Gleichbehandlung im Unrecht

Stellungnahme der BAG-SHI zur Pauschalierung von Sozialhilfe

Mit der "Experimentierklausel" im neuen §101a des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) sind zwar einige überbauliche Orientierungen für die Durchführung von Experimenten festgelegt, die tatsächliche Ausgestaltung der wesentlichen Elemente – wie etwa die Höhe der Pauschalen – wird jedoch an die Länder und an die Kommunen delegiert. Einen solch existentiellen Teil von gestaltender Sozialpolitik pauschal an ‘andere’ wegzudelegieren, halten wir nicht für ratsam. Da nun wenig Handfestes in dem neuen Paragraphen steht, fließen in diese Stellungnahme im Folgenden auch Einschätzungen der uns bisher bekannten Pläne und Modelle der Kommunen ein. (...)

1.) Pauschalierung und Regelsätze

Im Begründungstext werden unter anderem auch die bisherigen Regelsätze als erprobte Pauschalen mit positiver Wirkung aufgeführt. Wie unzulänglich diese bemessen sind und in welchem Schneckentempo sie sich entwickeln bzw. stetig nach fiskalischen Interessen gedeckelt werden, wissen wir schon, dazu bedarf es keiner weiteren Experimente. So sind einzelne einmalige Leistungen wie z.B. Kleidung und Weihnachtsbeihilfe an vielen Orten bereits pauschaliert. Die Erfahrungen damit sind zwar einigermaßen positiv, es existieren jedoch Differenzspannen von bis zu 100 Prozent, vergleicht man die unterschiedliche Praxis in den Kommunen. Ein weiteres Problem dieser einmaligen Pauschalen liegt darin, dass über die Pauschalen hinausgehende Bedarfe ohne die Bemühung von Widerspruchsausschüssen und Verwaltungsgerichten nur in den seltensten Fällen durchsetzbar sind.

2.) Pauschalierung einmaliger Leistungen

Erfahrungen mit dem Versuch einer zusammenfassenden Pauschalierung aller einmaligen Leistungen sind nur in minimalem Umfang gegeben – uns sind nur Modellversuche in Osnabrück und Ravensburg geläufig. (Kiel startet gerade ein vergleichbares Projekt.) Danach erhalten die "Versuchskaninchen" im niedersächsischen Modell 15 Prozent (0 bis 7- Jährige 18 Prozent) ihres jeweiligen Regelsatzes monatlich ausbezahlt, womit alles – außer dem Winterbrand und der Erstausstattung für Wohnung und Babys – abgegolten sein soll. Solche kostenintensiven Sonderfall-Beihilfen ließen sich zwar auch pauschalieren, können jedoch nicht an jeden Bezieher ausbezahlt werden, da ja nicht jeder Kinder kriegt, mit Kohle heizt oder möbellos ist.

Für den Fall, dass dieses Modell hinsichtlich der Höhe der Pauschalen in den ausstehenden Rechtsverordnungen Schule machen sollte, sollen hier zwei Rechen-Beispiele aufgeführt werden:

Anhand dieser beiden Beispiele wird ein Trend deutlich: Es geht hier nicht um eine ‘Modernisierung’ des Sozialhilfesystems, wie der Pauschalierungsvorstoß gerne charakterisiert wird, sondern vielmehr um ein Zurückfahren der Anspruchsberechtigung.

3.) Kosten der Unterkunft

Eine Pauschalierung der Kosten für Unterkunft ist völlig inakzeptabel. Das "freie" Spiel der Mietspekulation ist im Vergleich zum Preis von Milch und Brot so unberechenbar, dass eine Zuweisung dieses existentiellen Bereichs in die Eigenverantwortung der SozialhilfebezieherInnen schlicht fahrlässig ist. Mieten weisen selbst innerhalb einer Stadt oder eines Kreises erhebliche Spreizungsbreiten auf. Schon jetzt müssen viele aus ihrer vertrauten Umgebung wegziehen, um den Ansprüchen der Ämter gerecht zu werden. Eine weitere Prekarisierung der Lebenssituation von SozialhilfebezieherInnen in Kauf zu nehmen, indem die Sicherheit der Mietübernahme wegfällt, wird jedoch nur mehr Wohnungslosigkeit und Armut in den Familien produzieren, die dann Geld für Wohnung und Heizung aus den Regelsätzen oder Mehrbedarfszuschlägen (MBZ) transferieren müssen.

