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Updated: 18.12.2012 15:51
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Rainer Roth

Agenda 2010 - wie weiter?

(Vortrag auf einer Veranstaltung der IG Metall Kiel am 27.05.2004)

I) Agenda 2010 im Interesse der Menschen?

Agenda 2010 bedeutet:

  • Abschaffung der Arbeitslosenhilfe,
  • Verwandlung von 3 Mio. Arbeitslosen in Sozialhilfeempfänger,
  • Senkung des neuen Arbeitslosengelds II unter das bisherige Sozialhilfeniveau
  • Zumutbarkeit von Löhnen, die bis zu einem Drittel unter Tarif und damit weit unter dem Sozialhilfeniveau liegen dürfen und
  • Ausbau der Zwangsarbeit.

Das ist nach Auffassung der SPD-Grünen-Bundesregierung gerecht und vereinbar mit einer solidarischen Gesellschaft: "Gerecht ist, Menschen schneller in Arbeit zu bringen. ... Gerecht ist, allen Bürgerinnen und Bürgern die Teilhabe an der Gesellschaft, der Wirtschaft und der Politik möglich zu machen." (agenda 2010, Deutschland bewegt sich, Hg. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, November 2003, 10)

2,8 Mio. Erwerbstätige in 670 Berufen beziehen nach Angaben der Bundesregierung Tariflöhne von 6 Euro und darunter. Für sie sind Löhne von 4 Euro und darunter zumutbar.
Löhne unterhalb des Existenzminimums sind gerecht, Hauptsache Arbeit. Arbeit als solche scheint gerecht und solidarisch zu sein, unabhängig davon, ob man seine Miete davon bezahlen kann. Löhne bis zu einem Drittel unter Tarif sind nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts nicht sittenwidrig, sondern entsprechenden den hier geltenden guten Sitten.

"Unternehmen interessieren sich nicht dafür, ob man seine Miete zahlen kann," erklärte der Leiter des Münchener ifo-Instituts, Prof. Dr. Hans-Werner Sinn in einer Talk-Show bei Christiansen am 4.4.2004. Er hat recht.

Der Mensch steht bei der Agenda 2010 für Regierung und Unternehmen auf eine bestimte Weise zweifellos im Mittelpunkt.
Wie kann man, sofern "der Mensch" davon lebt, seine Arbeitskraft als Ware zu verkaufen, den Preis der Ware Arbeitskraft des Menschen und seine Kosten als Arbeitsloser unter das Existenzminimum senken? Dazu muss man sich schon voll auf "den Menschen" konzentrieren. Im modernen Deutsch eben: Kundenfreundlichkeit zeigen.
Andererseits, sofern "der Mensch" Ware Arbeitskraft kauft, steht auch er im Mittelpunkt, denn die Verbilligung der Ware Arbeitskraft verschafft diesem Typ Mensch höhere Gewinne.

Zentrum der Agenda 2010 und der Hartz-Gesetze: massives staatlich organisiertes Lohndumping.

Die Arbeitgeberverbände verlangen seit vielen Jahren die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe und die Senkung der Sozialhilfe. Die Dachorganisation aller Unternehmen, der Deutsche Industrie- und Handelskammertag fordert die Senkung der Sozialhilfe um 25%. Das bedeutet: Nur noch 3,75 € sollen am Tag für Essen und Trinken zur Verfügung stehen. Mit 2,30€, die ein Pils kostet, wäre dann mehr als die Hälfte des Tagesbedarfs vertrunken. Prof. Sinn geht in seinem Buch "Ist Deutschland noch zu retten" unter dem Beifall von Konzernvorständen sogar so weit, die Abschaffung der Regelleistung des Arbeitslosengelds II in Höhe von 345 Euro zu fordern und nur noch einen Mietzuschuss zuzugestehen. Die Allgemeinheit soll für Essen und Trinken von Arbeitslosen aufkommen? Wo kommen wir denn da hin! Hunger ist angesagt, als Motor für Hungerlöhne.

Zweck des Sozialabbau ist nämlich nicht der Sozialabbau selbst, sondern die Senkung des Lohnniveaus. Senkungen der Arbeitslosenunterstützung, also Sozialabbau, dienen dem Lohnabbau. Das ist das eindeutige Interesse des Kapitals.

Sozialhilfe definiert eine Art Mindestlohn, ein unteres Niveau der Tarife.

Unterhalb des staatlich definierten Existenzminimums möchte kein Lohnabhängiger arbeiten.
Die Arbeitgeberverbände und die Masse der Ökonomen erklären die Ursachen der Arbeitslosigkeit daraus, dass die Löhne zu hoch sind. Wenn Waren auf einem Markt (hier dem Arbeitsmarkt) nicht verkäúflich sind, müssen sie eben im Preis fallen, so wie Bananen oder Äpfel auf dem Wochenmarkt.

"Jeder findet Arbeit, wenn man zulässt, dass der Lohn weit genug fällt, denn je weiter er fällt, desto attraktiver wird es für die Arbeitgeber, Arbeitsplätze zu schaffen, um die sich bietenden Gewinnchancen auszunutzen." (Hans Werner Sinn, Ist Deutschland noch zu retten, München 2003, 93) Sozialhilfe und Tarifverträge lassen das leider nicht zu, also müssen Sozialhilfe und Tarifverträge geknackt werden. Beides: Sozialhilfe und Tarifverträge gehören zusammen, denn auch die Sozialhilfe definiert eine Art Mindesttariflohn.

"Hier zu Lande ist der Arbeitsmarkt das Problem. Er wird heftig verzerrt durch Flächentarifverträge, vor allem aber durch die Sozialhilfe." (Sinn in FTD 29.01.2004)

Sinn verlangt die Senkung aller Bruttolöhne um 10-15%. Die Arbeitgeberverbände streben seit vielen Jahren die Senkung der unteren Löhne um ein Drittel an, um das Tariflöhne von allen von unten her zum Einsturz zu bringen. Alles im Interesse der sich "bietenden Gewinnchancen".
Beim Streben nach Senkungen von Löhnen und Sozialhilfe gibt es für das Kapital
keine Grenze nach unten. Denn in seinen Augen zeigt Arbeitslosigkeit immer nur an, dass Löhne und Sozialhilfe zu hoch sind. Und das, obwohl mit wachsender Produktivität die Nachfrage des Kapitals nach Arbeitskraft sind. Das ist eben der Standpunkt der Käufer der Ware Arbeitskraft. Und deren Interessen stehen bei der Agenda 2010 im Mittelpunkt.

