ak - analyse & kritik, Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 427 / 10.06.1999
Für den 6. Juli ist die nächste Kanzlerrunde im "Bündnis für Arbeit" angesetzt. Unklar ist noch, ob und wie die Spitzenrepräsentanten von Regierung, Gewerkschaften und Kapitalistenverbänden auch über die Einführung eines flächendeckenden Niedriglohnsektor diskutieren werden. Die jüngsten Pläne für subventionierte Niedriglöhne, die der Kölner Soziologe Wolfgang Streeck im Auftrag von Kanzleramtsminister Bodo Hombach vorgelegt hat, sind auf jeden Fall sowohl von IG-Metall-Chef Klaus Zwickel als auch von Dieter Hundt, Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), kritisiert worden. Allerdings mit völlig anderen Hintergedanken.
Wolfgang Streeck vom Kölner Max.-Planck-Institut (MPI) für Gesellschaftsforschung gilt als kritisch-moderner Industriesoziologe. Zusammen mit Fritz W. Scharpf (ebenfalls beim MPI) gehört er zum engeren Beraterstab des SPD-Vorstandes in Arbeitsmarktfragen. Mit dem Papier zum Niedriglohnsektor, das Streeck zusammen mit dem Bonner Soziologen Rolf Heinze und zwei weiteren Wissenschaftlern Anfang Mai vorgelegt hat, ist nun einer der strategischen Kernpunkte der gesamten Bündnis-Veranstaltung in Angriff genommen.
Der Leitgedanke des Streeck-Modells ist simpel: Billigjobs sind aufgrund der relativ hohen Lohnnebenkosten unattraktiv. Für die Unternehmer sind sie trotz allem teuer, für die Beschäftigten bleibt nach Steuer- und Sozialversicherungsabzug erst recht kein vernünftiges Nettoeinkommen übrig. Also übernimmt der Staat diese Lohnnebenkosten, so daß für die Kapitalisten nur die niedrigen tatsächlichen Löhne als Arbeitskosten anfallen und für die ArbeiterInnen der Bruttolohn fast dem Nettolohn entspricht. Der konkrete Vorschlag sieht vor, daß Erwerbseinkommen, die unterhalb des steuerfreien Existenzminimums von 1.500 DM im Monat liegen, von allen Sozialabgaben freigestellt werden. Die Arbeitnehmer- wie auch die Arbeitgeberbeiträge zu Renten-, Kranken-, Arbeitslosen- und Pflegeversicherung werden steuerfinanziert. Faktisch bezahlen somit Lohn- und EinkommenssteuerzahlerInnen, also die Beschäftigten diese Lohnsubvention.
Ab 1.500 DM wird die staatliche Subventionierung der Lohnnebenkosten bis zu einem Einkommen von 2.800 DM schrittweise abgebaut. Danach müßten dann von Unternehmern und Beschäftigten wieder reguläre Sozialversicherungsbeiträge gezahlt werden. Die Kosten einer solchen steuerfinanzierten Subventionierung von Niedriglöhnen werden auf einen jährlich zweistelligen Milliardenbetrag geschätzt; der Managerkreis der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung geht von etwa 30 Mrd. DM im Jahr aus. Streeck will diese Kosten zum einen durch die nächste Stufe der "ökologischen Steuerreform", vor allem aber über Kürzungen bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik (ABM und Maßnahmen des zweiten Arbeitsmarktes) und der Arbeitsverwaltung decken.
Mies bezahlte, deregulierte und entwürdigende Jobs unter unzumutbaren Arbeitsbedingungen schmackhaft zu machen, ist für Hombach und Streeck seit längerem eine Herzensangelegenheit. Bereits im Spätsommer letzten Jahres, damals noch Wirtschafts- und Verkehrsminister in Nordrhein-Westfalen, zeigte sich Hombach darüber verwundert, "daß überhaupt keine Arbeit zu haben (in Deutschland) offenbar immer noch höher geschätzt wird als ein ,McJob`". (Spiegel, 41/1998) Wenn sich Menschen in diesem Land weigern, für 5,60 DM Stundenlohn in einer Spedition Kisten zu schleppen oder für 9 DM für eine Reinigungsfirma Öltanks zu schrubben, weil solche Arbeiten die Existenz nicht annähernd sichern können, dafür aber die Gesundheit ruinieren, so ist das in den Augen von Hombach eine "Verfestigung der Subventionsmentalität", der er mit einem "aktivierenden Sozialstaat" zu Leibe rücken möchte.
