letzte Änderung am 23. Juli 2003

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Negt vs. Schröder

»Tätige Freiheit gegen totes Kapital«? Wolfgang Völker über Oskar Negt / Teil II

Nachdem es im Teil I zunächst um Oskar Negts Diskussion der Arbeitszeitverkürzung und den Umgang mit Arbeitslosigkeit heute ging, referiert Wolfgang Völker nun in Teil II Negts Konzept der ersten und zweiten Ökonomie und seine Implikationen.

 

Erste vs. Zweite Ökonomie

Zentrales Thema von Negt bleibt der »kulturelle Rang der lebendigen Arbeit« (S.287f). So schließt sich der Behandlung der Arbeitslosigkeit eine systematische Auseinandersetzung mit dem Begriff der Arbeit an. Dabei rekonstruiert er die Geschichte der »Arbeit« von einem sozialkulturell »unten« angesiedelten Begriff zu einer Kategorie, die für »die Konstitution des Subjekts in der Philosophie und in der Psychologie« zentrale Bedeutung gewinnt (S.296). Mit dem Aufstieg der Arbeit und ihrer Verallgemeinerung in einem Berufsethos scheint sie ihren Klassenmakel zu verlieren. Die Arbeitsmoral mit ihren zentralen Momenten der Sparsamkeit, der Zeitökonomie, des Fleißes und der Disziplin liefert schließlich die Basis für die Arbeit um der Arbeit willen. Hier setzt sich Negt mit Max Webers Analysen auseinander und verdeutlicht darin die »Umkehrung von Mitteln und Zwecken« (S.302), indem »Arbeit als Selbstzweck, als rastlose Berufsarbeit« und »organisierender Kern der Lebensstellung« soziale Wirklichkeit wird. Mit Marx gelangt Negt schließlich zur Aussage, dass in der kapitalistischen Ökonomie, die einer gesamtgesellschaftlichen Vernunft beraubt ist, lebendige Arbeit von der toten Arbeit »aufgezehrt«, lebendige Arbeit zum Anhängsel degradiert werde (S.304f.). Die »ökonomische Unvernunft« ist nichts der herrschenden Ökonomie von außen Zugefügtes, sondern »steckt im Inneren dieser Ökonomie« (S.305). Die Unvernunft zeigt sich für Negt auf zwei Ebenen. Einmal, indem die »Kosten für das Gemeinwesen« keine Rolle spielen und zum anderen, weil die einzelnen Menschen zu einem Problem für das System werden. »In dem Maße, wie sich die Maschinensysteme immer weiter lebendige Qualifikationen der Subjekte aneignen, werden die Menschen zu einem existenziellen Problem für einen gesellschaftlichen Zustand, dessen ungeheure Produktivkraft auf die einzelnen gar nicht mehr Rücksicht nehmen muss« (S.305). In der Beschreibung der spezifischen Herrschaftsverhältnisse von lebendiger und toter Arbeit im Kapitalverhältnis entwickelt Negt die für ihn politisch-strategisch entscheidende Kategorie der »gegenwärtigen Arbeits- und Erwerbsgesellschaft« als »Kampfplatz zweier Ökonomien« (S.305). Ziel des Kampfes wäre es nach Negt: »Lebendige Arbeit aus den Machtmanipulationen der ersten Ökonomie herauszulösen – das ist der wesentliche Zweck eines ökonomischen Umdenkens unserer Gesellschaft.« (S.306)

Die erste Ökonomie ist für Negt charakterisiert durch die Tatsache, dass in ihr alles ausgeklammert und an den Rand geschoben wird, was für die individuelle Lebenswelt und eine gedeihliche Gesamtstruktur relevant ist. »Das Wohl und Wehe des Gemeinwesens, politische Kultur, ohne die ein innergesellschaftlicher Friedenszustand nicht existieren kann, Moral und Verantwortung, ausgleichende Gerechtigkeit (...). Alle diese und andere die Würde des Menschen betreffenden Kategorien fallen durch die Raster einer Ökonomie, die den betriebswirtschaftlich rational regulierten Einzelbetrieb zur Sozialutopie der gesellschaftlichen Gesamtordnung erhebt.« (S.310) Während diese erste Ökonomie als Herrschaft begriffen wird, greift die zweite Ökonomie die klassischen Fragen der Ökonomie wieder auf und »rückt den Lebenszusammenhang der Menschen, ihre konkrete Lebenswelt, ins Zentrum der Betrachtung« (S.319). Negt geht sogar so weit zu behaupten, dass der universell verfügbare, flexible Mensch allem widerspricht, »was in der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft an Menschheitsentwürfen ausgebildet wurde. (...) Es hat nie in der Geschichte eine so enge, dürftige, offizielle Definition des Menschen gegeben wie heute: abgemagert, um seine Potentiale, seine Fähigkeiten gebracht.« (S.321)

