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Updated: 18.12.2012 15:51
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Gerechtigkeit durch Ungleichheit
Das philosophische Leitbild der deutschen Standortpolitik

Hermann Werle

Viel Getöse wird um die Einführung des Arbeitslosengeld II gemacht. Welche zusätzlichen Belastungen kommen auf die Kommunen zu? Wird es zum 01.01.2005 oder doch erst etwas später eingeführt? Die gesellschaftlichen Folgen finden auf dem politischen Parkett wenig bis keine Beachtung - und das aus gutem Grund! Die Spirale des sozialen Abstiegs soll mit Hartz IV sein Ende noch nicht erreicht haben und der Druck auf die Lohnabhängigen soll weiter erhöht werden. Legitimiert werden soziale Ungerechtigkeiten durch die philosophische Schule des Anti-Egalitarismus.

Innerhalb der kapitalistischen Wirtschaftsordnung dienen sozialstaatliche Sicherungssysteme seit Bismarcks Zeiten dem Erhalt des sozialen Friedens. Auch die "Soziale Marktwirtschaft" der Nachkriegsära entstand in dem Bewusstsein, dass das freie Wirken der Kräfte des Marktes Ungleichheiten hervorbringt. Mit Hilfe sozialer Sicherungssysteme wurden seither die schlimmsten Auswüchse eines ungebremsten Kapitalismus gemildert und somit das Prinzip der Freiheit des Markts mit Aspekten des sozialen Ausgleichs verbunden - ein Kompromiss, der durch die aktuellen "Reformen" aufgehoben wird. Ein Bündnis aller Bundestagsfraktionen propagiert den Systemwechsel der Bundesrepublik Deutschland. Es handelt sich folglich nicht um eine vorübergehende Erscheinung - wie manche und mancher vielleicht noch hoffen mag - sondern um die langfristige Etablierung eines schlanken aber starken Staats, der von der "freien sozialen Marktwirtschaft" das Soziale am Munde der Lohnabhängigen einspart.

Freiheit für den deutschen Adler

Aufgekündigt wird der Kompromiss von Seiten des Kapitals, sprich der Unternehmensseite. Zu hohe Löhne, ein nicht zeitgemäßes Tarifsystem sowie das nicht mehr finanzierbare soziale Sicherungssystem seien die Hauptfaktoren der "Standortschwäche" Deutschlands. Wenngleich die jährlichen Exportrekorde deutscher Konzerne eine andere Sprache sprechen, jammert der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) auf höchstem Niveau, wie auf dem Reformkongress im September letzten Jahres: "Ob ‚Hartz-Gesetze', ob Gesundheitsreform, ob Forschung und Bildung oder Steuerpolitik und Finanzverfassung: Das Reformtempo ist eine Schnecke." Um der Schnecke Beine zu machen, ließ BDI-Präsident Michael Rogowski sogar einen leibhaftigen Adler in die beengten Lüfte des Hauses der Deutschen Wirtschaft aufsteigen und erläuterte den Besuchern das große Leid des Raubvogels: "Es geht uns darum, den Adler, zurzeit eine gebeutelte, gefesselte Kreatur, zu befreien, zu entfesseln, damit er wieder fliegen kann." Anders ausgedrückt meint die deutsche Wirtschaft, dass der deutsche Adler, der schon am Hindukusch "unsere" nationalen Interessen verteidigt, nun auch im Landesinnern mehr Freiheiten für seine Beutezüge erhalten soll. "Kluge Steuer- und Haushaltspolitik", "Entfesselung des Arbeitsmarkts", "Solidarität durch mehr Eigenverantwortung", "Ökonomisierung des Wissens" und "Sicherheit durch Wehrfähigkeit" sind nur einige der Stichwörter des Reformprogramms der deutschen Industrie, die sich "Freiheit und Rechtssicherheit durch einen schlanken, aber starken Staat" erwünscht.