Es gibt keine Grenze nach unten, es sei denn, die LohnarbeiterInnen erkämpfen sie. Auf eine soziale Verantwortung des Kapitals, auf dessen ethische und moralische Werte können sie sich dabei nicht verlassen. Verantwortung kennt das Kapital nur gegenüber sich selbst und seiner profitablen Vermehrung. Löhne und Sozialhilfe nicht drücken zu wollen, wäre von diesem Standpunkt aus unmoralisch und unsozial.

Agenda 2010 - nicht in erster Linie Sozialabbau, sondern Lohnabbau

Es geht bei Agenda 2010 um Sozialabbau als Mittel zum Zweck des Lohnabbaus und nicht in erster Linie um einen Angriff zwecks Zerschlagung des Sozialstaates. Der Angriff richtet sich sowieso nicht in erster Linie gegen "den Staat". Er richtet sich gegen Menschen, genauer gegen LohnarbeiterInnen und ihre elementaren Interessen.
Der Angriff dient auch nicht in erster Linie dem Sozialkahlschlag oder einer ökonomischen unsinnigen Senkung der Binnennachfrage.
Der Angriff richtet sich in erster Linie gegen das Lohnniveau und hat das Ziel die Unternehmensgewinne zu erhöhen.

Senkungen der Sozialhilfe richten sich nicht in erster Linie gegen "Sozialschmarotzer", sondern gegen die Lohnabhängigen

Die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe und die Senkung der Sozialhilfe dienen nicht dazu, die Faulheit der Arbeitslosen zu bekämpfen und endlich den Anreiz zur Arbeit zu schaffen, den es ansonsten angeblich nicht gibt. Das wollen uns nur das Kapital, seine Ökonomen und seine Parteivorstände von CDU bis SPD weismachen.

Die Senkung der Sozialhilfe dient auch nicht dazu, den Sozialschmarotzern das süße Leben zu vermiesen oder den Missbrauch der Sozialhilfe durch Florida-Rolfs zu unterbinden. Das wollen uns die Medienkonzerne unter Führung von BILD, aber auch die Parteiführer der Großen Koalition einreden.

Angriffe auf und Stimmungsmache gegen Sozialhilfe, richten sich hauptsächlich gegen die Sozialhilfe als Mindestlohn und sind letztlich Angriffe auf die LohnarbeiterInnen und ihr Lohnniveau, sowie auf die Tarifverträge.

Die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe (im Hartz-Deutsch: Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe) dient auch nicht der besseren Betreuung der Langzeitarbeitslosen durch jetzt nur noch eine Behörde, das Jobcenter.

Das ganze Elend der bisherigen Haltung der DGB-Führung gegenüber der Abschaffung der Arbeitslosenhilfe kommt in einer Erklärung von elf DGB-Bezirksvorsitzenden zum Ausdruck: "Das ursprüngliche Ziel der Alg II-Reform, Langzeitarbeitslose besser zu betreuen, habe sich ins Gegenteil verkehrt. Von der Idee des Förderns und Forderns, seien nur "massive Leistungseinschnitte" zu Lasten der Arbeitslosen übrig geblieben." (einblick 10/04 vom 24.05.2004, 1)

Jobcenter und Arbeitslosengeld II - bessere Betreuung von Langzeitarbeitslosen?

Das ursprüngliche und wichtigste Ziel der Abschaffung der Arbeitslosenhilfe war immer Lohndumping, Senkung von Mindestlöhnen und nicht die bessere Betreuung der Langzeitarbeitslosen. Und auch die Versuche, die Vermittlung zu verbessern, haben in erster Linie das Ziel, die Kosten zu senken und die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zu senken, damit mehr für die Profite übrigbleibt.

Wenn die Hartz-Gesetze bessere Betreuung von Langzeitarbeitslosen zum Ziel haben, also eine Chance für sie sind, dann geht man dagegen auch nicht auf die Straße oder? Aus diesem Grund war von energischer Mobilisierung der DGB-Führung gegen den massivsten Angriff auf die Arbeitslosenunterstützungen nicht viel zu spüren. Die grundlegende Übereinstimmung mit den Hartz-Gesetzen und nicht das angebliche Desinteresse der Arbeitslosen und Beschäftigten, etwas gegen die Agenda 2010 zu unternehmen, war der Grund für die miserable Mobilisierung der DGB-Führung gegen Hartz.

Illusionen, die Bereitschaft zum "Dialog" und zur Mitarbeit bei der Umsetzung der Hartz-Reformen haben die notwendige Mobilisierung dagegen lange Zeit blockiert und verhindert.
Erst die Demonstration der 100.000 in Berlin am 1.11.2003, die gegen den heftigen Widerstand der DGB-Führung zustandekam, brach die Blockade etwas auf. Nach der Verabschiedung der Agenda 2010 sprach auch Michael Sommer von Lohndumping mit Hilfe von Hartz IV.

Bündnis zwischen Arbeitslosen und Beschäftigten ist notwendig

Wir brauchen ein Bündnis von Arbeitslosen und Beschäftigten und nicht die Unterstützung von Reformen, die Arbeitslosen und Beschäftigten in den Rücken fallen.
Das Kapital versucht, dieses Bündnis zu verhindern. Wir müssen es fördern. Und es wird nicht gefördert, wenn Gewerkschaften den Arbeitslosen die Agenda 2010 als Chance zu verkaufen. Arbeitslose erleben tagtäglich das Gegenteil.

Dieses Bündnis zu fördern, setzt voraus, die gemeinsamen Interessen zwischen Arbeitslosen und Beschäftigten herauszuarbeiten und in den Mittelpunkt zu stellen.
Das ist nur möglich, wenn der Zusammenhang zwischen Sozialabbau und Lohnabbau im Zentrum steht. Nur so können die KollegInnen in den Betrieben sehen, dass sich Angriffe auf Arbeitslose und Arme letztlich gegen sie selbst richten. Nur auf dieser Basis gibt es gemeinsame Aktionen, nur auf diese Weise kommt der Protest gegen Kürzungen bei Arbeitslosen auch in die Betriebe.

Beschäftigte sind an einem möglichst hohen Mindestlohn Sozialhilfe (bzw. Arbeitslosenunterstützung) interessiert, nicht an Kürzungen bei Arbeitslosen und Armen. Das Kapital will sie mit dem trojanischen Pferd der Senkung der Lohnnebenkosten und der Steuern ködern. Das Kapital lockt mit einer Erhöhung des Nettolohns, wenn durch Kürzungen bei Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern Ausgaben verringert und deshalb Beiträge zur Arbeitslosenversicherung und Steuern gesenkt werden können.
Das Ziel der Senkung der Lohnnebenkosten, richtet sich gegen Arbeitslose, weil es nur mit Kürzungen zu Lasten der Arbeitslosen durchzusetzen ist. Es kann nicht unser Ziel sein.
Umgekehrt sind Arbeitslose an möglichst hohen Löhnen interessiert und nicht an möglichst niedrigen. Das gibt das Kapital vor, um Arbeitslose gegen Tarifverträge und die beschäftigten KollegInnen und gegen Gewerkschaften aufzuhetzen.

