letzte Änderung am 18. Juni 2003 | |
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Von Oskar Negt ist nicht nur bekannt, dass er einer der geistigen Väter des Sozialistischen Büros war, sondern auch, dass er ab und an als geistiger Ratgeber oder Gesprächspartner für den Bundeskanzler tätig sein soll. Vor diesem Hintergrund ist die Neugier auf sein Werk mit dem Titel »Arbeit und menschliche Würde« groß.
In den sozial- und arbeitsmarktpolitischen Debatten der letzten Jahre war es ein Kennzeichen gerade der neuen sozialdemokratischen Politik des aktivierenden Staates, die Integration in (Lohn)Arbeit nicht zuletzt damit zu begründen, dass primär die Teilhabe an ihr die volle Mitgliedschaft in der Gesellschaft garantiere. Zu erinnern ist hier an Wahlslogans wie »Jugendliche dürfen bei uns alles werden außer arbeitslos«. Zu erinnern ist selbstverständlich auch an die Agenda 2010 mit ihrem Anliegen, an Lohnarbeit gebundene kollektive soziale Sicherheiten weiter zu zerstören und die individuellen, privaten Lohnnebenkosten zu erhöhen.
Die Neugier ist darauf gerichtet, ob sich Unterschiede zwischen der genannten Programmatik und Praxis einerseits und der Gedankenwelt Negts andererseits finden lassen und welcher Art diese sind. Schließlich ist Negts Nachdenken vom Erkenntnisinteresse der Herrschaftskritik geprägt. Er sieht sich einer Tradition der »Frankfurter Schule« verpflichtet, in deren Kategorien im Unterschied zu denen postmoderner Theoretiker nirgends »der normative Blick auf eine bessere Einrichtung der Gesellschaft und auf erweiterte Mündigkeit und Autonomiefähigkeit der Individuen fehlt« (S.594).
Negt selbst hat vor allem zwei »Tatbestände« im Sinn, auf die sich die »Aufklärungsmühe« des Buches richtet: »Arbeitslosigkeit ist ein Gewaltakt« (S.10), und: »Das Ringen um eine zukunftsfähige Arbeitsgesellschaft ist kein bloß akademischer Diskurs«, denn es toben »Machtkämpfe, bei denen Herrschaftspositionen und materielle Privilegien auf dem Spiel stehen« (S.11). In seinem Aufklärungsbemühen erhält die Frage danach, wie eine Gesellschaft aussehen kann, in der Menschen von existenziellen Ängsten und Unzufriedenheiten befreit leben können, einen zentralen Stellenwert. Denn Existenzängste und Angstpotentiale, die von der gegenwärtigen Verfasstheit der Gesellschaft systematisch provoziert werden, »haben ... stets zu den wichtigsten sozialpsychologischen Manipulationsmitteln von Herrschaft gehört.« (S.16) Die »Verfügung über fremde Arbeitskraft begründet Herrschaft« (S.18), weshalb für Negt weder (Lohn)arbeit noch Arbeitslosigkeit herrschaftsneutrale Probleme darstellen. Zugleich lässt das in den »wirklichen Lebensverhältnissen der Menschen« (S.18) an Erwerbsarbeit gebundene Versprechen der Existenzsicherheit und Anerkennung Negt auch davon sprechen, dass arbeitsgesellschaftliche Utopien weltweit keineswegs erschöpft seien (S.18).
Diese Erinnerung muss gerade in Zeiten hervorgehoben werden, in denen über Arbeitsverhältnisse und Arbeitslosigkeit in einem Diskurs der Sachzwänge und der (sozial)technischen Behandlung auftretender (Verhaltens)Probleme verhandelt wird. In diesem Diskurs wird nach Negt mit »Zauberworten und magischen Praktiken« operiert (S.24). Demgegenüber will er in seinem Buch »die moralische und kulturelle Dimension von Arbeit, Arbeitslosigkeit und Gemeinwesen in den Vordergrund (stellen) und damit die immer noch wesentlich durch Arbeit vermittelte menschliche Würde« (S.24). Negt zitiert zwar zustimmend das Kommunistische Manifest, in dem festgestellt wird, »dass (die Bourgeoisie) die persönliche Würde in den Tauschwert auflöst« (S.32). Doch da Arbeit für ihn eine gesellschaftliche Schlüsselkategorie ist, »deren Veränderung alle Institutionen, Organisationsprinzipien, Beziehungsstrukturen und Wertorientierungen berührt«, bedürfte es »radikaler Wandlungen, aber gerade diese sind offenbar mit tiefsitzenden Ängsten verknüpft« (S.25). Wer nun vom Autor ein Programm des radikalen gesellschaftlichen Wandels erwartet, wird sich enttäuscht sehen. Ein solches Programm zu formulieren, entspräche auch nicht dem theoretischen Selbstverständnis des Autors. Er weiß oder hofft begründet, dass »Menschen mit ihrer lebendigen Arbeitskraft und ihren Träumen von einer anderen Gesellschaft« (S.712) die Möglichkeit der Freiheit haben. Und diese Freiheit verbietet Programmentwürfe im Sinne von Rezepten.