Demgegenüber charakterisiert er den Menschen der »zweiten Ökonomie« als »eigensinnig, auf autonome Urteilsfähigkeit und eigentümliche Lebensstile bedacht, die rebellische Elemente enthalten.« (S.322). Negts politisches Ziel ist es, die »Zweite Ökonomie zur Ersten zu machen« (S.322), entsprechend verortet er sich in einer »politischen Kampfsituation epochalen Ausmaßes« (S.322). Koalitionspartner sieht er in allen gesellschaftlichen Schichten, und »das strategische Bewusstsein für eine solche Kampfsituation ist im Wachsen begriffen« (S.322). Auch hier wäre die Nachfrage angebracht, wie das Dilemma zu lösen ist, dass erste und zweite Ökonomie ja nicht von verschiedenen kollektiven und individuellen Akteuren im Sinne von Lagern repräsentiert werden. Lassen sich in politischen Debatten solche unterschiedlichen Ziele noch identifizieren, zu denen sich die Gesellschaftsmitglieder zuordnen oder die sie neu formulieren, so ist doch gerade die gesellschaftliche Alltagspraxis davon geprägt, dass sie sich nicht einfach in die gegensätzlichen Dualitäten auflösen lässt, sondern dass über die Alltagspraxis die Dominanz der ersten Ökonomie reproduziert wird.

Im Kampf der zwei Ökonomien stehen zwei Fragen im Zentrum. Erstens: Wie kann »diese subjektverlassene, zu gespenstischer Gegenständlichkeit massierte Objektwelt, in der denkende und fühlende Maschinen und Maschinensysteme ihr Unwesen zu treiben beginnen, wieder menschlichen Zwecken« unterworfen und demokratisch kontrolliert zu werden? Zweitens: Wie kann über den Begriff des Sozialen der Mythos der Marktwirtschaft kritisiert werden? (S.334) Der Arbeitsmarkt als Markt der ganz besonderen Ware Arbeitskraft ist Negt das »Thema probandum« der kapitalistischen Entwicklung (S.336), denn es gehe doch darum, »wie lebendige Arbeitskraft durch die Mechanismen des existierenden Arbeitsmarktes in die Lage versetzt wird, für Millionen von Menschen das Recht auf Lebensunterhalt zu sichern.« (S.341)

Die Verfolgung der ersten Frage führt Negt über eine Kritik der betriebswirtschaftlichen Ideale der lean production zur Auseinandersetzung um die Entwicklung der Arbeitsverhältnisse und des Verhältnisses von lebendiger und toter Arbeit im Produktionsprozess. Im Rückgriff auf Kern/Schumann sieht Negt Tendenzen, dass sich neue Verantwortungsethiken der Individuen in der Arbeit gegenüber dem Gesamtzusammenhang der Gesellschaft herausbilden. Unter solchen Bedingungen sei »die Herrschaft der toten Arbeit, der Maschinerie über die lebendige Arbeit« ein »gesellschaftlicher Widersinn« (S.366). »Arbeit ist ihrer Struktur nach zu politischen Arbeit geworden, das heißt zu einer Form von Tätigkeit, deren Kooperationsgeist so sehr auf das Ganze bezogen ist, dass von außen kommende Herrschaftsverhältnisse diese Produktionstätigkeit nur noch stören, aber nicht fördern können.« (S.366) Negt landet so bei den Themen, um die sich die neueren Diskussionen um das Befreiungspotential der (von manchen immateriell genannten) Arbeit drehen. Auffällig ist, dass Negt einerseits die konkrete stoffliche Gestalt der Maschinerie als Vergegenständlichung von Kapitalverwertungsinteresse begreift, andererseits aber Herrschaftsverhältnisse als »von außen« kommend beschreibt, was doch eher ein herrschaftsneutrales Verständnis von Technik vermuten lässt.

