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Updated: 18.12.2012 15:51
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Martin Dieckmann

Gerechtigkeit und Freiheit – Ein langer Marsch durch die Krise[*]

Der Hass auf die Verschwendung ist der Daseinsgrund und die Rechtfertigung der Bourgeoisie; er ist zugleich der Grund für ihre abscheuliche Heuchelei.“
Georges Bataille


I. Ihre Agenda und unsere

Fünf Jahre rot-grüne Regierung reichten aus für einen politischen Erdrutsch, der nunmehr so gut wie alle scheinbar verbrieften Gewissheiten öffentlicher Wohlfahrt aus den Zeiten des so genannten Rheinischen Kapitalismus mit sich reißt. Dass mit der Agenda 2010 ein solcher Dammbruch stattgefunden hat, hat weniger mit den einzelnen Themen dieses Programms zu tun, als vielmehr mit dem Geist des Ganzen: einem programmatischen Wechsel hin zu einer anderen Republik. Dieser Wechsel ist von historischer Bedeutung und wie jedes historische Programm hat auch dieses Programm die doppelte Aufgabe, erstens eine bereits vorhandene Praxis zum Grundsatz zu erheben. Weil aber damit andere Grundsätze obsolet werden, ist zweitens der Weg frei für eine Beschleunigung und Radikalisierung dessen, was Zerstörung des Alten und nur in Umrissen Durchsetzung von etwas Neuem ist.
Dabei verkennt die übliche Protestrhetorik den grundlegenden Sinn in der Verwendung des Reform-Begriffs. Selbst wenn man Reformen mit „Verbesserungen“ übersetzt, handelt es sich bei allem, was in die Agenda eingegangen ist, was sie flankiert und was im Weiteren daraus hervorgehen wird, durchaus um ein Reformprogramm: Verbesserung der Verwertungsbedingungen des Kapitals, nicht allein durch eine wie auch immer messbare Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der lohnabhängigen Menschen, sondern zuallererst durch eine allgemeine Verunsicherung dessen, was überhaupt als angemessene Existenzbedingung hier zu Lande gelten soll und darf. So wirkt sich der programmatische Effekt derzeit stärker aus als der unmittelbar praktische – denn es handelt sich in erster Linie um einen Kampf um die Köpfe der Menschen.
Es war eine Frage der Zeit und damit des passenden Augenblicks im Gefolge des parlamentarischen und Regierungsgeschäfts, wann es zu diesem Frontalangriff kommen würde, den Regierungen zuvor vermeiden mussten oder – wenn sie ihn zu wagen können glaubten – daran letztlich gescheitert sind (wie zuletzt die Kohl-Regierung). Während die Geschichte der sozialpolitischen Angriffe und wirtschaftspolitischen Umschichtungen seit mehr als zwanzig Jahren sich als eine Geschichte von Einkreisungen, Zerfaserungen, wechselnden Bündnisversuchen mit diesen oder jenen Kerngruppen aus der Mitte der Gesellschaft darstellt, ist nunmehr offenbar ein Zustand erreicht, in dem der Frontalangriff nicht nur notwendig, sondern auch möglich geworden ist.
Angriff – worauf? Letztlich erfüllt sich das alte, seit Ende der sechziger, spätestens zu Beginn der achtziger Jahre aufgelegte Programm zur Niederkämpfung dessen, was Konservative hier zu Lande die Anspruchsinflation genannt haben. Wobei man hinzufügen muss, dass das, was jeweils unter Ansprüchen von denen Einen angeklagt und den Anderen eingeklagt wurde, sich von Mal zu Mal auf niedrigeres Niveau begeben hat. Aus den überschüssigen Bedürfnissen, die sich explosiv in den Revolten der sechziger und frühen siebziger Jahre artikulierten, wurden mit der Zeit, in der langen Weile, sozialstaatsbürgerliche Basisbanalitäten. Mit dem Niveauverlust der Ansprüche auf öffentliche Wohlfahrt näherten sich die Angriffe auf diese Ansprüche auf Dauer immer näher Kernpunkten dessen, was den so genannten Konsens im Westdeutschland der Nachkriegszeit ausgemacht hat – dem Wesen nach ein historischer und dadurch umkämpfter Klassenkompromiss. Den Abschied vom Rheinischen Kapitalismus ist diverse Male seit 1989 erklärt worden, doch ihn auch vollständig zu vollziehen, bedeutet den drakonischen Eingriff in die Lebensbedingungen aller, also jedes Einzelnen.
