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439 vom 8.6.2000
ak - analyse & kritik
Zeitung für linke Debatte und Praxis
Grundwertedebatten all überall: Im schweizerischen St. Gallen plädieren wirtschaftsliberale Ökomomen auf den "Hayek-Tagen" für ein "Ende der antikapitalistischen Geschichtsklitterung" (FAZ; 15.5. 2000)". Die Evangelische Akademie Tutzing lädt zur Tagung "Liberalismus pur", und in Berlin eröffnet die SPD die Diskussion um ein neues Grundsatzprogramm. "In der SPD stürmt der liberale Flügel" beschreibt die FAZ (27.4.2000) dieses sozialdemokratische Grübeln.
Auf wirtschaftsliberaler wie sozialdemokratischer Seite ist viel von "Gerechtigkeit" die Rede. Der US-Ökonom Ralph Raico kritisiert in St. Gallen die "automatische Gleichsetzung von Gerechtigkeit und Sozialismus". Wo in Wirklichkeit "ökonomische Gesetze" naturhaft walten, könnten "Menschen ohne wirtschaftstheoretische Ausbildung" ökonomische Erscheinungen leider nur als Gewalt erkennen und durch Gewalt erklären, beklagt Raico. In Tutzing erläutert der Freiburger Volkswirt Viktor Vanberg die "Gerechtigkeit der spontanen Ordnung des Marktes": Innerhalb eines Regelrahmens können alle frei handeln. "Gerecht ist dann das, was aus einem gerechten Verfahren resultiert." Und seien diese Ergebnisse noch so ungleich (und damit ungerecht).
Gedanken, die auch den Ethik-Experten der SPD-Grundwertekommission, Verteidigungsminister Rudolf Scharping und NRW-Ministerpräsident Wolfgang Clement aus der Seele sprechen. Vor allem für Clement sollen Gerechtigkeit und Gleichheit nicht mehr zusammengedacht werden. "Plakativ" sei eine solche Gleichsetzung. Geht es nach der neuen Sozialdemokratie, so wird Gerechtigkeit nur noch als "Chancengleichheit", aber nicht mehr als "Ergebnisgleichheit" verstanden. "Faire" Verfahren und gleiche Regeln für alle ja (siehe Vanberg), aber keine "Gleichmacherei", etwa durch Umverteilung der (Einkommens-)Ergebnisse. Statt "Gleichheit" stellt Clement "Leistung" neben Gerechtigkeit. Und die muss sich auch lohnen, zwar nicht für SozialhilfeempfängerInnen, Erwerbslose und gering Verdienende, wohl aber für die "Leistungsträger" in dieser Gesellschaft.
"Produktive Ungleichheit" hat Clement in Berlin sein Credo zusammengefasst. "Leistungsanreize", sprich Ungleichheit in den Einkommen, ist effizient und produktiv und müsse deswegen "im Interesse von Leistung und Gerechtigkeit" akzeptiert werden. Ein in der Tat nur noch kleiner Schritt zum wirtschaftsliberalen "gerecht ist, was effizient ist." Und Meinhard Miegel, ehemals Berater von Kurt Biedenkopf und Helmut Kohl, weissagte in Berlin ironisch: "Der Vereinigungsparteitag (zwischen SPD und CDU, ak) ist nicht mehr fern."
Dieser Tenor -ganz auf der Linie von Anthony Giddens, Chefideologe von New Labour, und ebenfalls Gast in Berlin - stellt einen erheblichen Bruch mit der bisherigen Sozialstaatsidee dar. Die Vorstellung von Gleichheit und Egalität als Maß für soziale Gerechtigkeit ist durchaus noch verankert, die Vorstellung etwa, dass immenser privater Reichtum wenig mit persönlicher Tüchtigkeit und umgekehrt Armut wenig mit persönlichem Versagen zu tun hat. Ungleichheit in den Einkommen und damit Ungleichheit in den Lebensbedingungen, den Teilhabemöglichkeit und letztlich auch in der gesellschaftlichen Akzeptanz gilt nach wie vor als ungerecht. Selbst das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) nennt in seinem Paragraf 1 als oberste Aufgabe des Sozialhilfeträgers die bedarfssichernde Gewährleistung einer menschenwürdigen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.
Diese traditionell-sozialstaatliche Gerechtigkeits- und Gleichheitsidee korrespondiert mit der Idee gesamtgesellschaftlicher Verantwortung für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und die solidarische Organisation der sozialen Sicherungssysteme. Entsprechend ist die Konsequenz der neuen sozialdemokratischen Gerechtigkeit die erst ideologische und dann auch praktische Entsolidarisierung und Individualisierung von Erwerbslosigkeit, Armut, Krankheit, Pflegebedürftigkeit etc.. Die Logik von der "Ergebnisungleichheit" bei "gerechten Verfahrensregeln" heißt nämlich, dass letztlich jede und jeder für sich und seine "Leistungen", sprich gesellschaftlichen Partizipationsmöglichkeiten, selbst verantwortlich ist. Jede ist ihres Glückes Schmied.
Gerechtigkeit ist für Clement und andere letztlich das, was aus klar geregelten und "fairen" Vertragsverhandlungen herauskommt. In der Tat ist der Vertrag - in welcher juristischen Form auch immer - die (ideologische) Grundlage sozialer Beziehungen in der bürgerlichen Gesellschaft. Hier hat das bis in die letzten Lebensäußerungen mächtige Muster von Leistung gegen Gegenleistung seine Basis. Die momentane, marktliberal dominierte Wertedebatte radikalisiert dieses Prinzip.
Auf der Ebene des Sozialstaates bedeutet ein radikalisiertes "Vertragsprinzip", dass gleichzeitig die in der Sozialstaatskonstruktion eh schon angelegten autoritären Tendenzen ebenfalls radikalisiert werden: Keine Leistung ohne Gegenleistung heißt nämlich für die EmpfängerInnen staatlicher Sozialleistungen nichts anderes als Pflicht zur Gegenleistung, sprich Arbeitspflicht.
Der traditionell-keynesianische Sozialstaat muss kritisiert und überwunden werden, die in ihm - wie rudimentär auch immer - angelegten Egalitäts- und Gleichheitsvorstellungen aber müssen als soziale Rechtsansprüche mit Menschenrechtscharakter bewahrt und ausgebaut werden. In dem momentanen ideologischen Klassenkampf um Gleichheit und Gerechtigkeit sollte es für die Linke und die sozialen Bewegungen darum gehen, Gerechtigkeits- und Gleichheitsvorstellung zu entwickeln, die gleichzeitig mit dem Vertragsprinzip von Leistung und Gegenleistung brechen. Ein unbedingtes und unteilbares Recht auf menschenwürdige Existenz für Alle wäre eine solche Orientierung. Ein Existenzgeld von 1.500 DM plus Urlaubsgeld sowie 100% Steuern auf alle Einkommen über 5.000 DM, fordern Teile der Bundesarbeitsgemeinschaft der Erwerbsloseninitiativen (BAG-E). Nicht die schlechteste Antwort auf die drohende neue "Gerechtigkeit".
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