Negt befindet sich in seinem Gedankengang nun an dem Ort, der von allen Theoretikern, die kapitalistische Verhältnisse als veränderbare betrachten, betreten werden muss. Mit Marx bestimmt er als Bedingung für die Emanzipation einer Gesellschaft zweierlei: die Reduktion der notwendigen Arbeit und die bewusste menschliche Gestaltung dieser notwendigen Arbeit (S.361). Mit der letztgenannten Forderung argumentiert Negt im Widerspruch sowohl zu Habermas’ Konzept einer der Herrschaftskritik nicht mehr zugänglichen Sphäre des »Systems« als auch zu den Theoretikerinnen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts. Auch im Technikfetisch des real existierenden Sozialismus, in dem Befreiung an das Wachstum der Produktivkräfte gekoppelt war, zeigte sich eine problematische Bestimmung der Vergesellschaftung: »Das Allgemeine, die Gesellschaft, wird wieder in den Rang eines naturwüchsigen Gemeinwesens erhoben, für das die Individuen nur Anhängsel sind« (S.374), und die politische Planung fixiert »die Gesellschaft« als »eine übermächtige Abstraktion dem Individuum gegenüber« (S.374). Im Gegensatz dazu lässt sich für Negt aus der »grundsätzlichen Widersprüchlichkeit« einer »lebendigen Dialektik von Individuum und Gesellschaft« nicht herausspringen (S.374). Individuelle Rechte, der Schutz der Persönlichkeitssphäre gehören für ihn zum emanzipatorischen Minimum. Denn die von Negt für politisch erstrebenswert gehaltene freiheitlich-freiwillige, auf das Gemeinwesen gerichtete Kommunikation und Kollektivität »muss von den Menschen selbst reklamiert werden« und werde deshalb nur gelingen, wenn diese »zu ihren Privatverhältnissen etwas hinzugewinnen: dass der andere Mensch ihnen zum politischen Bedürfnis geworden ist.« (S.375)

Autonomie vs. Selbstverantwortung

Im Rückgriff auf Hegel und Marx wird Arbeit als historisch fundamentale Kategorie entfaltet. In der bürgerlichen Gesellschaft ist sie in der Ambivalenz von Ausbeutung und Selbstbefreiung befangen (S.425). Arbeit – nicht ihre konkrete Gestalt der Lohnarbeit – ist für Negt die »einzige Vermittlungstätigkeit, die dem Grundpostulat der Emanzipation gerecht zu werden vermag: nämlich der Naturalisierung des Menschen, der ein Stück leidensfähiger Leiblichkeit in seinem starken Geistwesen hinzugewinnt, und der Humanisierung der Natur.« (S.425). Arbeit ist zentrales Moment der Subjekt-Objekt-Konstitution (S.425). »Freiheit und Autonomie der Subjekte bedürfen der Gegenständlichkeit, auf die sie sich beziehen und in der sie sich bestätigt oder verneint finden.« (S.425) Da Menschen aus diesem Konstitutionsverhältnis nicht herausspringen können, ist es logisch, wenn Negt danach fragt, welche Utopiegehalte der Arbeit sich historisch finden lassen. Denn auch heute gehe es nicht um »Aufhebung von Arbeit«, sondern »um die Vervielfältigung und Erweiterung gesellschaftlich anerkannter Formen von Arbeit, die der Eigenproduktion, der Selbstverwirklichung und dem Gemeinwesen dienen.« (S.429) (...)