"Eine gering bezahlte Beschäftigung zu haben, ist allemal besser als gar keine Arbeit", sagt auch Wolfgang Streeck - so auf einer DGB-Veranstaltung im April diesen Jahres in Bonn. 10 DM in der Stunde, brutto natürlich, hält der Wissenschaftler mit einem Monatsgehalt von nicht unter 10.000 DM für einen "akzeptablen Mindestlohn". Um 5% könne so das Beschäftigungsniveau in der Bundesrepublik gesteigert werden. "Wir müssen erlauben, daß Beschäftigung zu produktivitätsgerechten Löhnen auch dort stattfindet, wo dies heute nicht möglich ist (...) Die potentiellen Firmengründer in diesem Bereich (dem Dienstleistungssektor), die wir ja brauchen, müssen darauf vertrauen können, daß sie in den nächsten Jahren nicht ständig metallindustriebezogene Lohnerhöhungen zahlen müssen." (Die ZEIT, 16.4.1999) 3,4 Millionen Arbeitsplätze - so Hombach auf der erwähnten DGB-Veranstaltung - könnten durch einen Niedriglohnsektor vor allem im Dienstleistungsbereich geschaffen werden, insbesondere für Langzeiterwerbslose und SozialhilfeempfängerInnen.
In der prinzipiellen Argumentation liegen die Positionen von Hombach und Streeck nicht allzuweit von denen der Wirtschaftsverbände entfernt. Auch die von ihnen verbreiteten Zahlen ähneln in verblüffender Weise einer Studie, die das Institut der Deutschen Wirtschaft (IW), der "Think tank" der Arbeitgeberverbände, bereits 1997 veröffentlicht hatte. (IW-Trends, 3/1997) Unter dem Titel "Dienstleistungslücke und Niedriglohnsektor in Deutschland" kamen die Wissenschaftler der Unternehmer ebenfalls zu dem Ergebnis, daß die Beschäftigungsdichte im Dienstleistungsbereich hierzulande, gemessen etwa an den USA oder auch Dänemark, zu niedrig ist. Im Vergleich zu Dänemark wird eine "Dienstleistungslücke" von 5,8 Mio. Dienstleistungsarbeitsplätzen diagnostiziert. Das IW sieht im gesamten Niedriglohnbereich ein Potential von bis zu 3,2 Mio. Arbeitsplätzen (Hombach/Streeck 3,4 Mio.), davon 1,55 Mio. für Erwerbslose (Hombach/Streeck 1,5 Mio.).
Insbesondere wegen der enormen Kosten ist der Vorschlag, den Streeck u.a. jetzt vorgelegt haben, von allen Seiten heftig kritisiert worden. Er passe angesichts der Haushaltssituation nicht in die Landschaft, ließ Auftraggeber Bodo Hombach verlauten. Auch Klaus Zwickel sprach von einem nicht finanzierbaren "puren Aktionismus" und möchte das Thema am liebsten erstmal ganz von der Tagesordnung der Bündnisgespräche nehmen. Und trotz der ideologischen Nähe stieß das Streeck-Papier auch bei den Kapitalisten auf wenig Gegenliebe. Nicht finanzierbare Subventionierung nach dem Gießkannenprinzip, ließ Dieter Hundt verlauten. Sympathie konnte er lediglich der Idee entgegenbringen, die Mittel für den zweiten Arbeitsmarkt zu streichen. (Handelsblatt, 18.5.1999).