Ausgangspunkt der Suche nach Veränderungsmöglichkeiten ist für Negt die Wirklichkeitsschicht der Arbeits- und Lebensverhältnisse in einer »fortgeschrittenen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft« (S.95).
Er konstatiert eine »Erosionskrise« der Gesellschaft, doch dabei geht es Negt nicht nur um deren Erklärung, sondern Krise sei »gleichzeitig immer mit einer praktischen Entscheidung« verbunden (S.119). Für Negt deuten sich in Krisen »Perspektiven des Möglichen« an, die »nach Organisierung drängen« (S.119f.). Hier den Status eines wertneutralen, abwägenden Beobachters einnehmen zu können, sei praktisch wie theoretisch unmöglich. Vielmehr konstituiere »Parteilichkeit (...) in diesen Fragen allererst den Wahrheitsgehalt objektiver Erkenntnis.« (S.120) Auch hier zeigt sich Negts Verständnis einer kritischen Wissenschaft, deren Aufgabe es ist, das Bewusstsein alternativer Möglichkeiten und Tendenzen zu weiten. »Kritik ist in diesem Sinne ein entscheidendes Produktionsmittel humaner Krisenbewältigung.« (S.122) Die Besonderheit von Erosionskrisen liegt für Negt darin, »dass sie vor allem auch unterhalb des öffentlichen Institutionensystems wirken, dass sie die Subjekte in ihrer seelischen, körperlichen und geistigen Grundausstattung erfassen. Krisen dieses Typs verändern die Subjekte in ihren wichtigsten Lebensäußerungen, in ihrem Arbeitsverhalten, in ihrem Selbstwertgefühl, in ihren Wert- und Bedürfnisorientierungen.« (S.123)
Für Negts Krisenanalyse, die auch eine Darstellung der klassisch objektiven Krisensymptome enthält, ist der Hinweis auf die Tendenz zentral, dass solche Krisen den Wunsch nach einfachen Erklärungen und Lösungen wachsen lassen. So wäre Negts Denken auch in der Lage, eine Reihe politisch-kultureller Zeitphänomene (von der Marktgläubigkeit über den Populismus, die Esoterik bis zum neuen Biologismus) zu erläutern: »Es ist charakteristisch für kulturelle Erosionskrisen, die auf epochale gesellschaftliche Umbrüche verweisen, dass die ursprungsphilosophische Suche nach einem Prinzip, das alle bestimmenden Widersprüche erklärt, und einem Hebel, mit dem Krisenlösungen in Bewegung gesetzt werden können, in die Irre führt.« (S.130)
Im Krisenherd der Veränderungen der Arbeits- und Erwerbsgesellschaft verbergen sich für Negt die »hartnäckigsten Probleme der Gegenwart« (S.135). Ohne schwerwiegende Eingriffe in bestehende Macht- und Herrschaftsstrukturen gibt es für Negt keine Möglichkeit zur Bewältigung der Krise. Er fordert einen Paradigmenwechsel sowohl in der wissenschaftlichen Untersuchung wie auch im praktischen Handeln. »Wir müssen die ökonomischen Vorgänge, die sich wie Naturereignisse auf unsere Gehirne und Seelen lagern, von unten her betrachten und vom Schicksal der lebendigen Arbeitskraft, den Bedürfnis- und Interessensstrukturen lebendiger Menschen ausgehen. Wenn wir nicht zu dieser Blickrichtung finden, gibt es kaum Hoffnungen auf menschenwürdige Lösungen der Krise.« (S.136) In diesem fast pathetischen Forschungsprogramm stellt sich die Frage nach der gesellschaftlichen Bestimmtheit der »lebendigen Arbeitskraft«, den Bedürfnissen und Interessen der lebendigen Menschen.