Mit vielen Argumenten begibt sich Negt in Widerspruch zur modernen rot-grünen Regierungskunst. Dies zeigt sich auch in seiner Position zu den Theoretikern der »Zweiten Moderne« und deren Verhältnis zum Sozialstaat. Denn Beck und Giddens plädieren im Gleichklang mit den modernen sozialdemokratischen Regierungen für die Umgestaltung des Sozialstaats, um die Selbstvorsorge der Individuen zu stärken. Dies ist für sie ein wesentliches Charakteristikum gesellschaftlicher Modernisierung. Demgegenüber setzt Negt, dass die allseits bemühten Selbstverantwortungsstrategien »Phrasen aus dem Arsenal der gegenwärtigen neoliberalen Ideologie sind, die gar nichts mit dem zu tun haben, was in der europäischen Kultur unter Autonomie, also kritischer Urteilsfähigkeit und existenzieller Selbständigkeit, bisher verstanden wurde.« (S.617) Die Ängste jedenfalls, die durch die Selbstverantwortungsstrategien erzeugt werden oder die ihren Ort in der Abhängigkeit vom Arbeitgeber haben, sind »keine guten Grundlagen für Autonomie«. (S.618)

Solidarität vs. Standortrationalität

Zu den Handlungsfeldern, die Negt nach der Verantwortung für die »gegenwärtige Misere, die so viele Menschen trotz des überbordenden Reichtums immer wieder betrifft« (S.556) befragt, gehört auch gewerkschaftliches Handeln.

Unter der Überschrift »Imperative gewerkschaftlichen Handels« phantasiert Negt die Möglichkeit eines hippokratischen Eides für Gewerkschafter. Dieser müsste sich vor allem auf vier Ideen beziehen, »die gleichzeitig Untersuchungsfelder und Verpflichtungen bezeichnen« (S.567). Als Voraussetzung für eine Verantwortung im Sinne des Gewerkschaftsgedankens bedürfte es »unabdingbar einen Begriff von Gerechtigkeit, von Gleichheit, von Solidarität und Gemeinwesen.« (S.567) Im Rückgriff auf Marx und Ritsert erörtert Negt das Verhältnis von Gerechtigkeit und Gleichheit in einer Gesellschaft, in der die Lohnarbeit zur Schlüsselkategorie der Gleichheits- und Gerechtigkeitsvorstellungen geworden ist. Solange Lösungen der Gerechtigkeitsfrage sich lediglich auf das Ausmaß der Verausgabung von Arbeitskraft beziehen, bleiben sie unbefriedigend. »Wirkliche soziale Gerechtigkeit ist etwas anderes und wohl auch mehr als die Durchsetzung des Gleichheitsprinzips, nämlich eine Zielvorstellung, bei der die Differenzierung der Lebenslagen und der natürlichen Voraussetzungen der Menschen in den gesellschaftlichen Umwandlungsprozess miteinbezogen werden.« (S.570) In der Diskussion der Säule »Solidarität« eines gewerkschaftlichen verantwortlichen Handelns leitet Negt u.a. durch den Verweis auf Rawls die Herausforderung an Gewerkschaften ab, »dort, wo aufgrund der Macht- und Herrschaftsstrukturen Ungleichheiten unveränderlich sind, den am schlechtest ausgestatteten Vorteile zu verschaffen.« (S.572) Dazu seien kollektive Solidaraktionen zugunsten von Unterprivilegierten unverzichtbar. Negt zielt hier auf das Verhältnis von Gewerkschaften zu Arbeitslosen, Armen und Prekarisierten.