Notwendige Grundlage eines Bündnisses zwischen Beschäftigten und Arbeitslosen muss m.E. die Forderung nach gesetzlichen Mindestlöhnen sein. Zehn Euro brutto die Stunde (rd. 1.700 € brutto bei einer 38,5 Stundenwoche oder 1.000 - 1.100 € netto) liegen knapp über der Pfändungsfreigrenze von 940€, die seit einigen Jahren gilt. Ein solcher Mindestlohn würde ein bescheidenes Niveau der Lebenshaltung erlauben und dem Lohndumping entgegenwirken. Gesetzliche Mindestlöhne sind notwendig, weil erstens eine wachsende Zahl von Betrieben nicht tarifgebunden ist und zweitens viele Tarife Löhne unterhalb des Existenzminimums festschreiben.
Andererseits ist eine Grundsicherung für alle Arbeitslosen notwendig, und zwar nicht in der Höhe der abgesenkten Sozialhilfe namens ALG II, sondern m.E. auf einem Niveau von etwa 800-850 Euro für einen Alleinstehenden. Dieser Betrag würde deutlich über dem Niveau der heutigen Sozialhilfe für einen Alleinstehenden liegen, die sich auf etwa 650€ beläuft (nach Angaben des Instituts für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik in Köln). Er würde aber auch unter dem festzusetzenden gesetzlichen Mindestlohn liegen. Der Mindestlohn muss das Sozialleistungsniveau übersteigen, da Arbeitende gegenüber Nicht-Arbeitenden einen höheren Bedarf haben.

Neben gesetzlichen Mindestlöhnen und Grundeinkommen für Erwerbslose und RentnerInnen, dem Ausbau der Sozialversicherung zu Lasten der Privatversicherungen und massiver Arbeitszeitverkürzung steht auch die Rücknahme aller Senkung von Gewinnsteuern auf der Agenda der LohnarbeiterInnen.

Seit 2001 bekommen Kapitalgesellschaften jährlich 20-25Mrd. € zugeschoben, weil der Körperschaftssteuersatz massiv gesenkt wurde. Angeblich sollen die Gewinnsteuersenkungen Investitionen fördern und die Arbeitslosigkeit bekämpfen. Die Investitionen der Kapitalgesellschaften fielen jedoch in den Keller und die Arbeitslosigkeit stieg. Das gleiche trifft auf die Senkung des Spitzensteuersatzes der Einkommensteuer zu.

Bei der Steuerreform gibt es kein Controlling und keine Evaluation. Den Arbeitslosen gegenüber heißt es: keine Leistung ohne Gegenleistung. Das Kapital dagegen erhält staatliche Leistungen ohne jede Gegenleistung und lässt sich das mit Kürzungen im Bildungswesen, Gesundheitswesen oder bei der öffentlichen Infrastruktur usw. bezahlen.
Den Arbeitslosen gegenüber heißt es: Fördern und Fordern. Dem Kapital gegenüber gilt. Fördern ohne zu fordern. Staatsknete an nicht-Bedürftige austeilen, ist hier üblich.
Die Steuerreform hat ihren vorgeblichen Zweck nicht erfüllt. Die Gewinnsteuersenkungen müssen folglich rückgängig gemacht werden.


II) Ware Arbeitskraft und damit der Profit im Mittelpunkt, nicht der Mensch

Solange die Arbeitskraft eine Ware ist, die auf einem Arbeitsmarkt verkauft werden muss, kann der Mensch und die Entwicklung seiner Fähigkeiten gar nicht im Mittelpunkt stehen.
Es stehen die Interessen der Käufer der Ware Arbeitskraft im Mittelpunkt. Sie können menschliche Fähigkeiten nur insoweit nutzen und ihre Entwicklung nur insoweit zulassen, als sie daraus Profite ziehen können. Auch wenn sie gute Menschen wären und soziale Verantwortung spüren würden, können sie letztlich nicht anders, wenn sie überleben wollen.

Die Nachfrage nach Ware Arbeitskraft sinkt aber mit den revolutionären technischen Fortschritten und sie wird weiter sinken. Das gesamtwirtschaftliche Arbeitsvolumen fällt, besonders in der Industrie.

Die Produktivität in Industrie, aber auch in anderen Bereichen ist vor allem im letzten Jahrzehnt enorm gestiegen. Mit sinkender Nachfrage des Kapitals nach Arbeitskraft entwickelt sich die Langzeitarbeitslosigkeit und nimmt zu. Diejenigen, deren Arbeitskraft im Durchschnitt weniger produktiv ist, d.h. nur unterdurchschnittlich Gewinn abwirft, werden zu den sogenannten Problemgruppen des Arbeitsmarkts.
Dazu zählen laut Statistischem Bundesamt "insbesondere Jüngere, Ältere, Frauen, Ausländer und Schwerbehinderte." Also die Mehrheit. Der Chef von Infineon redete von "Schwach-Performern". Deren Ware ist schlechter, ihr Ertrag (Performance) schwach.

Ältere werden immer früher aussortiert, da Leistungsdruck und Arbeitszeiten in Betrieben zunehmen. Sie werden nicht als Menschen respektiert, sondern nur als Profitbringer.
Wenn die Nachfrage des Kapitals nach Arbeitskraft sinkt, sinkt auch die Nachfrage nach Jugendlichen, die die ausscheidenden Arbeitskräfte ersetzen. Meines Erachtens ist das auch eine (vielleicht die wichtigste) Ursache der gesunkenen Geburtenraten.
Frauen sind eine Problemgruppe, weil das Kapital an ihnen letztlich nur als Arbeitskraft interessiert ist. Dass sie Kinder gebären und großziehen, stört das Eigeninteresse der sogenannten. Arbeitgeber. Sie fühlen sich privat nicht für die Reproduktion der ganzen Gesellschaft verantwortlich. Sie sind dafür nicht zuständig.

Die "Problemgruppen" nehmen mit steigender Produktivität zu. Das ist keine Folge der schlechten Arbeit der Arbeitsämter oder schlechter Vermittlung, und auch keine Folge zu hoher Unterstützungen bzw. einer wachsenden Faulheit der Arbeitslosen, sondern eine Folge der Logik des Kapitals.

