letzte Änderung am 30. April 2003 | |
LabourNet Germany ARCHIV! Aktuelle Meldungen im neuen LabourNet Germany |
|
Home -> Diskussion -> (Lohn)Arbeit -> Realpolitik -> allgemein -> Butterwegge | | Suchen |
Kaum jemand bezweifelt, dass sich der Sozialstaat in einer tiefen Krise befindet. Aber es ist nicht, wie daraus kurzschlüssig gefolgert wird, die Krise des Sozialstaates, welche seine Fortexistenz gefährdet, sondern diejenige des bestehenden privatkapitalistischen Wirtschaftssystems, das schon seit längerer Zeit kein ausreichendes Wachstum (anhaltende Konjunkturschwäche) und keinen hohen Beschäftigungsstand (strukturelle Arbeitslosigkeit) mehr zu gewährleisten vermag.
Als für die "Krise des Sozialstaates" ursächlich werden in der oft kampagnenartig geführten Diskussion darüber hauptsächlich vier Faktoren bzw. Entwicklungsdeterminanten genannt:
Diesen (größtenteils "interessierten", d.h. von Gegnern des Sozialstaates gezielt verbreiteten) Missverständnissen und Fehlurteilen gegenüber ist Folgendes geltend zu machen:
Als prioritäres Ziel der angeblich unabdingbaren Sozialreformen wird in Gerhard Schröders Regierungserklärung vom 14. März 2003 genauso wie im Auftrag der sog. Rürup-Kommission die Generationengerechtigkeit benannt. "Generationengerechtigkeit" ist seit geraumer Zeit eines der am meisten bemühten sozialpolitischen Schlagwörter in der Bundesrepublik. Darunter versteht man die Forderung nach fairer Aufteilung der Ressourcen und Lasten zwischen den Generationen (z.B. für das Sozialversicherungssystem). Ihre gegenwärtig massive Propagierung setzt implizit oder explizit eine ungerechte Verteilung zu Lasten einer, und zwar der jüngeren, Generation voraus (vgl. Alterssicherung, Staatsverschuldung etc.). Mittels der Forderung nach (mehr) Generationengerechtigkeit werden aber soziale Ungerechtigkeiten innerhalb aller Generationen in einen "Kampf von Alt gegen Jung" umgedeutet. Der politische Kampfbegriff "Generationengerechtigkeit" lenkt von einer hier wie in anderen Teilen der Welt dramatisch wachsenden Ungleichheit innerhalb aller Generationen ab. Kinderarmut wird als geistig-politischer Hebel benutzt, um Teile der Armutspopulation, aber auch Eltern und Kinderlose ganz allgemein, gegeneinander auszuspielen. Ähnliches gilt für Diskussionen zum demografischen Wandel, zur "Vergreisung" unserer Gesellschaft und zu den daraus (angeblich) erwachsenden Finanzierungsproblemen für das System der sozialen Sicherung. Insofern degeneriert die Demografie zur Ideologie und fungiert als Mittel einer familien- und sozialpolitischen Demagogie.
Anstatt in der Globalisierung einen naturwüchsigen Prozess zu sehen, der entwickelte Industriestaaten wie die Bundesrepublik zwingt, soziale und Umweltstandards zu senken, damit sie auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig bleiben können, wäre es notwendig, die neoliberale Modernisierung bzw. Umstrukturierung fast aller Lebensbereiche nach dem Vorbild des Marktes als ein gesellschaftspolitisches Großprojekt zu kritisieren, das überall auf der Welt, d.h. sowohl zwischen den einzelnen wie auch innerhalb aller Staaten, noch mehr soziale Ungleichheit schafft und die Kluft zwischen Arm und Reich weiter vertieft.
Ulrich Beck sprach in seinem 1986 erschienenen Buch "Risikogesellschaft" von einem sozialen "Fahrstuhl-Effekt", der zuletzt alle Klassen und Schichten gemeinsam nach oben befördert habe. Betrachtet man den weiteren Verlauf der Gesellschaftsentwicklung, kann zumindest seither von einem Paternoster-Effekt die Rede sein: In demselben Maße, wie die einen nach oben gelangen, geht es für die anderen nach unten. Mehr denn je gibt es im Zeichen der Globalisierung ein soziales Auf und Ab, das Unsicherheit und Existenzangst für eine wachsende Zahl von Menschen mit sich bringt. Wenn die "Amerikanisierung" des Sozialstaates (genannt sei nur die Teilprivatisierung der Altersvorsorge durch das am 11. Mai 2001 von Bundestag und Bundesrat endgültig beschlossene Altersvermögensgesetz) fortgesetzt wird, dürfte eine Amerikanisierung der Sozialstruktur (Vertiefung der gesellschaftlichen Kluft zwischen Arm und Reich) nicht ausbleiben. Jenseits des Atlantiks ist die sozialräumliche Trennung von Bevölkerungsgruppen noch klarer erkennbar, samt ihren verheerenden Folgen für den Zusammenhalt der Gesellschaft: einer gestiegenen (Gewalt-)Kriminalität, des Drogenmissbrauchs und einer Verwahrlosung der öffentlichen Infrastruktur.