Ein weiterer Bestandteil des hippokratischen Eides von Gewerkschaften wäre die Idee eines »vernünftig organisierten Gemeinwesens« (S.572). In diesem Kontext erneuert Negt sein bekanntes Plädoyer für die Erweiterung des gewerkschaftlichen Mandats auf die außerbetrieblichen Lebensverhältnisse. Dort sieht er ein Feld immer größerer »sekundärer Ausbeutung« durch die »Kultur- und Bewußtseinsindustrie« (S.573). Er sieht eine wichtige gewerkschaftliche Aufgabe darin, der Fragmentierung und Zerstreuung des Bewußtseins entgegenzuwirken, da diese Tendenzen die Möglichkeit der politischen Organisierbarkeit von Interessen und Bedürfnissen erschwere und kritische Formen der Öffentlichkeit verhindere (S.574). Dies ist für Negt besonders im Zusammenhang mit dem Kampf um mehr freie Zeit wichtig. »Denn die Phantasien, Interessen und Bedürfnisse der Arbeiter und aller anderen abhängig Beschäftigten bleiben, wie wir aus der Entstehungsgeschichte des Faschismus lernen können, nicht für längere Zeit gleichsam herrenlos, unbesetzt. Sie werden von der einen oder anderen Seite verwertet: entweder durch zusätzliche Kapitalisierung im Interesse des bestehenden Herrschaftssystems oder durch eine selbsttätige Organisation, welche den autonomen Bewegungsspielraum der Menschen vergrößert und sie mündiger macht.« (S.575) Auf die eigentümliche Widersprüchlichkeit des Gedankens der »Verwertung« von Interessen und Bedürfnissen durch eine die Autonomie vergrößernde Organisation soll hier nur hingewiesen werden. Denn Negts zentrale Forderung an die Gewerkschaften ist die, neben den Betrieben ein zweites Standbein in den »Reproduktionsbereichen« der Gesellschaft zu bilden, denn diese seien »im Grunde zentrale Produktionszusammenhänge« (S.578). Negt warnt allerdings auch vor klassischen gewerkschaftlichen Verkürzungen in den außerbetrieblichen Handlungsfeldern. Gewerkschaftliche Beschlüsse z.B. zu Raumordnungs- und Verkehrspolitik »folgten in der Regel eher der Linie des Rationalisierungsfortschritts« (S.578). Eine Dezentralisierung und Erweiterung der gewerkschaftlichen Praxis in Stadtteile und Wohngebiete hinein bedürfte, wenn sie Sinn haben soll, nach Negt der Überwindung der »traditionellen Stellvertreterpolitik« (S.580). Er äußert Unverständnis über die Schwierigkeiten der real existierenden Gewerkschaften, sich auf diese Herausforderungen und Chancen einzulassen. Er betont, dass sein Vorschlag nicht dahingehend missinterpretiert werden sollte, außerbetriebliche Bewegungen »gewerkschaftlich zu integrieren«. Denn wenn Gewerkschaften sich in den Staatsaufbau integrieren lassen oder »Disziplinierungsfunktionen irgendwelcher Art den abhängig Beschäftigten gegenüber« übernehmen, dann »verlieren sie ihr Existenzrecht« (S.583). Wenn die Anforderungen Negts an verantwortliches gewerkschaftliches Handeln diskutiert werden, kommt es sicher schnell zur Debatte um »Überforderung« und »Realismus«. Darauf ist Negt vorbereitet und antwortet mit Gorz’ Kritik des Realismus: »Es gibt Zeiten, in denen der Realismus – weil die Ordnung zerfällt und nur noch deren sinnentleerte Zwänge übrig bleiben – nicht mehr darin besteht, das Existierende zu verwalten, sondern darin, die grundlegenden Wandlungen zu ersinnen, zu antizipieren und einzuleiten, deren Möglichkeit in den bereits stattfindenden Veränderungen angelegt ist.« (S.584)

Anders Arbeiten vs. Lohnarbeit

Das abschließende Plädoyer Negts für die Entwicklung und Förderung anderer und »reichhaltigerer Formen der Arbeit«, die »Selbstverwirklichung« und »verantwortungsbewusste Arbeit für das Gemeinwesen« er-möglichen, kann so interpretiert werden, als scheine die Frage der Aufhebung der Lohnarbeitsverhältnisse eine ihrer Begrenzung. »Die in der lebendigen Arbeit steckenden Potentiale schöpferischer Phantasie und Gestaltungsmacht lassen sich innerhalb der von Kapital und Markt definierten Grenzen kaum sinnvoll und ausreichend entfalten.« (S.714) Die Befreiung der ersten Ökonomie von der Betriebswirtschaft des Kapitals in eine Volkswirtschaft des ganzen Hauses, die Aufrechterhaltung kollektiver sozialer Sicherheiten sowie die gesellschaftliche Anerkennung nicht lohnarbeitsförmiger Arbeiten in dieser neuen Ökonomie kann so als Charakteristikum von Negts emanzipatorischem Minimum festgehalten werden. Es gibt noch andere Gründe in Negts Buch als die hier vorgestellten Unterschiede, die eine Lektüre erbaulicher machen als die einer Regierungserklärung.

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 6-7/03

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