Bundesverfassungsgericht Pressemitteilung Nr. 82 vom 04.08.1999

Lohnabstandsklauseln bei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sind mit dem GG vereinbar

Der Erste Senat des BVerfG hat Verfassungsbeschwerden der IG-Metall zurückgewiesen. Die Beschwerden betrafen Vorschriften des Dritten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB III), nach denen Zuschüsse für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) in voller Höhe nur dann gezahlt werden, wenn das vereinbarte Arbeitsentgelt 80% der Tariflöhne nicht übersteigt (sog. Lohnabstandsklauseln).

Die Beschwerdeführerin sieht sich hierdurch in ihrer Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG) verletzt.

Der Erste Senat hat entschieden, daß befristete Klauseln zwar in die Tarifautonomie der Arbeitnehmerkoalition eingreifen, aber zur Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit gerechtfertigt sind.

I.

1. Gegenstand der Verfassungsbeschwerde waren Vorschriften des SGB III sowie Vorläuferregelungen dieses Gesetzes, die teilweise noch fortwirken.

Danach gilt folgendes:

Zur Förderung der Beschäftigung schwer zu vermittelnder Arbeitsloser zahlt die Bundesanstalt für Arbeit (BA) Zuschüsse für gemeinnützliche Arbeiten. Hierzu zählen Maßnahmen, die zur Erhaltung und Verbesserung der Umwelt und zur Verbesserung des Angebots bei den sozialen Diensten und in der Jugendhilfe dienen (Strukturanpassungsmaßnahmen). Die Höhe des Zuschusses bemißt sich nach den durchschnittlichen monatlichen Aufwendungen für Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe. In voller Höhe wird der Zuschuß nur geleistet, wenn das vereinbarte Arbeitsentgelt 80% der Tariflöhne für vergleichbare Tätigkeiten auf dem freien Arbeitsmarkt übersteigt.

2. Gegen die Vorschriften erhob die Beschwerdeführerin Verfassungsbeschwerde und rügte eine Verletzung ihrer Koalitionsfreiheit. Sie sieht sich durch das Gesetz in ihrer Lohnsetzungskompetenz geschwächt, da im Bereich dieser ABM der Lohn nicht mehr frei ausgehandelt werden könne. Die Gewerkschaften seien dadurch gezwungen, Tarifverträge für Arbeitnehmer in den geförderten Beschäftigungsverhältnissen gegenüber Flächentarifverträgen abzusenken.

II.

Die Verfassungsbeschwerde haben keinen Erfolg. Die Beschwerdeführerin wird durch die angegriffenen Vorschriften zwar in ihrer Koalitionsfreiheit eingeschränkt, dies ist aber zum Zwecke der Arbeitsbeschaffung in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit gerechtfertigt.

1. Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistet Arbeitnehmern und Arbeitgebern das Recht, zur Durchsetzung ihrer Interessen bei der Gestaltung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen (Koalitionen) zu bilden. Dieses Recht umfaßt auch das Aushandeln von Tarifverträgen, denn dies ist ein wesentlicher Zweck der Koalition.

In diesen Schutzbereich greifen die angegriffenen Regelungen ein. Sie beeinträchtigen die Verhandlungsposition der Beschwerdeführerin bei Tarifverhandlungen über das Entgelt von Arbeitnehmern, die in Strukturanpassungsmaßnahmen beschäftigt sind. Die Beschwerdeführerin hat in diesem Bereich kaum Aussicht, mehr als 80% des normalen Tariflohns für vergleichbare Arbeiten auszuhandeln. Da der Zuschuß der BA sich in demselben Umfang verringert, in dem der gesetzlich vorgegebene Höchstlohn überschritten wird, führt jede Überschreitung zu einer Belastung des Arbeitgebers in doppelter Höhe. Darauf wird sich die Arbeitgeberseite in Tarifverhandlungen kaum einlassen.