Unter der Überschrift »Arbeitszeit Herrschaft über Raum und Zeit« greift Negt auf seine früheren Analysen des Kampfes um Arbeitszeitverkürzung als Kampf »zweier Ökonomien« zurück. Herrschaft wird, auf die Alltagserfahrungen der Menschen bezogen, als »Chance« verstanden, »jederzeit die Regeln vorzugeben, nach denen die Menschen ihre Zeit aufteilen müssen, und die Räume, in denen sie sich zu bewegen haben« (S.143). Vom einzelnen Menschen aus betrachtet zeigt das »Ausmaß, in dem ich über Raum und Zeit verfüge« den »substantiellen Kern von Freiheit und Unfreiheit« (S.144). Mit dem Verweis auf die Verfügung über Raum und Zeit macht Negt deutlich, dass die prinzipielle menschliche »Freiheitsfähigkeit« konkret wird in »Akten der Befreiung«: »Sie ist nur als tätige Freiheit denkbar und hat unabdingbar Selbstverwirklichung zum Ziel« (S.146). Befreiung in diesem Sinn ist nur denkbar, wenn auch der stumme Zwang der Verhältnisse, wenn »verinnerlichte Abhängigkeitsverhältnisse« überwunden werden (S.146). Im Rückgriff auf Wilhelm Reich erläutert er die Notwendigkeit von Psychologie und Massenpsychologie für eine befreiende Praxis. Sie werden gebraucht, um zu verstehen, »warum ein Hungernder nicht stiehlt, warum die Menschen an der unmittelbaren Wahrnehmung ihrer Interessen von unsichtbaren inneren Barrieren gehindert werden« (S.147).
In einem Durchgang durch die Geschichte um die Verkürzung der Arbeitszeit gelangt Negt zum Ergebnis, dass es einen grundlegenden Konflikt zwischen kollektiven und individuellen Regelungen der Arbeitszeitverkürzung. Letztere werden von ihm als Herrschaft mittels »zerfaserter Raum-Zeit-Veränderungen« begriffen (S.154). Negt begründet nochmals eindringlich kollektive Arbeitszeitverkürzungen als Basis der Ausweitung der »Emanzipations- und Orientierungszeit« (S.156), um dann auf die Grenzen einer isolierten Arbeitszeitpolitik hinzuweisen (S.158f.). Er führt reichlich Material dafür an, was aus dem Kampf um Arbeitszeitverkürzung geworden ist, wie Arbeitszeiten sich entwickelt haben, wie Arbeits- und Betriebszeiten sich zueinander verhalten und wie die Flexibilisierungs- und Fragmentierungsstrategien den lohnarbeitenden Menschen eine »Verbetrieblichung der eigenen Lebensführung« aufnötigen (S.164). Hier führt Negt Belege an, wie Herrschaft nicht nur von außen, durch das Direktionsrecht der Arbeitgeber gesetzt wird, sondern dass Strategien der »aufgabenorientierten Arbeitszeit« IBM wird als Protagonist genannt dazu führen, »dass sich der Wille des Arbeitgebers fast unbemerkt über den selbständigen Willen des Beschäftigten durchsetzt.« (S.165).
Die Konflikte um die Flexibilisierung und individuelle wie kollektive Zeitpolitiken bilden auch den Rahmen für einen der »Drei Irrwege des gesellschaftlichen Krisenmanagements« so die Überschrift des zweiten Kapitels des Buches. Der erste Irrweg (S.170f.) ist mit »Fragmentierung« überschrieben. Oskar Negt entzaubert hier den Begriff der Flexibilität und stellt fest, dass »der Bedeutungsgehalt dieses Begriffs von einer Ambivalenz (zehrt), die für ganz verschiedene Interessen brauchbar ist (S.173). Es fehlt nicht der Verweis auf die Sprachgeschichte des Begriffs sowie Richard Sennetts Aussage, dass »flexibility« ursprünglich die Fähigkeit des Baums bezeichnete, dem Wind nachzugeben und sich zu erholen. Demgegenüber konzentriere sich heute die Flexibilität »vor allem auf die Kräfte, die die Menschen verbiegen und beugen« (S.174). Die dennoch vorhandene Ambivalenz kennzeichnet Negt durch den Hinweis, dass »die Klaviatur, auf der die Unternehmer mit dem Zauberwort der Flexibilität spielen, ... zum ersten Mal in der Geschichte der Klassenkämpfe Eigenmelodien der abhängig Tätigen anklingen« lasse (S.176). Diese werden darin gesehen, dass sich eine Gegenerfahrung zu gleichförmigen Zeittakten machen lässt, die ein »Moment des Lebendigen, Qualitativ-Dynamischen« enthalte (S.176). An solche Alltagserfahrungen anknüpfend konnte sich die Unternehmerseite in der öffentlichen Debatte als Anwalt des konkret-individuellen Menschen darstellen und den Gewerkschaften die Rolle der Repräsentanten des Abstrakt-Kollektiven zuweisen. Letztlich sieht jedoch auch Negt in der Flexibilitätsanforderung nur ein Moment der realen Reduktion des Menschen auf verwertbare Arbeitskraft (S.178). Die Arbeitskraft gewinnt nicht mehr Souveränität und Schutz, sondern wird »aller ihrer Schutzschichten entkleidet« noch mehr zum Trabanten, der um die Sonne Kapital kreist (S.178).