Das heißt natürlich nicht, daß die Unternehmerverbände prinzipiell gegen die staatliche Durchsetzung eines Niedriglohnsektors wären. Ihnen geht es jedoch um grundsätzlichere, ordnungspolitische Dinge, etwa um "echte Niedriglöhne" und eine deutliche Verschärfung der Lohnspreizung. In der Sprachregelung der Unternehmer soll eine eventuelle Lohnsubventionierung vor allem "zielgenau" sein. Dahinter verbirgt sich die Sorge, die Sozial- und Arbeitslosenhilfe könnten zu einer weniger wirksamen Peitsche der Arbeitsvermittlung werden. Folgerichtig betonen Hundt und andere in der momentanen Niedriglohndebatte, daß Sozial- und Arbeitslosenhilfe zusammengeführt und vor allem ausreichend gering sein müssen. Unterstützung bzw. "Subventionen" sollen an eine Verschärfung der Arbeitspflicht und an die "individuelle Bedürftigkeit" gekoppelt werden (Handelsblatt, 18.5.1999). Die Arbeitgeber setzen bei ihren Vorstellungen von Niedriglohn daher in erster Linie auf "produktivitätsorientierte" (Tarif-)Löhne (mit der Konsequenz von Zweit- und Drittjobs, wenn einer zum Leben nicht reicht) sowie auf ein Kombi-Lohn-Modell auf Basis der Sozialhilfe, d.h. mit strenger Bedürftigkeitsprüfung und Arbeitszwang.
Auch wenn der Streeck-Vorschlag von allen Seiten kritisiert wird, sollte nicht übersehen werden, daß es von Unternehmern bis Gewerkschaften, von CDU/CSU über FDP bis zur SPD und den Grünen einen breiten Konsens über die Notwendigkeit eines Niedriglohnsektors gibt. Neben dem jüngsten Streeck/Heinze-Papier liegen der Steuerungsgruppe des Bündnisses für Arbeit mehrere Entwürfe für subventionierte Niedriglohnbereiche vor:
Vorschläge und Modelle zum Niedriglohnsektor haben Konjunktur. Der SPD-Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Clement, spricht im Hinblick auf die Diskussion um Niedrig- und Kombi-Löhne davon, daß "kein vernünftig erscheindender Weg unerprobt bleiben" dürfe. Thea Dückert, arbeitsmarktpolitische Sprecherin der grünen Bundestagsfraktion, stößt in dasselbe Horn: "Allerdings darf nichts unversucht bleiben." Ihre Fraktion hatte bereits am 28. März diesen Jahres ein Grundsatzpapier für eine "Initiative für Investitionen, Arbeit und Umwelt" verabschiedet, in dem ausdrücklich die "Erprobung eines teilsubventionierten Lohnsektors" im Dienstleistungsbereich gefordert wird. Auch die Idee des Kombi-Lohns machen sich die Grünen in diesem Papier zu eigen. Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und Berlin haben sich bereit erklärt, Kombi-Lohn-Modelle und Subventionierungen eines Niedriglohnsektor in Pilotprojekten zu testen. In der Stadt Mainz wird die Niedriglohnsubvention bereits erprobt.
Jedes Mal sind es sozialdemokratische oder rot-grüne Regierungen, die hier die Initiative ergreifen. In Hessen z.B. ist es der Landesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Tom Koenigs, gewesen, der bei der TU Darmstadt ein umfangreiches Gutachten zur Niedriglohnsubventionierung in Auftrag gegeben hat. (1) Auch er feiert Lohnkostenzuschüsse für NiedrigverdienerInnen im Dienstleistungssektor als Durchbruch für eine "soziale Arbeitsmarktpolitik."