Das Kapital verschärft das Problem "Langzeitarbeitslosigkeit" noch, weil es auf die gestiegene Produktivität mit Arbeitszeitverlängerung statt mit Arbeitszeitverkürzung antwortet. Die immer teureren Maschinen und Anlagen müssen länger in Betrieb gehalten werden. Die Arbeitskraft muss bei gleichem Lohn besser genutzt werden. Das hängt auch mit den gesunkenden Profitraten zusammen. (vgl. Rainer Roth, Nebensache Mensch, Frankfurt 2003, 218-233)
Unsere Antwort heißt: massive Arbeitszeitverkürzung (30-Stunden bei vollem Lohnausgleich) und nicht massive Arbeitszeitverlängerung (42 Stunden ohne jeden Lohnausgleich).

Der Warencharakter der Arbeitskraft steht der Entfaltung der Fähigkeiten von Millionen Menschen im Wege. Ihre Fähigkeiten verfaulen, erlahmen, werden verschwendet, ins Private abgedrängt. Das mangelnde Selbstvertrauen, die Trägheit, die daraus entsteht, das Desinteresse, die Gleichgültigkeit gegen sich selbst wird den Jugendlichen, den Älteren usw. auch noch als Faulheit ausgelegt und als eigentliche Ursache ihrer Arbeitslosigkeit hingestellt.
Wachsende Arbeitslosigkeit aber spiegelt nicht wachsende Faulheit wieder, sondern wachsendes Unvermögen des Kapitals, menschliche Fähigkeiten produktiv zu nutzen, spiegelt sinkende Nachfrage des Kapitals nach Arbeitskraft wieder. Das gilt weltweit, wenn auch unter verschiedenen Bedingungen verschieden.
Menschliche Fähigkeiten können sich erst dann allseitig entwickeln, wenn die menschliche Entwicklung zum Selbstzweck geworden ist und nicht mehr eingepresst ist in beschränkte private Profitinteressen, die sich nur das Wachstum des Kapitals und entsprechende Renditen als Zweck setzen.


III) Agenda 2010 - Antwort auf die tiefste Krise der Nachkriegszeit.

Die Agenda ist nicht in erster Linie einem Kurswechsel hin zum Neoliberalismus zu verdanken oder einem Wechsel der Politik bzw. einer Ideologie oder eines paradigmas (Leitbilds). Sozialabbau und Lohnabbau waren die Antwort des Kapitals auf alle bisherigen Krisen, gemäss seinem Leitbild Profitsicherung. Und zwar unabhängig davon, ob SPD oder CDU die Regierung gestellt haben. Die bisher nicht gekannte Aggressivität des Sozialabbaus folgt ganz einfach daraus, dass sich das Kapital in der der tiefsten Krise der Nachkriegszeit befindet. Und das erfordert härtere Bandagen.

a) Seit 2001 bis heute Überproduktionskrise.

Die Industrieproduktion war 2003 und auch im ersten Quartal 2004 immer noch niedriger als im Jahr 2000, dem Höhepunkt des letzten Aufschwungs. Die Krise der Industrieproduktion ist die Grundlage der Krise. Sie dauert nun schon drei Jahre und damit länger als jemals zuvor. Ein Ende ist noch nicht abzusehen. Bisher wurde der Aufschwung zwar schon oft angekündigt, er lässt sich aber immer noch nicht blicken.

Überproduktion und ihre Vernichtung in Krisen sind die notwendige Folge der Entwicklung der Produktivität unter der Regie des Kapitals. (vgl. Roth 2003, 291-310)
Es wurden zu viele Waren produziert, nicht zu wenige; es wurde zu viel investiert, nicht zu wenig. Privateigentümer stehen in Konkurrenz zueinander, jeder strebt nach Profit. Der aber steckt in den Waren, die produziert werden. Das Interesse jedes Unternehmens besteht darin, möglichst viel produzieren. Bis der Markt erklärt, ich kann die erzeugten Waren nicht mehr aufnehmen, ich bin gesättigt. Dann erst weiß man, dass man hat zuviel Kapital investiert hat und beginnt, die Überkapazitäten abzureißen.
Überproduktionskrisen entstehten aufgrund der Eigentumsverhältnisse und der Produktion für Markt und Profit. Das Wirtschaftssystem verschleudert Produktivkräfte, reißt nieder, was es aufgebaut hat. Nicht eine falsche Politik von SPD oder CDU, sondern, wenn man so will, eine falsche Ökonomie ist die Ursache von Krisen. Krisen sind also auch nicht mit einem "Politikwechsel" der SPD oder einem Regierungswechsel zu verhindern.

Die Ursache der Krise liegt auch nicht bei den Löhnen. Das Kapital erklärt, die Krise wäre ausgebrochen, weil die Löhne zu hoch waren. Aber: wären sie niedriger gewesen, wäre die Krise aber nur noch früher ausgebrochen. Die Gewerkschaftsführungen sagen, die Krise sei ausgebrochen, weil die Löhne zu niedrig wären. Aber: wären sie höher gewesen, wäre die Krise allenfalls später ausgebrochen. Auch wenn die Binnennachfragen, also Löhne und Sozialleistungen höher oder niedriger gewesen wären, wäre die Krise ausgebrochen. Es ist eine Krise der Kapitalverwertung überhaupt, nicht eine Krise einer falschen Verteilungspolitik. Das Kapital treibt die Produktion immer wieder über die zahluingsfähige Nachfrage, die Kaufkraft hinaus, egal wie hoch diese ist.

Das Kapital wird mit der Produktivität nicht fertig, die es selbst so energisch fördert.
Es behindert und bremst die Entwicklung der Produkivität. Das und nicht plötzliche Ausbrüche von Faulheit der Arbeitslosen und Anspruchsmentalität der Lohnabhängigen ist die Ursache der Krisen.

b) Finanzkrise - Überproduktion an Finanzkapital

Wir verzeichnen auch die tiefste Finanzkrise der Nachkriegszeit.
Pleiten und wachsende Unternehmensverschuldung machen die Rückzahlung von Krediten schwieriger. Riesige Massen fauler Kredite stehen in den Büchern der Banken. Allein 2002 waren es faule Kredite im Umfang von 32 Mrd. Euro, die von den Banken unter riesigen Verlusten der Steuerzahler abgeschrieben wurden.
Es gibt eine gewaltige Überschussliquidität, gewaltige Summen überschüssigen Kapitals, die die Banken und Versicherungen in einen Anlagenotstand gebracht haben. Der Kapitalüberschuss musste unter hohem Risiko in der Hoffnung auf Renditen irgendwo untergebracht werden.
Die Kapitalüberschüsse waren auch die Ursache für den Höhenflug der Aktienkurse, der 2001 in sich zusammenbrach. Auch hier war die Folge: Wertberichtigungen in gigantischem Umfang in den Bilanzen der Finanzkonzerne aber auch der Industriekonzerne. Die Allianz, der größte Finanzkonzern Deutschlands, fuhr 2002 zum ersten Mal einen Verlust ein. 2003 konnte sie einen erneuten Verlust nur den (steuerfreien) Verkauf von Beteiligungen vermeiden.