Kulturrevolution von rechts

Stärkten sich Sozialdemokraten in früheren Jahren den Rücken bei den Gewerkschaften, so hält es Kanzler Schröder ganz offen mit der Industrie. Nach dem sozialdemokratischen Europa-Wahldebakel vom 13.06.2004 wurde Schröder bei der Jahrestagung des BDI mit höflichem Beifall bedacht und Rogowski versprach dem angeschlagenen Kanzler seine weitere Unterstützung bei der Umsetzung der Agenda 2010, auch wenn diese noch nicht weit genug gehen würde. Schröder bedankte sich auf seine Weise und beschimpfte sein Wahlvolk wenige Tage später beim Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft. Die Gesellschaft sei zu unbeweglich und wegen 10 Euro Praxisgebühr pro Quartal wäre "fast eine vorrevolutionäre Situation" entstanden, so der Kanzler. Auch wenn in den letzten Monaten hunderttausende Menschen gegen die Agenda und ihre Folgen auf die Straße gegangen sind und damit sehr wohl Beweglichkeit demonstriert haben, fehlt dem Kanzler auch an dieser Stelle jeglicher Sinn für die Realitäten. Es ist wenig zu spüren von einer vorrevolutionären Situation von links, dafür vielmehr von einer Kulturrevolution von rechts, die der radikalen Umgestaltung der bisherigen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse ihre legitimatorische Basis bereiten soll. Das alltäglichste Mittel, auf das Bewusstsein der Menschen einzuwirken, ist die Sprache. So werden aus Kriegen ‚Friedenseinsätze', aus der Bombardierung von Zivilisten ‚Kollateralschäden' und aus der Zerschlagung sozialer Sicherungssysteme ‚Reformen'. Stand die "mobile Gesellschaft" früher für die Möglichkeit breiter Schichten in den Urlaub nach Italien zu fahren, so wird Mobilität heute zum Verhängnis für das Heer von Arbeitslosen, gegen den eigenen Willen zu miesesten Bedingungen republikweit Arbeit aufnehmen zu müssen. Solidarität und Eigenverantwortung verbinden sich im Programm des BDI unter dem Punkt: "Solidarität ‚neu' definieren" zu der Formel: "Solidarität durch mehr Eigenverantwortung", was für die unteren Schichten der Gesellschaft nichts anderes heißen soll, als mit abgespeckter sozialer Absicherung auf niedrigstem Niveau klarkommen zu müssen.

Gleichheit ist kein Ziel mehr

Um diese Entwicklung gerecht erscheinen zu lassen, schreckt die Sozialdemokratie nicht davor zurück, auch den Begriff der "Gerechtigkeit" neu zu definieren. Dies ist nicht unbedeutsam, sind es traditionell doch Sozialdemokraten gewesen, die dem Kapitalismus durch sozialstaatliche Interventionen Gerechtigkeit abzutrotzen versuchten um dadurch Ungleichheiten auszugleichen. Wolfgang Clement war es vorbehalten, auf der SPD-Grundwertedebatte 2000 in Berlin das sozialdemokratische Neudeutsch zu präsentieren: "Der gesunde Menschenverstand, die praktische Erfahrung, aber auch die realistische Theorie sind sich einig: Verordnete Gleichheit - das lehrt die Geschichte - ist der Tod von Gerechtigkeit und Freiheit. Moderne soziale Marktwirtschaften hingegen können die Chancen auf Gleichheit erhöhen, ohne jedoch Gleichheit im Ergebnis zu sichern oder zu versprechen. Diese Form von begrenzter Ungleichheit im Ergebnis kann sehr wohl auch ein Katalysator sein für individuelle als auch für gesellschaftliche Entfaltungsmöglichkeiten. Sie kann damit auch dem Anspruch dienen, ein realistisches Mehr an Gerechtigkeit zu schaffen." Wie dieses "Mehr an Gerechtigkeit" aussieht, erfahren Arbeitslose in zunehmenden Maß. Wer bei der Agentur für Arbeit oder auf dem Sozialamt nicht spurt, wird mit Sperrzeiten abgestraft, wenngleich vom "kleinen" Sachbearbeiter bis zu Minister Clement natürlich alle wissen, dass es keine ausreichende Anzahl von Arbeitsplätzen gibt. Worum es bei der aktuellen Arbeitsmarktpolitik des "Fördern und Forderns" im Kern geht, ist auch lediglich das "Fordern". Nach dem Prinzip "Keine Leistung ohne Gegenleistung" der Anti-Egalitaristischen Philosophie steht jedem Menschen nur das zu, was er für die Gesellschaft leistet. In diesem Sinn ist Umverteilung von gesellschaftlichem Reichtum ungerecht und geradezu ein Frevel, werden dadurch doch die so genannten Leistungsträger der Gesellschaft bestraft. Ursachen hoher Arbeitslosigkeit und sozialer Ungleichheit werden in diesem Denkgebäude ausgeblendet. Sie müssen sogar ausgeblendet werden, um den Blick hinter die ideologische Nebelwand zu verhindern. Mit dem Anti-Egalitarismus, der zur Leitidee der SPD geworden ist, findet die neoliberale Wirtschaftspolitik ihre philosophisch-ideologische Entsprechung.