Die Tatsache, daß in diesen Bereichen der sog. personenbezogenen Dienstleistungen zu wenig Arbeitsplätze zu finden seien, erklärt auch die Grünen-Studie ganz im neoliberalen Mainstream mit "inflexiblen Löhnen" und mit "spezifischen soziokulturellen Einstellungen gegenüber diesen Arbeitsmöglichkeiten". M.a.W.: Es geht bei der Subventionierung eines Niedriglohnsektors darum, "unmoderne" Verweigerungshaltungen gegenüber unzumutbaren Arbeitsbedingungen zu brechen; eine Argumentation, wie sie auch Bodo Hombach gebraucht.
Ob allerdings mit einem subventionierten Niedriglohnsektor in welcher Variante auch immer die Erwerbslosigkeit tatsächlich reduziert wird, ist durchaus fraglich. Das Zentrum für Europäische Wirtschaftspolitik (ZEW) geht z.B. davon aus, daß höchstens 100.000 neue Stellen zu erwarten wären. Auch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit rechnet nur mit geringen Beschäftigungszuwächsen. In einer am 22. Mai veröffentlichten Analyse geht das IAB davon aus, daß die Mehrzahl der Langzeiterwerbslosen, insbesondere ältere, auch bei subventionierten Billigjobs nicht vermittelbar wären.
Ginge es nach den Grünen-Beratern aus Darmstadt, dann würde der Niedriglohnsektor nicht durch direkte Subventionen, sondern über Steuererleichterungen gefördert. Ihnen schwebt dabei ein Modell der negativen Einkommenssteuer vor, in dem Erwerbseinkommen bis zu einer gewissen Höhe nicht nur steuerlich befreit, sondern sogar mit Steuerrückerstattungen bezuschußt werden. Diese Art der Niedriglohnförderung begibt sich in unmittelbare Nachbarschaft zur Diskussion um eine garantierte Grundsicherung. Auch diese, vor allem von den Grünen propagiert, kann in Verbindung mit der Verpflichtung zur Arbeit als indirekte Subventionierung von Niedriglöhnen ausgestaltet werden: Grundsicherung plus Niedriglohn wäre dann eine Variante proletarischer Reproduktionsbedingungen.
Druck auf die (Tarif-)Löhne, verschärfte Arbeitsverpflichtung für Erwerbslose und SozialhilfeempfängerInnen, Zerbrechen von "unangemessenem Anspruchsdenken" in Bezug auf Löhne und Arbeitsbedingungen: Das sind die profanen Kerne der Niedriglohndiskussion. Gleichzeitig wird in dieser Debatte "Arbeit als Prinzip" ideologisch ungeheuer aufgeladen. Bombastisch spricht Hombach von "der Würde, der Kraft und der Ethik der eigenen Arbeit" oder stellt die rhetorische Frage, ob nicht jeder Job besser sei als keiner. (Spiegel, 41/1998)
Phrasen wie diese stellen durchaus einen qualitativen Sprung in der ideologischen Auseinandersetzung dar. Es ist noch nicht lange her, da hieß es flächendeckend "Arbeit muß sich wieder lohnen". Heute weiß jeder, daß es "lohnende Arbeit" für immer weniger Menschen gibt. Also muß die Arbeit selbst zum Ziel gemacht werden. Und entsprechend betonen insbesondere rot-grüne Modernisierer mit linker Vergangenheit gerne die Bedeutung von "Arbeit" für das Selbstwertgefühl, für die eigene Würde, für die soziale Integration etc. Es sind die "Querdenker" mit marxistischem Hintergrundwissen, die Streecks, Koenigs oder auch Riesters, die mit "kreativem Touch" im Rahmen des Bündnisses für Arbeit eine Art regulierter Deregulierung durchsetzen. Der subventionierte Niedriglohnsektor ist sowohl praktisch wie ideologisch ihr Gesellenstück.
dk
1)Roland Klopfleisch, Werner Sesselmeier, Martin Setzer: "Möglichkeiten des Wiedereinstiegs ins Erwerbsleben für Langzeitarbeitslose in Hessen", Darmstadt, September 1998
Auf Kommentare, Anregungen und Kritik freuen sich AutorInnen und ak-Redaktion www.akweb.de © analyse & kritik, Rombergstr. 10, 20255 Hamburg