Von besonderer Bedeutung sind für Negt die Folgen dieser Fragmentierungen der Arbeit für die Bindungsfähigkeiten und Näheverhältnisse der konkreten Menschen. Er erinnert hier an Marx Rede von der »reellen Subsumtion der Menschen unter das Kapital«. Damit sei die Möglichkeit einer gesellschaftlichen Situation gemeint, in der »die ganze Lebensfülle der Menschen in die Logik des Kapitals eingebunden ist.« (S.183) Auch hier zeigt sich ein zentrales Modernisierungsdilemma: Die kapitalistische Modernisierung untergräbt durch die versuchte Unterordnung aller Lebensbereiche unter Verwertungsinteressen sozusagen ihre stoffliche soziale Basis. Auch wenn er die Qualität der Orte, an denen Menschen ihre Primärerfahrungen machen, nicht idealisieren will, ist ihm der Hinweis darauf wichtig, »dass Flexibilisierungsstrategien, die in die Poren der menschlichen Lebensverhältnisse eindringen, eine für den Zusammenhalt des Gemeinwesens« existenzielle Bedeutung angenommen haben (S.189).
Gegenwärtig sieht Negt das Kernthema, wie sich Solidarität gerade wegen der Uneinheitlichkeit der Abhängigkeitsverhältnisse und der Polarisierung zwischen Reichtum und Armut bildet, zerstört. Stattdessen herrsche ein gesellschaftliches Betriebsklima von Risiko, Spiel und Börse (S.217f.). Dem ökonomischen Geschehen wächst so eine Rolle zu, die es als gesellschaftlichen und politischen Gestaltungsraum negiert. Es erhält eine »Autarkie gegenüber allen gesellschaftlichen, politischen und letztlich auch staatlichen Einbindungen« (S.223). Das ist die Negtsche Formulierung der Kritik am neoliberalen Glaubensbekenntnis des freien Marktes, das regulierende Politik als unangemessen und illegitim denunziert.
Er sieht in der gegenwärtigen wirtschaftlichen Entwicklung eine Revolution des Kapitals, die »unabdingbar damit verknüpft (ist), dass immer mehr mit immer weniger menschlicher Arbeitskraft produziert werden kann« (S.233). Vor diesem Hintergrund entwickelt er eine Analyse der Arbeitslosigkeit als »Angstrohstoff der Gesellschaft« (S.236). Diese Analyse enthält implizit auch Bezüge zu den jüngeren Debatten um die »Überflüssigen«, z.B. wenn er feststellt: »Es gibt etwas Schlimmeres, als ausgebeutet zu werden: gar nicht mehr ausbeutbar zu sein.« (S.235)
Obwohl die kapitalistische Form gesellschaftlicher Arbeit, die Lohnarbeit, ein Ausbeutungs- und Herrschafts-verhältnis ist, ist sie für Negt auch Ort und Form gesellschaftlicher Anerkennung. In seiner Diskussion der Arbeitslosigkeit werden durchaus sozialdemokratische Fallstricke deutlich, wie sie sich im programmatischen Bekenntnis, es sei besser, Arbeit statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren, ausdrücken (S.237). Denn einem analytischen Verstand wie dem Negts sollte der folgende Satz nicht so einfach möglich sein »(...) warum erlaubt sich dann die Gesamtgesellschaft den Luxus, für Arbeitslosigkeit, für Nichtstun 180 Milliarden (DM) jährlich auszugeben?« (S.237) Zwar schließt sich diesem Satz die Feststellung der politischen Nützlichkeit von Massenarbeitslosigkeit für Kapitalinteressen an, doch jemand, dem es um Würde (»die keinen Preis hat«) geht und der weiß, dass Arbeitsverhältnisse und soziale Absicherungen Felder von gewerkschaftlichen und politischen Kämpfen sind, sollte die Tatsache von erkämpften Rechtsansprüchen für Zeiten des »Nichtstuns« nicht im Stil politischer Sonntagsreden übergehen. Anerkennung und Einlösbarkeit dieser Rechte sind nämlich ebenfalls wichtige Kriterien für die »Maßverhältnisse« einer Gesellschaft im Negtschen Sinne.