2. Ein solcher Eingriff ist aber aus überwiegenden Gründen des Gemeinwohls gerechtfertigt.

a) Mit den angegriffenen Regelungen erfüllt der Staat einen im Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) begründeten Schutzauftrag. Zudem hilft er den einzelnen Arbeitslosen, sich durch Arbeit in ihrer Persönlichkeit zu entfalten und darüber Achtung und Selbstachtung zu erfahren. Insoweit wird sein Ziel auch von Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG getragen.

Die Lohnabstandsklauseln sollen bewirken, daß mit den nur begrenzt zur Verfügung stehenden Mitteln einer möglichst großen Zahl von Arbeitslosen ein Arbeitsplatz zur Verfügung gestellt werden kann. Die Regelungen dienen damit auch dem verfassungsrechtlich verankerten Ziel des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts (Art. 109 Abs. 2 GG).

Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, daß diese Klauseln nur einen Test für allgemeine Tariföffnungsklauseln darstellten.

b) Der Senat führt aus, daß die Klauseln zur Erreichung des gesetzgeberischen Zwecks geeignet sind und keine Bedenken im Hinblick auf deren Erforderlichkeit bestehen.

Dasselbe gilt für die Frage, ob der Beschwerdeführerin die Auswirkungen auf die Tarifautonomie zumutbar sind.

Verhandlungen über Tarife für Arbeitnehmer in Strukturanpassungsmaßnahmen unterscheiden sich grundlegend von normalen Tarifverhandlungen. Denn bei der Vergütung von Arbeit in Strukturanpassungsmaßnahmen geht es nicht in erster Linie um eine Beteiligung des Arbeitnehmers an dem durch Arbeit zu erwirtschaftenden Ergebnis. Infolge der Beschränkung dieser Maßnahmen auf nicht profitable Tätigkeitsbereiche entsteht in der Regel erst durch den Zuschuß der BA ein Interesse eines Arbeitgebers an der Arbeitsleistung. Ohne diese Mittel würde er die Maßnahme gar nicht oder erst später durchführen.

Zu berücksichtigen ist hierbei auch, daß die Arbeitnehmerkoalition in diesem Bereich auf den Arbeitgeber keinen gleich großen Druck ausüben kann wie bei gewöhnlichen Tarifverhandlungen. Der Arbeitgeber kann etwa einem Streik ohne existentielle Einbußen ausweichen, indem er die ABM, an der er kein hinreichendes eigennütziges Interesse hat, unterläßt oder verschiebt. In jedem Fall sind die Folgen seiner Entscheidung von Arbeitslosen zu tragen und schlagen insofern auch zu Lasten der Arbeitnehmerkoalition zu Buche.

Auf der anderen Seite ist bei einer Zahl von rund vier Millionen Arbeitslosen die Schaffung von Arbeitsplätzen ein hochrangiges soziales Anliegen. Arbeitslosigkeit führt die Betroffenen häufig in existentielle Bedrängnis. Mit dem Verlust der wirtschaftlichen Lebensgrundlage können Beeinträchtigungen des Selbstwertgefühls und der Persönlichkeit einhergehen. Die Erfahrung, nicht gebraucht zu werden, kann in einer Gesellschaft, die den Wert des Einzelnen in hohem Maße an seiner beruflichen Leistung mißt, zu schweren seelischen Belastungen führen. Das gilt in besonderem Maße bei Langzeitarbeitslosen, die schwer zu vermitteln sind und deswegen besonders geringe Aussicht auf einen Arbeitsplatz haben.

Schließlich fällt auch ins Gewicht, daß die Geltungsdauer der angegriffenen Vorschriften bis zum Jahr 2002 beschränkt ist. Diese Befristung zwingt den Gesetzgeber dazu, sich in angemessener Zeit zu vergewissern, ob die tatsächlichen Voraussetzungen, die ihn zu seiner Regelung veranlaßt haben, noch fortbestehen und die Ziele, die er mit der Lohnabstandsklausel verfolgt, auch wirklich erreicht worden sind.

Entscheidung vom 27.04.1999 - 1 BvR 2203/93, 1 BvR 897/95