Noch Mitte der neunziger Jahre hatte die damalige Kohl-Regierung einen ähnlichen Versuch unternommen: mit Hilfe des damals so genannten Sparpakets, das, wie später die Agenda 2010, die Ärmsten ärmer machte, die Drangsalierung durch Arbeits- und Sozialämter vorantrieb, aber in einem Punkt einen bis dahin lange nicht mehr gekannten Widerstand entfachte. Erstmals seit zwanzig Jahren kam es wieder zu wilden Streiks in der Industrie. Die Lehre daraus sollten die Konsensgespräche mit Verbänden und Institutionen sein, Schröder erhob dieses Konsultati-onsverfahren – abseits der öffentlichen beziehungsweise gesetzlichen Gremien von Parlamenten und Regierungen – zum Regierungssystem. Und scheiterte damit spä-testens mit dem endgültigen Zerbrechen des Bündnisses für Arbeit Anfang 2003. Erst darauf hin reklamierte die Politik in Gestalt des in die Enge getriebenen Kanzlers ihr Primat gegenüber nur korporativen Interessen und ebnete so auch den Weg für eine de facto Große Koalition. Und darin können die Konservativen nur in dem Maße Rot-Grün vor sich her treiben, wie sie sich vom Rest sozial-katholischer Harmonielehre befreit haben. Die Demontage Norbert Blüms, immerhin der letzte Arbeitsminister vor Rot-Grün, zum Sozial-Clown eines CDU-Parteitages ist eine, freilich viel sagende Fußnote zum allgemeinen Systemwechsel bürgerlicher Politik.
So weit zu den taktischen Konjunkturen der parlamentarischen und Parteienlandschaft. Staunen und den Schrecken hat die Entschiedenheit ausgelöst, mit der diese Allparteienkoalition sich so gut wie aller Normen und Maßstäbe, an denen sie sich früher hatte messen lassen wollen oder müssen, entledigt hat. In diesem Fall ist wieder einmal das Bewusstsein weiter als das Handeln und greift diesem vorweg, Und der nicht zu bestreitende Erfolg der schon lange erprobten Gehirnwäsche lässt sich an der passiven wie skeptischen Hinnahme durch große Mehrheiten ablesen. Das Geheimnis dieses Erfolges liegt eben darin, den Menschen nicht mehr die Vision eines großen, sichernden und gesicherten Ganzen eines wie auch immer gear-teten Gemeinwesens vorzugaukeln. Der Erfolg liegt in der Negativität dieser Vision – durch eben jenen Frontalangriff, der zuallererst jedem angeblichen Partikular-interesse gilt. Dies alles im Namen einer „Gemeinschaft“, die es nicht gibt. Folglich geht es um die Konstituierung eines neuen Allgemeinwohls aus einer neuen Gemeinschaftsidee, die in den Auseinandersetzungen, auch mit Protesten und Wi-derstandsaktionen, heraus entsteht. Der Protest ist einkalkuliert, wie jedes bonapartistische Projekt lauern die Agenda-Parteien regelrecht auf jede Artikulation partikularer, korporativer Interessen.
Das schwächt im Ansatz die vorhandenen, sich nur langsam entwickelnden, Proteste und macht aus dem von Linken allzu schnell proklamierten sozialen Widerstand einen euphemistischen Propagandatrick. Der Protest wird doppelt konfrontiert – zum Einen mit der Entschiedenheit, das nicht mehr klar zu definierende Gemeinwohl dadurch wieder definitionsfähig zu machen, indem jeder Protest niedergebügelt wird als erwartete korporative Klage; zum Anderen aber auch mit der Aufkündigung jener Normen und Maßstäbe, anhand derer der soziale Protest die Regierenden misst. Symptomatisch dafür ist die Bereitschaft eines Teils der Sozialdemokratie, selbst auf ‚soziale Gerechtigkeit‘ als identitätsstiftende Floskel zu verzichten. Dem abstrakten Allgemeinwohl der Herrschenden tritt der Protest entgegen unter Berufung auf ein ganz anders geartetes Allgemeinwohl – es wird um einen Dialog gerungen, wo schon längst der Antagonismus die Diskurse radikal und unvermittelbar trennt. Man fordert das miteinander Reden ein und hat sich doch nichts mehr zu sagen.
