacht, als Ordnungsfaktor wieder integraler Bestandteil einer Regulierungspolitik zu werden. Genau zu diesem Zweck haben diese sich ja zwischenzeitlich auch als "Gegenmacht" erfolgreich in Szene setzen können so in den Aktionen 1996. Implizit wird damit den Gewerkschaften auch ein weitgehendes gesellschaftspolitisches Mandat übertragen, das über die eigene Klientel hinausgeht: nämlich über alle Belange der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik mit zu bestimmen. Das heißt, eine Art Bestandsschutz von Kerngruppen der Lohnabhängigen, der tendenziell zu Lasten einer solidarischen Sozialpolitik geht, wird damit möglich. Hier deutet sich die Trägerschaft eines möglichen neuen "Sozialpaktes" an, eine Schicht oder Fraktion der Lohnabhängigen, die sich – von durch Grundsicherungsbeiträgen abgesehen – mittels Anteilen am Betriebsergebnis und Zusatzversicherungen aus der sogenannten Solidargemeinschaft verabschieden kann.

New Labour vollzieht einen erklärten Bruch mit sozialen Rechten als "unbedingten Ansprüchen". Anthony Giddens hat das offen formuliert: "Die Sozialdemokratie alten Stils neigte (...) dazu, Rechte als unbedingte Ansprüche zu behandeln. Mit der zunehmenden Individualisierung sollte eine Zunahme der Verpflichtungen des Einzelnen einhergehen."(1) 

1) Anthony Giddens: Der Dritte Weg. Die Erneuerung der sozialen Demokratie, Frankfurt am Main 1999, S. 81

Dahinter verbirgt sich ein Wertewandel mit nachhaltigen Folgen. New Labour macht gegen den Neoliberalismus den Vorrang des Konsenses geltend, der aber nicht mehr durch alt-konservative Werte beschworen wird. Aufgegriffen wird statt dessen die hartnäckige Liberalismus-Kritik seitens der kommunitaristischen Theoretiker. Gesellschaft wird als "Gemeinschaft" voran gestellt.

Wir finden hier einen doppelten Bruch vor. Einerseits mit der Vorstellung von sozialen BürgerInnen-Rechten als "unbedingten Ansprüchen", also mit der historischen Sozialstaats-Idee, wie sie von unten interpretiert wurde. Andererseits wird hier aber auch ein Bruch mit dem neoliberalen Freiheits-Diskurs vollzogen. Der Vorrang von Gesellschaft als "Gemeinschaft" in Gestalt einer Pflichten-Ethik verleugnet sogar noch die rein liberale Dimension von Freiheit. Ein Umstand, der selbst Dahrendorf zur harschen Kritik veranlasste: "Dem Dritten Weg geht es nicht um offene Gesellschaft oder Freiheit. Er hat tatsächlich einen merkwürdig autoritären Anflug, und dies nicht nur in der Praxis."(2 ) 

2) Ralf Dahrendorf: New Labour und Old Liberty – Kommentare zum Dritten Weg, in: Neue Zürcher Zeitung, 14.7.1999

Nicht einmal in bescheiden reformerischer Hinsicht legitimieren sich New Labour und Neue Mitte durch irgend ein emanzipatives Versprechen. Wo Thatcher nicht mehr wusste, ob es überhaupt "so etwas wie Gesellschaft" gäbe, wird die Gesellschaft des nationalen Wettbewerbsstaates – in der Identifizierung mit Gemeinschaft – ideologisch totalitär gegen die Einzelnen.

 

Gemeinschaft, Pflicht, Repression

Dies schlägt ganz und gar durch im Diskurs gegen "Ausgrenzung", nämlich durch die Betonung der "Inklusion", der Einschließung, gegenüber Ausgrenzung und Ausschließung. Geschickt wird an die Kritik sozialer Ausgrenzung angeknüpft, aber es handelt sich hier um eine Ideologie repressiver Einschließung. Die klar ausgesprochene Politik des Arbeitszwangs hat dabei wahrscheinlich erst in zweiter oder dritter Linie eine unmittelbar ökonomische Bedeutung. Zentral ist dagegen die weit über die unmittelbare ökonomische Anwendung hinaus gehende ideologische Aufladung "der Arbeit" als Pflicht zur Pflicht.