Die Zinsen sind auf einem historischen Tief, nicht zuletzt wegen der Überproduktion von Kapital.

c) Immobilienkrise

Dank spekulativ aufgeblähter Investitionen gibt es eine Überproduktion von Immobilien und sinkende Immobilienpreise, und das nicht nur in Ostdeutschland. Auch hier entstehen Verluste, die zu Wertberichtigungen und zu massiven Verlusten führen. Die Verluste schwächen vor allem die Banken. Besonders gebeutelt wurde die Hypovereinsbank, aber auch die Berliner Bankgesellschaft usw.. Die mit Milliarden Steuererleichterungen geförderte Überinvestition im Immobiliensektor endete in einer langandauernden Krise der Bauindustrie und entsprechender Massenarbeitslosigkeit von Bauarbeitern. Von Faulheit bzw. zu hohen Löhnen der Bauarbeiter als Ursache der Krise und ihrer Arbeitslosigkeit zu sprechen, kommt Idiotismus gleich.
In der Entwicklung der Immobilienpreise liegt ein wichtiger Grund, weshalb die Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts in Großbritannien oder Spanien höher sind als in Deutschland. In beiden Ländern sind die Immobilienpreise seit 2001 um etwa 60% gestiegen. In Deutschland dagegen sind sie gefallen. Aufgrund niedriger Zinsen strömte Überschusskapital in Immobilienanlagen. Beim Wiederverkauf erlöste Gewinne flossen in den Konsum und stärkten die Binnennachfrage. Die Industrieproduktion jedenfalls war es nicht, die dazu führte, dass Großbritannien Deutschland beim Bruttoinlandsprodukt pro Kopf überrundet hat. Die liegt nämlich heute unter dem Niveau von 1995.

Die Bankenkrise außert sich in Überkapazitäten. Diese werden massiv abgebaut.
Überproduktionskrise und Finanzkrise erzeugen Arbeitslosigkeit.

d) Auf dieser Basis spitzt sich die Krise der Staatsfinanzen zu.

Es sind die höchsten Haushaltsdefizite der Nachkriegszeit zu verzeichnen, tatkräftig gefördert durch die massive Senkung der Gewinnsteuern durch die Bundesregierung, mit der diese den krisengebeutelten Konzernen unter die Arme greifen wollte.

e) Auf dieser Basis entwickelt sich auch die Krise der Sozialversicherung.

Sie ist vor allem eine Krise der Arbeiterrentenversicherung. Heute werden 40% der Arbeiterrenten vom Staat bezahlt, vor einem Jahrzehnt waren es erst 25%. Die Angestelltenversicherung steht wesentlich besser da.
Schuld daran ist nicht die demographische Entwicklung, also der Umstand dass Arbeiter angeblich immer länger leben und außerdem zu wenig Kinder in die Welt setzen, die Rentenbeiträge zahlen könnten.

Das ist die vorherrschende "Erklärung". "Die Bürger der Bundesrepublik werden immer älter. Für das Rentensystem bedeutet dies, dass Renten immer länger gezahlt werden müssen. Gleichzeitig verringern sich die Einzahlungen in die Rentenkasse, weil immer weniger Kinder geboren werden." (FTD 26.05.2004, 14)

Tatsache ist aber: das Kapital macht mit steigender Produkivität immer mehr ArbeiterInnen überflüssig und entlässt sie in Rente und Arbeitslosigkeit. Besonders seit der Krise 1992/1993. Das erhöhte die Zahl der Arbeiterrentner und senkte gleichzeitig die Zahl der Beitragszahler, beides um etwa 2 Millionen Personen. Die Kinder der Arbeiter werden weniger als Ersatz der Arbeitskraft ihrer Eltern gebraucht. Das Kapital hindert sie also immer mehr daran, zu Beitragszahlern zu werden. Die Lebenserwartung männlicher Arbeiter ist ferner im letzten Jahrzehnt leicht gesunken, nur die von weiblichen ArbeiterInnen ist gestiegen. Also sind wieder mal die Frauen an allem schuld: sie leben länger und setzen weniger Kinder in die Welt. Eine absurde Erklärung, die von der Verantwortung des Kapitals ablenken soll und die Krise der Rentenversicherung den LohnarbeiterInnen und ihren Familien in die Schuhe schieben will.

 

IV) Sozialabbau und Lohnabbau mit Agenda 2010 - Versuch, dem Fall der Profitraten entgegenzuwirken

In der Krise sind die Profitraten des Kapitals erheblich gesunken. Ihr Niveau niedriger als in der letzten Krise, aber auch niedriger als in den vergangenen Jahrzehnten. Die Tiefe der Krise seit 2001 erklärt auch die Aggressivität der Angriffe. Sie erklärt die Wahllügen der Regierung usw..( Den Erhalt der Arbeitslosenhilfe vor der Wahl versprechen usw. und dann das Gegenteil tun) Sie erklärt die Hektik des Vorgehens, die überstürzten Planungen und die Vielzahl der Baustellen, die man auf einmal bearbeitet. Die SPD vollzieht keinen Paradigmenwechsel, und keinen Systemwechsel, handelt auch nicht nach einer neuer Ideologie, sondern steigert nur die alten Antworten auf neue Lage. Auch in den Krisen 1980/82 bzw. 1992/93 wurde von einer großen Koalition Sozialabbau zwecks Lohnabbau getrieben, 1993 z.B. unter dem schönen Titel "Solidarpakt". Die Krisen waren nur harmlos im Verhältnis zur heutigen Krise.

Die Agenda 2010 ist der Versuch des Kapitals, sich selbst aus der Krise zu retten.
Die Krise zu lösen, heißt für das Kapital, mit Lohnabbau und erneuter Steigerung der Produktivität seine Profitraten zu erhöhen. Und das schafft es auch:" Einen Trost kann die Börse aus den Lohnstückkosten ziehen, die in der Industrie um 2,6% gegenüber dem Vorjahr gefallen sind und den Gewinnen zugute kommen. ... Die Ausrüstungsinvestitionen (dagegen) sind gegenüber dem Vorjahr .... nominal um drei Prozent gesunken." (Financial Times Deutschland 26.05.2004, 21)
Lohnsenkungen, Arbeitszeitverlängerung, Senkung der Lohnnebenkosten, Privatisierung der Sozialversicherung, Staatsausgaben kürzen, um Gewinnsteuern senken zu können - all das dient der Anhebung der Profitraten bzw. der Nettoprofitraten. Das Kapital versucht, sich aus der Krise zu retten, in dem es Millionen von uns in die Krise stürzt.