In einer Hochleistungsgesellschaft, die Konkurrenz bzw. Leistung geradezu glorifiziert und letztere mit Prämien, Gehaltszulagen oder Lohnsteigerungen prämiert, ist Armut funktional, weil sie nur die Kehrseite dessen verkörpert, was die Tüchtigeren und daher Erfolgreichen übrigens in des Wortes doppelter Bedeutung "verdient" haben. Armut bildet keinen unsozialen Kollateralschaden des neoliberalen "Umbau"-Projekts, sondern dient seinen Befürwortern als Disziplinierungsinstrument, während materieller Wohlstand und Reichtum das Lockmittel darstellen, mit dem "Leistungsträger" zu besonderen Anstrengungen motiviert werden sollen.
In der neoliberalen Weltsicht erscheint Armut nicht als gesellschaftliches Problem, vielmehr als selbst verschuldetes Schicksal, das im Grunde eine gerechte Strafe für Leistungsverweigerung oder die Unfähigkeit darstellt, sich bzw. seine Arbeitskraft auf dem Markt mit ausreichendem Erlös zu verkaufen, wie der Reichtum umgekehrt als angemessene Belohnung für eine Leistung betrachtet wird, die auch ganz schlicht darin bestehen kann, den Tipp eines guten Anlageberaters zu befolgen. Dagegen sind hohe Löhne bzw. Lohnnebenkosten der wirtschaftliche Sündenfall schlechthin und müssen als Ursache für die Arbeitslosigkeit und Wachstumsschwäche in Deutschland herhalten.
Fast allen bekannten Plänen, die den Sozialstaat sanieren sollen, wie den Konzepten der sog. Hartz-Kommission "zum Abbau der Arbeitslosigkeit und zur Umstrukturierung der Bundesanstalt für Arbeit" sowie der sog. Rürup-Kommission "für die Nachhaltigkeit in der Finanzierung der Sozialen Sicherungssysteme" und der von Bundeskanzler Gerhard Schröder präsentierten "Agenda 2010" liegt das neoliberale Dogma zugrunde, wonach die Massenarbeitslosigkeit in erster Linie durch Senkung der Lohnnebenkosten bekämpft werden muss. Es kommt aber in Wirklichkeit gar nicht auf die Höhe der (gesetzlichen) Personalzusatzkosten, also der von den Arbeitgebern zu entrichtenden Sozialversicherungsbeiträge, an. Entscheidend ist vielmehr die Höhe der Lohnstückkosten, welche in der Bundesrepublik aufgrund einer überproportional wachsenden Arbeitsproduktivität seit Jahren stärker sinken als in den meisten mit ihr auf dem Weltmarkt konkurrierenden Ländern, was im letzten Jahr zu einem Rekordüberschuss in der Handelsbilanz führte. Nicht zufällig ist Deutschland bezogen auf die Leistungsfähigkeit pro Kopf der Bevölkerung mit großem Abstand "Exportweltmeister". Hinge das Wohl und Wehe einer Volkswirtschaft von niedrig(er)en Lohn- bzw. Lohnnebenkosten ab, wie Neoliberale behaupten, müssten in Bangladesch und Burkina Faso längst Vollbeschäftigung und allgemeiner Luxus herrschen!
Wer die Massenarbeitslosigkeit in der Bundesrepublik auf gestiegene Personalzusatzkosten zurückführt, wie es die Arbeitgeber, der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und die Bundesregierung tun, verwechselt Ursache und Wirkung: Die hohe Erwerbslosigkeit ist zwar für die hohen Lohnnebenkosten verantwortlich, aber nicht umgekehrt. Daher erwies sich der Glaube, die (teilweise) Umstellung des Sozialsystems von der Beitrags- auf Steuerfinanzierung schaffe Arbeitsplätze, wirtschaftliche Stabilität und mehr soziale Gerechtigkeit, in der jüngsten Vergangenheit genauso als Illusion wie die der Riesterschen Rentenreform zugrunde liegende Auffassung, das Kapitaldeckungsprinzip löse die Probleme der Alterssicherung einer schrumpfenden Erwerbsbevölkerung (zumindest besser als das Umlageverfahren). Wer die Lohnnebenkosten senken will, um "den Faktor Arbeit zu entlasten", macht ihn in Wahrheit billiger für das Kapital und belastet damit die Arbeitnehmer/innen zusätzlich.