Im alten gewerkschaftlichen Arbeitsethos ("Die Müßiggänger schiebt beiseite ...") dürfte diese Ideologie der Arbeit als Gemeinschaft stiftende Pflicht einen nachhaltig schwingenden Resonanzboden finden. Ebenso unverkennbar sind mehr als nur Berührungspunkte mit Sozialrassismen, die sich identisch in autoritären sozialdemokratischen wie rechtsextremen Traditionen finden lassen. Dass damit die repressive Einschließung zur inneren Abgrenzung wird, liegt auf der Hand. Die Blairsche Formel der "Radikalen Mitte" klingt vor diesem Hintergrund als neuer Oberton einer bekannten Melodie: der Radikalisierung der "Mitte der Gesellschaft", freilich ohne deren dumpfen Klang.

Die Einschließung befriedigt den Ruf nach Solidarität, ihr repressiver Charakter bestätigt wiederum das Abgrenzungsbedürfnis der real oder nur imaginär Privilegierten innerhalb der Hierarchie von Anerkennung und Elend. Jede Vorstellung von sozialen Rechten als "unbedingten Ansprüchen" wird bereits im Ansatz unterbunden. Die Frage Viviane Forresters (in "Terror der Ökonomie"), ob man sich denn sein Recht zu leben erst verdienen müsse, wird in der "Radikalen Mitte" auf neue Weise zu einer rhetorischen Frage. Es gibt nur eine einzige Antwort – ein Ja.

Die neue Sozialdemokratie tritt zwar in neuer Gestalt auf die Bühne, freilich in Kostümen und mit Requisiten, die man schon aus früheren Inszenierungen kennt: als Sozialdemokratie, Konservatismus und Liberalismus in neuer Zusammensetzung. Unter der Hand ergibt sich daraus ein Gesamtbild, das aus allen diesen historischen Traditionen die reaktionärsten Tendenzen zusammenführt. Der Kern des Ganzen (wenn man so will, als Paradigmenwechsel) besteht im Bruch sowohl mit den sozialen "Rechten als unbedingten Ansprüchen" in alt-sozialdemokratischer Lesart als auch mit dem liberalen Versprechen individueller Freiheiten. Erst durch diesen doppelten Bruch können New Labour und Neue Mitte die historische Kontinuität neoliberaler Herrschaftsstrategien sichern. Insoweit geben New Labour und Neue Mitte durchaus dem sozialen Druck in Richtung auf ein neues Konsensmodell nach und schaffen damit einem "neuen Gesellschaftsvertrag" eine adäquate Form.

Darüber hinaus schaffen New Labour und Neue Mitte ein institutionelles Rahmenwerk und verfügen dabei über eine schlüssige Leitidee: Workfare als soziale Zwangsintegration.

Freilich sind dies bloß notwendige, aber noch nicht hinreichende Bedingungen für ein "neues Zeitalter" herrschaftlicher Regulation und Hegemonie. Die entsprechenden sozialen und kulturellen Träger lassen sich zwar durchaus schon ausmachen, entschieden ist darüber jedoch nicht. Trotzdem kann man feststellen, dass die Dynamik der bisherigen sozialen Auseinandersetzungen Modelle wie die von New Labour begünstigt. Dies ist eben nicht davon abhängig, ob die Transformation der Sozialdemokratie zur Neuen Mitte gelingt, auch nicht davon, ob es überhaupt eine Sozialdemokratie in der Regierung gibt. Entscheidendes Erfolgskriterium wird sein, wieweit es einerseits gelingt, die sozialen Rechtsansprüche auf bloße Mindeststandards zu reduzieren (also staatlich garantierte Grundsicherung von Einkommen in allen Formen, einschließlich Rente und Lohn), und andererseits eine breite Akzeptanz für die Politik und Ideologie repressiver Einschließung zu schaffen.

Daraus ergäbe sich dann eine verfestigte soziale Hierarchisierung, was freilich auch für die privilegierten Kerngruppen relativ stabile Existenzbedingungen voraussetzt. Ein neues Integrationsmodell findet heute immer noch seine Grenzen dort, wo auch diese Kerngruppen den verschiedenen Varianten der flexiblen Selbstausbeutung und zunehmender Prekarisierung ausgesetzt sind. Als Zielgruppen sind sie schon längst ausgemacht: nicht nur die Kernbelegschaften der Exportindustrie, sondern im Allgemeinen jene von den Sozialwissenschaften ausgemachte neue Zentralfigur der "WissensarbeiterInnen", "SymbolanalytikerInnen", "SystemreguliererInnen" oder schlicht der "neue ArbeitnehmerInnen- Typ", der noch in den achtziger Jahren als sozialer und kultureller Träger eines rot-grünen Reform-Projektes galt. Darin kann man den wichtigsten Adressaten von New Labour in Deutschland erkennen und somit vielleicht auch die Zentral- oder Leitfigur eines neuen Regulationsmodells.