Also geht es in erster Linie nicht um die bessere Methode, den Protest lediglich zu steigern und durch die immer gleichen Aufrufe von neuem zu intensivieren. Es geht vielmehr um die Maßstäbe und Ziele des Protestes selbst – nicht allein um den Grad, sondern um die Qualität der Ansprüche, die fürs eigene Leben und das der Anderen erhoben werden. Wenn aus Sicht der Herrschenden die Geschäftsgrundlagen des früher hoch gelobten sozialen Konsenses hinfällig geworden sind, hängt die Antwort auf die Frage, wann und wie aus Protest auch Widerstand wird, entscheidend davon ob und wie weit eine soziale und politische Opposition sich auf eigener Grundlage entfaltet. Es geht nicht um die rein formale Autonomie, um die Unabhängigkeit von Parteien und anderen Institutionen, sondern um programmatische Selbstbegründung – und damit die Fähigkeit, sich selbst als soziale und politische Gegenmacht zu konstituieren.

II. Armut und Reichtum

Wenn es stimmt, dass vorrangig so gut wie jeder Anspruch, der in Richtung auf eigene Entfaltungsmöglichkeiten zielt, in Abrede gestellt werden soll, dann erfüllt sich der Sinn der sozialpolitischen Misere vor allem darin, dass sich die Menschen fortan fortlaufend nur noch mit ihrer ökonomischen Lage beschäftigen sollen. Die fortdauernde Beschäftigung mit der eigenen „Notdurft“ macht die Menschen nicht weniger erfinderisch als sonst, aber sie werden all ihre Fantasie, ihren Willen und sogar ihre Kreativität für das Aufspüren von Nischen, Ecken und allerlei Schein-chancen aufwenden müssen. Eine Gesellschaft, die weltweit am eigenen Reichtum regelrecht zu ersticken droht, wird in einen Zustand ständiger Armutsverwaltung versetzt. Reichtum und Armut sind eben nicht allein daran zu messen, wie Wert verteilt ist, sondern wie sich wertmäßiger und stofflicher Reichtum zueinander verhalten. Vor allem aber, wie sich gesellschaftlicher Reichtum in den objektiven Möglichkeiten einer Gesellschaft darstellt – oder eben unsichtbar macht beziehungsweise unsichtbar gemacht wird.
Neben der Armut an materiellen Lebensmitteln gibt es nicht nur die relative Armut gemessen am wertmäßigen Reichtum, sondern auch die objektive Armut durch Trennung von den wesentlichen „Mitteln des eigenen Tuns“[1]. Letzteres, die objektive Armut, wird nicht erst unter den Regimen von Neoliberalismus und New Labour als Luxus-Thema abgewiesen, es galt schon zuzeiten, als hartnäckig nach-denkende Marxisten den Begriff als Aufdeckung eines historischen Skandals auf-brachten, als diskreditiert – als Zynismus gegenüber jenen, die arm an Lebensmit-teln sind. Zu Unrecht, wie sich wieder einmal heraus stellt. Denn, würde die Linke selbst eine Hierarchisierung des Elends weiter betreiben, brächte sie die Elendsten gegen die Elenden in Anschlag. Sie käme nirgendwo auf den Punkt, an dem die beschädigten Subjekte im neuesten Kapitalismus den Sprung aus der eigenen Mise-re finden können. Sie tut es auch heute nicht, sie bleibt stecken im Diskurs einer Verteilungsgerechtigkeit, ohne den Zusammenhang von Verteilungs- mit Aneignungsgerechtigkeit her zu stellen. Gesellschaftlicher Reichtum wird so zu einer Redeweise, einem Formelkompromiss, der die wirkliche Armut erneut ins Unsichtbare treibt.