4.) Bedarfsdeckungsprinzip

In den Modellversuchen Osnabrück und Ravensburg wurde in den Vertragsvereinbarungen der Bezug von einmaligen Beihilfen für die benannten Bedarfe neben den Pauschalbeträgen "grundsätzlich ausgeschlossen". Dieser – schon praktizierte und von den jeweiligen Landesregierungen abgesegnete – grobe Verstoß gegen das gesetzlich verankerte Bedarfsdeckungsprinzip und die Tatsache, dass die Bedarfsdeckung weder im Text noch in der Begründung des, dem neuen BSHG vorangegangenen baden-württembergischen Gesetzesentwurfs im Bundesrat auch nur Erwähnung fand, spricht eine deutliche Sprache. Wir schätzen zwar die Unmissverständlichkeit, mit welcher der neue Paragraph 101a BSHG die Bewilligung von zusätzlichen Beträgen bei Bedarf benennt und einschließt, doch trauen wir den Kommunen bezüglich der Hochhaltung dieses Prinzips keinen Millimeter. Dies ist kein Ausdruck von Paranoia, sondern Resultat jahrzehntelanger Praxiserfahrung mit den Sozialhilfeträgern. (...) Es ist uns wichtig, kein verallgemeinerndes Bild von inkompetenten und geizigen SachbearbeiterInnen zu zeichnen, denn das Problem der fehlenden Aufklärungs-, Beratungs- und Fortbildungskapazitäten in den Ämtern ist kein persönliches, sondern ein strukturelles. Es bleibt jedoch aus der Interpretation der bis jetzt verlautbarten bzw. bereits praktizierten Handhabung von Pauschalierung bei unserer Einschätzung, dass der Gesetzgeber mit dieser Experimentierklausel zwar weder das Bedarfsdeckungsprinzip noch das Individualisierungsprinzip als sozialpolitischev Grundsätze aufgibt, sie aber praktisch den Ländern und Kommunen zur Aushebelung freigibt.

5.) Kostenneutralität und Freiwilligkeit

Analog zum Koalitionsvertrag zwischen Grünen und SPD beinhaltete noch der Referentenentwurf die "Freiwilligkeit" der Teilnahme am Pauschalierungsexperiment. Die Länder erkannten jedoch, dass sie als Freiwillige nur diejenigen unter den Hilfebezieherinnen gewinnen würden, die in der Vergangenheit nahezu keine einmaligen Leistungen beantragt hatten und sich mit der Pauschalierung eine Verbesserung erhofften. Erfahrene HilfebezieherInnen hingegen hätten sich von diesem Experiment ferngehalten und weiter über Einzelanträge höhere als die pauschalierten Leistungen beantragt. Das war für die Länder und Kommunen, für die Kostenneutralität als klare Prämisse im Vordergrund der ganzen Aktion steht, zu bedrohlich – mit dem Resultat, dass die Freiwilligkeit aus dem verabschiedeten Gesetz herausflog.

Zusammenfassend bewerten wir den neuen § 101a als eine unverantwortliche Ermächtigung der Länder zum Experimentieren mit gedeckelten, aus der restriktiven Ämterpraxis der Kommunen unwissenschaftlich zusammengepfuschten Pauschalen. Wir vermuten, dass es sich bei dem gesamten Unterfangen um einen billigen Feldversuch für die in den Koalitionsvereinbarungen angesprochenen Plänen zu einer neuen Grundsicherung handelt. Eine Grundsicherung, die auf Erfahrungen mit Pauschalen auf niedrigstem Niveau fußt, ist jedoch niveaulos.

Cora Molloy

Kontakt: Bundesarbeitsgemeinschaft der Sozialhilfeinitiativen, Moselstr. 25, 60329 Frankfurt, (069) 250030

Dieser Artikel ist erschienen in: express Nr. 10/1999

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