Vertuschung der Ziele der Agenda

Das wird mit Formeln vertuscht, die das Profitinteresse des Kapitals als Allgemeininteresse erscheinen lassen:
Es geht angeblich um den Kampf gegen Arbeitslosigkeit,
angeblich um die Schaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen im internationalen Wettbewerb,
angeblich um die Konsolidierung des Sozialstaats für die Zukunft, die Bewältigung der demographischen Entwicklung, angeblich um eine solidarische, gerechte, soziale Gesellschaft unter den Bedingungen des globalen Wettbewerbs usw..
Die neueste Blüte der politischen Aromastoffindustrie: "Deutschland ist für mich zuerst und vor allem ein Land für Kinder. ... Wir müssen uns alle anstrengen, eine familien- und kinderfreundliche Gesellschaft zu werden." (Bundespräsident Köhler, FR 24.05., 5)

Die Agenda 2010 geht ihm allerdings nicht weit genug. Lohnsenkungen, Kürzungen der Arbeitslosenunterstützung und Sozialhilfe bei den Eltern sind also letztlich dazu da, dass es für die Kinder freundlicher zugeht. Die ganze Familie freut sich, wenn ihr Lebensstandard sinkt und die Existenzunsicherheit zunimmt. Und natürlich besonders, wenn dann die Eltern auch noch länger arbeiten müssen. Das dient vor allem den Kindern.
Kanzler Schröder redet genauso wie Köhler. Schon vor 3.4. warf er den Demonstranten vor, sie würden nur an sich, nicht aber an die Zukunft ihrer Kinder denken.
Eigentlich - so die logische Schlussfolgerung - müssten die Kolleginnen und Kollegen dafür demonstrieren, endlich zu Löhnen von 4 € arbeiten zu dürfen, damit sie ihren Kindern eine sichere Zukunft bieten können.

Den LohnarbeiterInnen muss man umso mehr Beruhigungstabletten verabreichen, je aggressiver die Angriffe werden. Umso wichtiger wird es, sie daran zu hindern, sich für ihre Interessen einzusetzen. Umso mehr Gemeinsamkeit mit dem Kapital wird verlangt. Es geht um die Steigerung der Profitraten auf dem Rücken der LohnarbeiterInnen. Dem höheren Profit wird dann eine heilsame Wirkung für alles zugeschrieben, obwohl die Profitproduktion doch gerade die Ursache der Krise ist.

BILD schoss den Vogel ab. Am Montag nach den Demonstrationen des 3.4. schrieb das Blatt:" "So laut wie die 500.000 Demonstranten am Wochenende haben Menschen in Deutschland selten ihrem Ärger Luft gemacht. Ihre Botschaft war deutlich! -> An die Politiker: Erklärt uns die Reformen - dann sind die Menschen auch zu persönlichen Opfern bereit. -> An die Gewerkschaften: Packt mit an, statt einfach immer nur "nein" zu sagen! Nur GEMEINSAM mit den Arbeitgebern werden die Jobs in Deutschland wieder sicher." (BILD 5.4.2004) Eine solche Demonstration hat es außer als Wunsch des Springerkonzerns nicht gegeben. Es gab nur Demonstrationen, auf denen Menschen erklärt haben, sie wären nicht zum Verzicht bereit, auf denen Menschen nein gesagt haben zur Agenda 2010.

Auf diese Weise werben die Herrschenden um Vertrauen. Köhler z.B. erklärt, "dass es gerade in Umbruchphasen auf Vertrauen als Sozialkapital ankommt." (FR 24.05.2004) Stimmt. Je mehr die LohnarbeiterInnen dem Kapital vertrauen und je mehr man sie belügt, je mehr sich LohnarbeiterInnen dem Kapital unterwerfen (keine Alternative), desto mehr Kapital kann gebildet werden.

Kann das Kapital umdenken?

Um die Krise auf Kosten der breiten Masse zu "lösen" und den Widerstand dagegen zu schwächen, muss das Kapital denen, die es angreift, den Lohnabhängigen, den Arbeitslosen, den Armen (SH-BezieherInnen), den RentnerInnen usw. die Schuld an der Krise in die Schuhe schieben. Da sie die ganze Misere angeblich verursacht haben, müssen eben auch dafür zahlen. Ein wahres Trommelfeuer geht jeden Tag auf uns nieder. Gegenpropaganda ist dringend notwendig. Das geschieht zu wenig.
Die Ursachen der Krise liegen aber nicht bei den LohnarbeiterInnen oder den Arbeitslosen, sondern beim Kapital selbst! Von daher ist sie auch nicht gemeinsam mit dem Kapital zu bewältigen, das sie erzeugt hat. Wenn aber das Kapital die Krise verursacht hat, dann sind entspricht es dem Interessen der LohnarbeiterInnen, ihrerseits die Folgen der Krise auf das Kapital abzuwälzen, das sie verursacht hat. Nicht die Gemeinsamkeit mit dem Kapital, das immer weniger Gemeinsamkeiten kennt, sondern die Gemeinsamkeit, die Solidarität unter LohnarbeiterInnen, zwischen Beschäftigten und Arbeitslosen, zwischen Alten und Jungen, zwischen Deutschen und Einwanderern ist angesagt.
Die Forderungen zur Verteidigung der Interessen der LohnarbeiterInnen senken zwangsläufig die Profitraten des Kapitals und schwächen damit seine "Konkurrenzfähigkeit". Wie soll es auf dieser Basis Gemeinsamkeiten oder sogar eine Solidarität des Kapitals mit der Lohnarbeit, also eine "solidarische" oder "soziale" Gesellschaft geben? Wenn LohnarbeiterInnen aber nicht für ihre Interessen eintreten, geben sie sich selbst auf, sind sie nur noch Lohnsklaven, die ihre Würde verloren haben.

 

V) Agenda 2010: Lösung der Krise durch Stärkung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit?

Krisen gibt es nicht deswegen, weil ein Land hinter dem anderen zurückbleibt, nach dem Motto: Deutschland ist das Schlusslicht und deshalb gibt es die Krise. Krisen brechen periodisch in allen kapitalistischen Ländern aus, nur nicht unbedingt iommer zum selben Zeitpunkt. Krisen brechen aus, unabhängig von Höhe des Niveaus der Löhne und Sozialleistungen. In USA genauso wie in Zukunft auch in China. China z.B. hat seine Investitionen gegenüber dem Vorjahr um sagenhafte 50% gesteigert und steuert gerade dadurch auf eine gewaltige Überproduktionskrise zu. Es hat gewaltige Wachstumsraten und gerade das bereitet eine gewaltige Krise vor.
Das Kapital versucht die Krise auch dadurch zu lösen, dass es neue Märkte auf dem Weltmarkt erobern will, dass es mehr Kapital und Waren exportiert, dass es sich gegen die Konkurrenz durchsetzt und die "Wettbewerbsfähigkeit" steigert.
Die Konkurrenz aber wird in nationalem und internationalen Maßstab geführt, in dem die menschliche Arbeitskraft, die Quelle, aus der das Kapital entspringt, stärker ausgebeutet wird.
Agenda 2010 heißt deshalb Agenda 2010 (Was bis 2010 zu tun ist), weil die EU nach einem Beschluss der EU-Kommission bis zum Jahr 2010 die wettbewerbsfähigste Region der Welt werden und die USA überholen soll.