Arbeitslosigkeit wird von Negt als Mechanismus von Herrschaft kritisiert (S.238). Sie ist für ihn ein weiteres Moment der Spaltung der Gesellschaft in zwei Realitäten. Die erste Realität ist die, in der Menschen einer geregelten Arbeit nachgehen. Negts Beschreibung dieser Realität gleicht einer Beschreibung der zufriedenen Mehrheit. In der ersten Realität sind die individuellen Interessen der Menschen »ohnehin die herrschenden Interessen der Gesellschaft«. Die Menschen »kapseln sich in der ersten Realität ein und errichten eine Mauer zwischen sich und der gesellschaftlichen Erfahrung von Konflikten und Widersprüchen« (S.243). Die zweite Realität hingegen ist nun keine einfache Arbeitslosen-Lage, sondern eine komplexe Situation, deren besonderes Kennzeichen es ist, dass »Raum und Zeit (...) bei dieser Schicht der Marginalisierten die Gestalt einer unendlich freien Verfügbarkeit« annehmen (S.243). Trotz der Unterschiedlichkeit der Biografien und Lebenspraxen der Marginalisierten gibt es eine bestimmende Gemeinsamkeit: dass »die Menschen, die hier ihre Erfahrungen machen, aus dem gesellschaftlich anerkannten System der Arbeit herausgefallen sind und darunter leiden, dass die gewonnene Zeit ihren Ernstcharakter verloren hat. Die Trennung von der ersten Realität ist in der Regel gegen ihren Willen geschehen.« (S.244)
Negts politische Perspektive kann hier mit der Robert Castels verglichen werden, der in der Lage der Abkopplung und Ausgrenzung von Lohnarbeitsverhältnissen keine Basis des Reichs der Freiheit sieht. Negt hält es für »völlig verfehlt zu meinen, der Prozess der Ausgliederung als solcher schaffe den substanziellen Boden, auf dem ein solidarisches Gemeinwesen gleichsam naturwüchsig gedeiht.« (S.252) »Autonomie« kann für ihn nur das »Resultat eines langwierigen Prozesses der konkreten und kollektiven Abtrennung von dem heteronomen entfremdeten System gesellschaftlicher Arbeit (sein), wie es durch die erste Realität definiert ist.« (S.252) Hier wäre nun eigentlich der Ort einer Debatte darüber, wie und wo sich in der heteronomen Arbeitswelt Spuren der »Autonomie« und eines »solidarischen Gemeinwesens« finden und welche Rolle die Gewerkschaften in diesem kollektiven Abtrennungsprozess hätten.
Wenn es richtig ist, dass die Ausgliederung und Abkopplung in Arbeitslosigkeit auf niedrigem materiellen Niveau eine »Enteignung von Lebenschancen« (S.258) darstellt, so lässt sich eine Folie der Kritik an modernen Aktivierungsstrategien gewinnen. Denn diese stellen gerade in ihrer Beurteilungs-, Bewertungs-, Planungs- und Aktivierungspraxis eine sekundäre Enteignung dar, wird doch die Integration in den Anerkennungs- und Herrschaftszusammenhang Lohnarbeit zum objektiven, nicht mehr hinterfragbaren Wert. Subjektive Ansprüche an Arbeit werden gerade da, wo Niedriglohnarbeit als Lösung dargestellt wird, systematisch abgewertet. Aktivierung könnte so mit Negts Analyse der sozialen Frage und der Flexibilisierungsstrategien als Anpassungsstrategie an bestehende Herrschaftsverhältnisse gedeutet werden. »Wenn die Verhältnisse nicht zu ändern sind, dann müssen eben die Menschen ihre ganzen Kräfte darauf richten, sich innerhalb der Verhältnisse mit möglichst großer Flexibilität zu bewegen«(S.260). Das Trampolin des aktivierenden Staates wäre für die Arbeitslosen also ein weiterer Stressor und kein Mittel der Wiederaneignung von Lebenschancen.
Oskar Negt: Arbeit und menschliche Würde, Steidl-Verlag, Göttingen 2001, 29 Euro, 608 Seiten, ISBN 3-88243-786-3 |
Teil II erscheint im nächsten express.
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