 

Radikalisierter oder "radikaler" Reformismus?

Was heißt das für die (linke) Linke? Um mit den Gefahren zu beginnen: Die Hauptgefahr besteht meines Erachtens in der "Zwanzig-Prozent-Falle". Damit ist die Einschätzung gemeint, Rotgrün gebe binnen kurzer Zeit mindestens zwanzig Prozent aller gesellschaftspolitischen Essentials auf, und diese müßten und könnten nun von einer linken Opposition besetzt werden. Gregor Gysi führt dies mit seinen Thesen für einen "modernen Sozialismus" vor. Darin liegt nicht nur eine Gefahr, es handelt sich auch um einen schwerwiegenden Irrtum. Der Irrtum besteht darin, so etwas wie einen fest definierten politischen Raum anzunehmen – mit entsprechenden freien oder besetzten Plätzen. In Wahrheit ist es aber so, dass ein schlichtes Nachrück-Verfahren diesen Raum immer weiter eingrenzt. Zudem läßt es die Linken auf hoffnungslosen Positionen zurück. Oder will man notfalls sogar mit dem Godesberger Programm der SPD gegen die Neue Mitte zu Felde ziehen?

Das gilt auch für den alten familiären Diskurs mit der Sozialdemokratie, der von einem Teil der Linken regelrecht verinnerlicht worden ist: die Sozialdemokratie mit ihren Versprechen zu konfrontieren oder ihren "Verrat" zu entlarven, was letztlich auf dasselbe hinaus läuft. Es setzt gemeinsame Maßstäbe voraus, die aber weder die alte noch die neue Sozialdemokratie anbieten. In der derzeitigen Auseinandersetzung zum Beispiel die traditionelle sozialdemokratische Richtung gegen die neue stark zu machen – und das gilt analog für innergewerkschaftliche Kritik am Bündnis für Arbeit –, setzt eben gemeinsame Maßstäbe der Kritik voraus.

Gerade in den entscheidenden Kontroversen um die grundlegenden Orientierungen wie "soziale Gerechtigkeit" oder §"Arbeit" zeigt sich, dass die KritikerInnen der Neuen Mitte auch deren Wegbereiter sind. Die Schwierigkeit für die (linke) Linke besteht gerade darin, dass sie sich überhaupt wieder neu bestimmen muss. Also eine Art Selbst-Schöpfung ohne Feind- und Vorbild. Damit stehen wir zwar nicht am Nullpunkt, aber die Bedingungen für eine derartige Selbst-Bestimmung sind äußerst prekär. Mit der Auflösung sozialer und politischer Formationen, die als Sozialdemokratie und Kommunismus prägend für das 20. Jahrhundert waren, hat auch die linke Linke ihre konkreten, negativen wie positiven Bezugspunkte eingebüßt. Die traditionelle "Kritik des Reformismus" fällt zusammen mit einer "Kritik der Revolution", auch wenn letztere eher verhalten geübt wird. So sehr sich die Linke in der alltäglichen Praxis finden und definieren muss: Dies geht nicht ohne eine Debatte über grundsätzliche Orientierungen. Tagespolitik und Grundsatzdebatte fallen nicht zusammen, können aber auch nicht aufeinander reduziert werden.

Zu dieser grundsätzlichen Debatte gehört die Frage, welchen Erbteil des historischen Sozialismus wir annehmen und welchen wir verweigern. Die Erbschaft des historischen Sozialismus – sowohl in sozialdemokratischer wie kommunistischer Tradition – besteht noch immer im Tausch der Freiheit gegen die Gleichheit. Im Diskurs über die "soziale Gerechtigkeit" wirkt das stark nach. Politische Strömungen wie die PDS, insbesondere aber auch die traditionelle Gewerkschaftslinke, verharren in einem Diskurs sozialer Gleichheit ohne freiheitliche Dimension – nicht zuletzt in der Kritik an New Labour und Neuer Mitte. Aber auch alle anderen werden davon eingefangen, weil die permanente Defensivposition dies offenbar nicht anders möglich macht: Verteidigung des Sozialstaates, Verteidigung tarifpolitischer Regulierung ... und so weiter. Auf Dauer wird die Linke so zur Gefangenen jener Politik, der sie widerstehen will.