Gegen eine Zurückdrängung der Beitrags- und einen Ausbau der Steuerfinanzierung des sozialen Sicherungssystems sprechen im Wesentlichen drei Gründe: Erstens unterliegen steuerfinanzierte im Unterschied zu beitragsfinanzierten Sozialausgaben den staatlichen Haushaltsrestriktionen; sie fallen deshalb eher den allgemeinen Sparzwängen der öffentlichen Hand zum Opfer; ihre Höhe ist von wechselnden Parlamentsmehrheiten und Wahlergebnissen abhängig. Wie sollen die ständig sinkenden Steuereinnahmen des Staates zur Finanzierungsbasis eines funktionsfähigen Systems der sozialen Sicherung werden? Schließlich haben alle Parteien die weitere Senkung von Steuern auf ihre Fahnen geschrieben. Zweitens muss man sich bloß die Struktur der Steuereinnahmen ansehen, um erkennen zu können, dass Unternehmer und Kapitaleigentümer im "Lohnsteuerstaat" Deutschland kaum noch zur Finanzierung des Gemeinwesens beitragen; diese Schieflage der steuerlichen Belastung (nicht nur, aber vor allem bei indirekten Steuern) führt zu ihrer einseitigen Finanzierung durch Arbeitnehmer/innen, wohingegen die (bisher nur im Pflegebereich und bei der sog. Riester-Rente durchbrochene) Beitragsparität der Sozialversicherung für eine angemessene(re) Beteiligung der Arbeitgeberseite an den Kosten sorgt. Zu fragen ist auch, welches Interesse die Unternehmer an einem Abbau der Arbeitslosigkeit, die ja ihre gesellschaftliche Position stärkt und die Gewerkschaften schwächt, überhaupt noch haben sollten, wenn sie die Kosten der Arbeitslosigkeit fast ganz auf die Allgemeinheit, hauptsächlich die Lohn- und Mehrwertsteuer zahlenden Massen abwälzen könnten. Drittens ist die Inanspruchnahme von Versicherungsleistungen für die Betroffenen weniger diskriminierend als die Abhängigkeit von staatlicher Hilfe, deren Inanspruchnahme ihnen wahrscheinlich noch mehr Missbrauchsvorwürfe eintragen würde, weil ihr keine "Gegenleistung" in Form von Beitragsleistungen entspricht.
M.E. geht es darum, die spezifischen Nachteile des deutschen Sozialstaatsmodells auszugleichen, ohne seine besonderen Vorzüge preiszugeben. Strukturdefekte des "rheinischen" Wohlfahrtsstaates bilden seine duale Architektur (Spaltung in die Sozialversicherung und die Sozialhilfe), seine strikte Lohn- und Leistungsbezogenheit (Äquivalenzprinzip) sowie seine Barrieren gegen Egalisierungs-tendenzen (Beitragsbemessungsgrenzen; Versicherungspflichtgrenze in der Kranken- und Pflegeversicherung; Freistellung prekärer Beschäftigungsverhältnisse von der Sozialversicherungs- bzw. Steuerpflicht). Der entscheidende Pluspunkt des Bismarckschen Sozialsystems gegenüber anderen Modellen liegt jedoch darin, dass seine Geld-, Sach- und Dienstleistungen keine Alimentation von Bedürftigen und Benachteiligten aus Steuermitteln darstellen, die je nach politischer Opportunität widerrufen werden kann, sondern durch Beitragszahlungen erworbene (und verfassungsrechtlich garantierte) Ansprüche.
Das in der Bundesrepublik bestehende System der sozialen Sicherung speist sich nur zu etwa einem Drittel aus Steuereinnahmen; zwei Drittel der Finanzmittel stammen aus Beiträgen der Versicherten und ihrer Arbeitgeber. Umso wichtiger wäre es, durch eine Übertragung des Prinzips der ökonomischen Leistungsfähigkeit auf dieses Gebiet für mehr Beitragsgerechtigkeit zu sorgen. Statt alle nicht dem Äquivalenzprinzip entsprechenden Leistungen gleich als "versicherungsfremd" zu brandmarken, was der Logik gewinnorientierter Privatversicherungen entspricht, müsste man überlegen, wie ein Mehr an solidarischer Umverteilung innerhalb der Sozialversicherungzweige zu realisieren und die Öffentlichkeit dafür zu gewinnen ist. Nahe lägen die Aufhebung der im Grunde systemwidrigen Versicherungspflichtgrenze in der Kranken- und Pflegeversicherung sowie die An- oder Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenzen (unter Beibehaltung der Leistungsobergrenzen).
Der bestehende Sozialstaat ist erwerbsarbeits-, ehe- und erwachsenenzentriert. Durch gesellschaftliche Strukturveränderungen wie die Globalisierung bzw. neoliberale Modernisierung, Individualisierung und Pluralisierung der Lebensformen wird er auf folgenden Ebenen verstärkt unter Druck gesetzt:
Sinnvoll wären daher der Um- und Ausbau des bestehenden Systems zu einer Art "Bürgerversicherung". Denn die noch vorhandenen Sicherungslücken können nur durch eine Universalisierung geschlossen werden: Eine allgemeine Versicherungs- und Mindestbeitragspflicht für sämtliche Wohnbürger/innen (eben nicht nur Arbeitnehmer/innen) würde die Sozialversicherung auf eine breitere Grundlage stellen, wobei der Staat die Beiträge im Falle fehlender oder eingeschränkter Zahlungsfähigkeit voll oder teilweise subventionieren, grundsicherungsorientiert und bedarfsbezogen zuschießen müsste.
LabourNet Germany | Top ^ |