Industrielle Despotie

Zu den Konsequenzen dieser Art von Gerechtigkeit gehört auch die Initiierung stigmatisierender Debatten über "Faulenzer", "Scheinarbeitslose" oder "Sozialschmarotzer", um wachsende Ungleichheiten, verschärfte Sanktionen, Kontrollen und Zumutbarkeitskriterien gegenüber Arbeitslosen zu legitimieren. Es wird sich zukünftig - ähnlich wie in den USA - eine soziale Schicht dauerhaft Ausgegrenzter herausbilden, deren individuelle und soziale Rechte aufgehoben werden. So wird es nicht mehr lange dauern, dass Arbeitslose zum Laubfegen in Parks gezwungen werden, aus denen sie von neuformierten Kiezpolizeien dann des Abends vertrieben werden oder für das Betreten Eintritt zu zahlen haben.

Der soziale Abstieg, der immer mehr Menschen droht, wirkt subtiler Weise auch disziplinierend auf jene, die noch einer Arbeit nachgehen. Deren Angst um den Arbeitsplatz lähmt jeglichen Widerstand gegen Lohndumping und Arbeitszeitverlängerung und schwächt die gewerkschaftliche Arbeit. Disziplin und Gehorsam sind die Markenzeichen einer gesellschaftlichen Realität, deren soziale Grundpfeiler eingerissen werden. Dass demokratische Prinzipien dabei ebenfalls im Schutt versinken, nehmen die großen Parteien wissentlich in Kauf. Sie haben sich nach Joachim Hirsch, Professor für Politikwissenschaft, "unter dem Diktat kapitalistischer Standortsicherung" zu "vornehmlich medial operierenden Propagandamaschinen" entwickelt und etablieren die Unterwerfung in die industrielle Despotie.

Anti-Egalitarismus

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit waren die Leitgedanken der französischen Revolution, die auch in den ersten Menschenrechtserklärungen ihren Niederschlag fanden. Der Egalitarismus beinhaltete die Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz. Zu dem Prinzip der Freiheit gehörte auch die Abwesenheit von Armut, die der Freiheit des Individuums entgegensteht. Mit der Brüderlichkeit verband sich der fromme Wunsch, dass etwas Bescheidenheit der Reichen vorhandene Ungleichheiten einschränken würden und sich damit eine Verteilungsgerechtigkeit ergäbe. Der seit einigen Jahren aufkommende philosophische Anti-Egalitarismus stellt diese Prinzipien auf den Kopf, indem er mitunter Bürgerrechte einschränken will sowie jegliche staatlichen Eingriffe anprangert, die Ungleichheiten vermindern. Bei diesem neoliberalen Vorstoß gilt das Motto: Wer arm ist und nicht arbeitet, hat keine Ansprüche an die Gesellschaft zu stellen bzw. für staatliche Leistungen ist zwangsweise eine Gegenleistung zu erbringen.

Aus: MieterEcho 305/August 2004


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