Wie wird die "Wettbewerbsfähigkeit" durch die Agenda 2010 gestärkt?

  • Arbeitslosengeld II ist letztlich ein Wettbewerbsnachteil, denn in USA gibt es für Langzeitarbeitslose gar nichts!
  • Auch das Arbeitslosengeld I, das ein Jahr gezahlt wird (ab dem 55 Lebensjahr 18 Monate) ist ein Wettbewerbsnachteil, denn in Großbritannien wird es nur 1/2 Jahr gezahlt, in den USA nur drei bis sechs Monate.
  • Die Höhe des Arbeitslosengelds ist ein Wettbewerbsnachteil, denn in den USA werden nur 30% des Nettolohns gezahlt.
  • Das Lohnniveau ist ein Wettbewerbsnachteil, da es anderswo niedriger liegt.
  • Die Sozialversicherung ist ein Wettbewerbsnachteil, da in den USA und anderswo Privatversicherungen den Vorrang haben.

Die Agenda 2010 ist eine Kampfansage an die USA, aber vor allem auch an uns. Denn wir sollen dafür zahlen. Denn die Wettbewerbsfähigkeit wird gesteigert durch Lohnsenkungen, Abbau der Sozialleistungen, Arbeitszeitverlängerung, Arbeitszeitverdichtung, weitere Gewinnsteuersenkungen und Erhöhung von Massensteuern, durch Verschlechterung der öffentlichen Infrastruktur, sinkende Renten, schlechtere Gesundheitsversorgung usw..
Soll dafür eintreten, Schulter an Schulter mit dem Kapital im Wirtschaftskrieg gegen unsere amerikanischen oder französischen Kolleginnen und Kollegen zu gewinnen? Wir können bekanntlich nur gewinnen, wenn andere verlieren und umgekehrt. Wettbewerbsfähigkeit, d.h. Profitraten des Kapitals stärken, kann nicht unsere Losung sein. Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit bedeutet, dass die LohnarbeiterInnen sich gegenseitig bekämpfen sollen, innerhalb Deutschlands und im internationalen Rahmen. Und das soll die solidarische Gesellschaft sein, die Gesellschaft der sozialen Gerechtigkeit, die Verwirklichung des sozialen Europa? Die EU-Staaten, die mit der Agenda 2010 gemeinsam gegen die USA antreten, treten mit einem Wettbewerb von Sozial- und Lohnabbau auch gegeneinander an.

Stolz sagen manche Gewerkschaftsführer: -> Wir sind doch Exportweltmeister. Wer ist Wir? Auf den Weltmeister stolz sein, ist hilflos, da die Wettbewerbsfähigkeit auf den Knochen der LohnarbeiterInnen erarbeitet ist. Den Handelsbilanzüberschüssen bei uns entsprechen außerdem die Handelsbilanzdefizite anderer Länder, z.B. die der USA oder Osteuropas.
Jeder unterbietet jeden, produziert billiger und verdrängt den anderen, national und international. Bis man selbst dran ist.

Man verspricht uns, dass es uns besser geht, wenn wir an der Weltspitze sind und den Platz an der Sonne erobert haben, auf den der deutsche Imperialismus auch schon unter Wilhelm II strebte. Das ist haltlos. Auch die anderen streben zur Weltspitze. Die Konkurrenz bleibt. Die Produktivität steigt, Krisen brechen nachwievor aus.
Und wenn alle ihre Wettbewerbsfähigkeit stärken, marschieren sie alle zusammen um so zielstrebiger wieder in die nächste Krise und bereiten eine Weltwirtschaftskrise vor, die früher oder später ausbrechen wird, wenn alle Märkte gesättigt sind und auch nicht mehr mit Krediten ausgedehnt werden können.

Das Kapital und seine Parteien packen es nicht. Sie haben keine Lösung für das Problem der Krisen und der Arbeitslosigkeit. Sie selbst sind das Problem, nicht die Lösung des Problems.
Auch Geld, bzw. eine Umverteilung des Geldes ist nicht die Lösung. Denn die Anhäufigung von immer mehr Reichtum in Form von Geld ist Ergebnis desselben Prozesses der Warenproduktion und der Kapitalverwertung, durch den die wachsende Arbeitslosigkeit und Krisen erzeugt werden. Überschüssiges Kapital und überschüssige Arbeitskraft wird gleichzeitig produziert. Und das überschüssige Kapital wäre kein Kapital, wenn es sich nicht vermehren, sondern sich wohltätig den überschüssigen Arbeitskräften zur Verfügung stellen wollte. Geld ist also selbst Ausdruck des Problems und nicht die Lösung des Problems.


VI) Schluss

Es ist kein Kurswechsel oder Politikwechsel vom Kapital zu erwarten bzw. von den Parteien, die eben diesen Kurs des Kapital politisch umsetzen. Man kann genauso gut von Krokodilen verlangen, dass sie Vegetarier werden sollen.

Eine Einsicht, dass Löhne und Sozialleistungen zwecks Steigerung der Binnennachfrage steigen müssten, dass Gewinnsteuern steigen müssten, um öffentliche Aufgaben zu erfüllen, dass man auf Gewinn verzichten müsste, um Ältere Menschen einzustellen, Schwerbehinderte, Frauen gleichzustellen, obwohl sie Kinder bekommen, alle Jugendlichen auszubilden usw., eine solche Einsicht wird man allenfalls im Einzelfall, aber nie als Gesamtinteresse des Kapitals vorfinden können.

Alles, was hierzulande möglich ist, muss und musste von den LohnarbeiterInnen erkämpft werden, war auch nicht eine freiwillige Leistung eines Sozialstaates.