Dieser grundsätzliche Aspekt ist deshalb zu betonen, weil er in der täglichen Praxis von unmittelbarer Bedeutung ist. Die gesamte Dynamik der Erosion traditioneller Sozialstaatssysteme bringt einen populären Konservatismus, also sozial reaktionäre Orientierungen, weit nach vorn und macht das autoritäre Element im traditionellen sozialdemokratischen Diskurs äußerst stark. Die Linke ist einem gefährlichen Sog zum Wohlfahrts-Etatismus ausgesetzt, der sie immer weiter weg führt von der eingreifenden Untersuchung und praktischen Suche nach real existierenden emanzipativen Bedürfnissen.

Ohne dies hier weiter ausführen zu können, will ich das an der Differenz zwischen bloß radikalisiertem Reformismus und tatsächlich radikalem Reformismus verdeutlichen: "Radikalisierter Reformismus" ist nicht mehr und nicht weniger als die traditionelle Reform-Linke im mobilisierten Zustand. Wobei sich an den grundlegenden Orientierungen nichts ändert: ein etatistisches Konzept von Vergesellschaftung, das nicht einmal mehr eine wirkliche Alternative zur kapitalistischen Vergesellschaftung enthält, sondern lediglich eine Entwicklungsvariante (staats-) kapitalistischer Regulation ist.

Demgegenüber hat Joachim Hirsch mit dem etwas unglücklichen Begriff des "radikalen Reformismus" in erster Linie nicht- und anti-staatliche Selbstorganisierungsprozesse gemeint, die sich als Gegenmacht auch institutionell niederschlagen beziehungsweise absichern. Also sehr wohl "schrittweise Veränderung grundlegender Vergesellschaftungsstrukturen", aber durch "Kampf und radikalen Bruch mit den gegebenen gesellschaftlichen und politischen Strukturen."(3)

3) Joachim Hirsch: Sozialismus – oder was sonst? in: Frank Deppe, Sabine Kebir u.a.: Eckpunkte moderner Kapitalismuskritik, Hamburg 1991, S. 20

Bezogen auf den derzeitigen politisch-ideologischen Mainstream, der bei allen Irrungen und Wirrungen der Schröder-Regierung meines Erachtens eindeutig auf New Labour und Neue Mitte zielt, aber auch bezogen auf die schwachen Tendenzen einer sozialen Opposition gegen New Labour und Neue Mitte, heißt dies: auf dem derzeitigen Hauptkampfplatz, nämlich dem Kampf um soziale BürgerInnenrechte, diese sozialen Rechte nicht nur als "unbedingte Ansprüche" zu verteidigen, sondern unmittelbar dazu überzugehen, Ansprüche konkret zu artikulieren. Und zwar nicht allein auf der Ebene sozialstaatlicher Garantien, sondern als praktische, organisierte Aneignung.

Der Verlust dieser Aneignungsperspektive zugunsten einer reinen Verteilungsperspektive (egal, ob Verteilung von Arbeitszeit oder von sogenanntem Reichtum) macht die historische Schwäche der Linken aus. Das führt auch unmittelbar zurück zum Ausgangspunkt, den sozial-ökonomischen und kulturellen Umbrüchen seit den achtziger Jahren. Es geht schließlich auch darum, den Kampfplatz selbst zu verschieben: nicht nur am Ort des Citoyen zu agieren, sozusagen als radikalisierte Sozialstaats- BürgerInnen, sondern dort, wo der flexible Mensch jeden Tag erzeugt wird und sich selbst erzeugt also in der "Welt der Arbeit".

Man muss keine Illusionen haben, um hoffen zu können. Die Umrisse eines neuen korporativen Sozialpaktes und seiner grundsätzlichen Orientierungen im Rahmen eines nationalen Wettbewerbsstaates sind vielleicht absehbar. Aber noch kann um mehr als nur die Modalitäten gestritten werden. Also sind eine Reihe von Konflikt- und sogar Kampfsituationen zu erwarten. Deshalb hat die (linke) Linke nicht um derartige Modalitäten zu kämpfen, sondern um eine links-sozialistische, libertäre Alternative. Nach der sie freilich im Getümmel der eigenen Bewegung erst noch suchen muss.

Dieser Beitrag ist erschienen in ak. analyse & kritk, Nr. 431 (21.10.1999) sowie in express, 9/1999


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