Die Kapitalverwertung schafft unlösbare Probleme. Die Entwicklung der Produktivität, die das Kapital rasant vorantreibt, untergräbt seine Profitraten.
Je mehr Kapitalinvestiert wird, desto mehr Menschen werden ersetzt, desto größer wird der Druck, mehr Gewinne zu machen, damit die wachsenden Kapitalmassen wenigstens diegleiche Profitrate abwerfen. Der Sachverständigenrat nennt das sinkende "Kapitalprodukivität". Es muss immer mehr Kapital investiert werden, um dieselbe Profitmasse zu erwirtschaften oder anders herum: Mit derselben Summe an Kapital wird relativ immer weniger Profit erwirtschaftet. (Roth 2003, Teil 2)
Deshalb muss das Kapital immer mehr Arbeitskraft einsaugen, die Lohnkosten senken, neue Märkte erobern im Innern und nach außen, um sich zu vermehren usw. usf.. (Roth 2003, Teil 3)

Immer mehr Menschen spüren, dass hier etwas nicht stimmt.

Das Misstrauen gegenüber dem ganzen System und seinen Repräsentanten nimmt zu. Und diese spüren es auch. "Immer mehr Bürger begegnen der politischen und der unternehmerischen Führungselite mittlerweile mit offener Verachtung. Es gibt eine zunehmende Vertrauenskrise im Grundsätzlichen, die eine andere Qualität bekommt als das bisherige Auf und Ab des Meinungspegels. Diese Vertrauenskrise kann ganz schnell in eine Akzeptanzkrise des gesamten politischen und marktwirtschaftlichen Systems umschlagen." So der Fraktionsführer der CDU im Bundestag, Friedrich Merz.
Nur noch die Hälfte im Westen und ein Viertel im Osten trauen nämlich laut Meinungsumfragen dem Wirtschaftssystem zu, die Probleme zu lösen. (Merz in FTD 23.03.2004)
Daran sollten wir anknüpfen. Wir sollten nicht den Eindruck erwecken, als ob das Kapital die Probleme lösen könnte. Also nicht: die könnten es, wenn sie nur einsehen würden, dass sie die falsche Politik machen, sondern: die können es nicht.

Lernen, Nein zu sagen

Die arbeitenden Menschen müssen lernen, Nein zu sagen, die eigenen Interessen zu formulieren und zu vertreten, ohne Rücksicht auf das, was das Kapital will und ohne Illusionen in das Kapital.
Und zwar auch dann, wenn man zu Zugeständnissen gezwungen ist, die den eigenen Zielen und Interessen entgegenlaufen, auch dann, wenn man nicht die Kraft hat, Niederlagen zu vermeiden.
Von denen, die selbst keine Lösung haben, braucht man sich nicht vorwerfen lassen, man hätte selber noch keine.
Das Kapital kann keine Gesamtlösung für die Probleme, die es verursacht. Es versucht nur, die Folgen der selbst verursachten Krise auf dem Rücken der LohnarbeiterInnen abzuladen.
Umgekehrt gilt es zu versuchen, die Folgen der Krise, die das Kapital verursacht, möglichst weitgehend auf seinem Rücken abzuladen. Das ist zunächst einmal eine Alternative gegenüber dem freien Fall nach unten. Man kann auch kämpfen, wenn man noch keine Gesamtlösung hat.

Es ist möglich etwas durchzusetzen bzw. aufzuhalten, z.B. die Agenda 2010 zu bremsen. Die Agenda 2010 ist ins Stocken geraten. Das ist ein Erfolg der massiven Ablehnung der Agenda durch große Teile der Bevölkerung. Aber der Kapitalismus wird dadurch nicht sozial und gerecht, dass er zu den früheren Zuständen zurückkehrt, aus denen die heutigen entstanden sind.

Unabhängige Strukturen örtlich und überregional erhalten und ausbauen

Am 3.4.2004 haben die größten Demonstrationen der Nachkriegsgeschichte stattgefunden.
Ohne die Demonstration am 1.11., die gegen den erklärten Willen der DGB-Führung stattgefunden hat, wäre es dazu nicht gekommen.
Und ohne Kräfte, die sich örtlich und bundesweit außerhalb von Gewerkschaftsstrukturen organisiert haben, wäre wiederum das nicht zustandegekommen.
Deshalb ist die erste Schlussfolgerung, dass diese unabhängigen Strukturen unbedingt aufrechterhalten und gestärkt werden müssen.

Frankfurter Appell unterstützen

Grundlage dafür sollte der Frankfurter Appell sein, der im Januar 2004 auf einer Konferenz von rd. 500 Personen aus dem ganzen Bundesgebiet entwickelt wurde. Ich bitte euch, den zu unterstützen und weitere Unterschriften zu sammeln. Der Frankfurter Appell fordert u.a. gesetzliche Mindestlöhne, ein ausreichendes Mindesteinkommen für Erwerbslose, keine Privatisierung der Sozialversicherung, massive Arbeitszeitverkürzung usw..
Es wird eine Aktionskonferenz am 19. September geben, auf der die weiteren Schritte besprochen werden sollen.

Gewerkschaften gegen die Angriffe des Kapitals verteidigen

Noch einmal zu den Gewerkschaften. Kannegießer, der Präsident von Gesamtmetall, hat als Reaktion auf den 3.4. die Existenzberechtigung der Gewerkschaften offen in Frage gestellt.
Das Kapital möchte am liebsten die Gewerkschaften zerstören, auch wenn die DGB-Führung schon dabei ist, das bis zu einem gewissen Grad selbst zu besorgen. Auch das ist noch lästig. Es hemmt und bremst die Entwicklung. Aber die Abschaffung der Tarifverträge, des Kündigungsschutzes, der Arbeitslosenversicherung usw. ist auch mit diesen Gewerkschaften und ihren Führungen nicht möglich. Man sollte sich daran erinnern, dass ab 1934 die Lohnfindung völlig auf die betriebliche Ebene verlagert worden war. Der Betriebsführer setzte die Löhne fest. Tarifverträge galten nicht mehr. Und die Gewerkschaften waren zerschlagen.

In diesem Sinne kommt es darauf an, Gewerkschaften verteidigen. In diesem Sinne kommt es darauf an, Gewerkschaften stärken, Mitglied werden bzw. als Gewerkschaftsmitglied aktiv zu sein. Die Interessen der Millionen Gewerkschaftsmitglieder müssen besser zum Ausdruck kommen. Auch das setzt eigenständige Organisationsformen innerhalb und außerhalb der Gewerkschaften voraus. Die Demonstration am 1.11. 2003 ist außerhalb gewerkschaftlicher Strukturen beschlossen worden. Aber ohne die Unterstützung durch zahlreiche Gewerkschaftsgliederungen wäre sie so nicht möglich gewesen.

Jeder Schritt, bei dem Gewerkschaften Flagge zeigen, ist notwendig, um sich selbst zu erhalten und zu stärken.

LohnarbeiterInnen müssen ihre eigenen Interessen vertreten, so wie das Kapital die seinen. In dieser Hinsicht kann man viel vom Kapital lernen.


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