Um dem Problem der objektiven Armut näher zu kommen, kann und darf man durchaus mal die Alten bemühen, in diesem Fall mal wieder Marx und Engels: „Diese `Entfremdung’ [...] kann natürlich nur unter zwei praktischen Voraussetzungen aufgehoben werden. Damit sie eine `unerträgliche’ Macht werde, d.h. eine Macht, gegen die man revolutioniert, dazu gehört, dass sie die Masse der Menschheit als durchaus eigentumslos’ erzeugt und zugleich im Widerspruch zu einer vorhandenen Welt des Reichtums und der Bildung, was beides eine große Steigerung der Produktivkraft, einen hohen Grad ihrer Entwicklung voraussetzt – und andererseits ist diese Entwicklung der Produktivkräfte (womit zugleich schon die in weltgeschichtlichem, statt der in lokalem Dasein der Menschen vorhandene em-pirische Existenz gegeben ist) auch deswegen eine absolut notwendige praktische Voraussetzung, weil ohne sie nur der Mangel verallgemeinert, also mit der Notdurft auch der Streit um das Notwendige wieder beginnen und die ganze alte Scheiße sich herstellen müsste ...“[2]
Oft zitiert und fast genau so oft missbraucht, zielt diese These auch auf die wesentliche Unterscheidung des Reichtums vom Notwendigen. In der Unterscheidung zur „alten Scheiße“, zur ökonomischen „Notdurft“ der Individuen, weist die These hinaus auf den Überschuss, das Überschüssige und damit auch den Über-Fluss als reiner Verausgabung, wie er als objektive Möglichkeit in dem zur Weltgesellschaft gewordenen Kapitalismus existiert, jedoch in der Akkumulations- als Verwertungskrise systematisch verborgen wird. Gegen diese fast schon eiserne und notwendige Logik, den Überfluss systematisch zu kanalisieren, sogar unter Umständen auch zu stauen, um ganze Landstriche ebenso systematisch auszutrocknen, helfen Parolen wie „Es ist genug Geld da“ nur wenig, eigentlich gar nichts. Weil es nicht ums Geld geht, das aus guten – weil kapitalistischen – Gründen zurzeit nicht in Produktion, sondern in Geld (auf Finanzmärkten) angelegt wird. Und weil die reine Verteilung oder Umverteilung von Geldmitteln zwar der Armut an Lebensmitteln entgegen wirken würde, der objektiven Armut aber nicht.
Wenn es aber darum geht, den Überfluss – und damit auch die Quelle eines möglichen, ganz anderen Zufließens von Mitteln zum Leben – unsichtbar zu machen, was wird dann in diesem Unsichtbaren verborgen? Ziehen wir dazu einmal nicht die Klassiker, sondern einen hellen Kopf unter den Außenseiter, zu Rate. Georges Bataille hat die Unterscheidung von zwei Prozessen menschlicher Tätigkeit vorgeschlagen, die man, freilich anders artikuliert, auch bei Marx finden kann: zum Einen den Prozess der Produktion und Reproduktion, soweit es sich um „den für die Individuen einer Gesellschaft notwendigen Minimalverbrauch zur Erhaltung des Lebens und zur Fortsetzung der produktiven Tätigkeit handelt“[3] und zum Anderen einen Bereich explizit unproduktiver Tätigkeiten. Für letztere führt Bataille völlig heterogene Verweise an: Luxus, Theater, Spiele, Künste et cetera. Diese lassen sich darin zusammenfassen darin, dass sie „ihren Zweck in sich selbst haben“. Bei André Gorz findet man das später als „autonome Tätigkeiten“ wieder, bei Bataille ist aber radikaler formuliert – als Verzicht auf jedes Kriterium gesellschaftlicher Nützlichkeit, als unbedingtes Recht auf den Schreckens jedes Ökonomen: Verschwendung. „Der Hass auf die Verschwendung ist der Daseinsgrund und die Rechtfertigung der Bourgeoisie; er ist zugleich der Grund für ihr abscheuliche Heuchelei“.[4]
All dies wäre abstrakte Akrobatik absonderlicher Geister oder bloß das poetische Aufflammen eines einsamen Herzens, hätte es nicht historische Augenblicke gegeben, in denen der Zugriff auf das Ganze des objektiv Möglichen für einen Moment erfahren wurde. Eben nicht in der objektiv armen staatssozialistischen Vision eines optimierten Generalcomputers, in dessen Mikroprogrammen alle planwirtschaftlichen Steuerungen des gesamten „Systems der Bedürfnisse“ gespeichert wäre. Eben nicht als System der Nützlichkeit, des rein rationellen Bezugs des Einen auf den Anderen – nicht auf der Basis des viel bemühten Win-Win-Kalkül. Sondern tatsächlich als System scheinbaren Unsinns, in dem auch die Lust an der Zerstörung (zumindest als Lust an der Verausgabung und Verschwendung) eine schöpferische ist. Darin besteht die Singularität jener historischen Bewegungen, der Revolten, die unter dem Label ’68 gleichermaßen mystifiziert wie systematisch denunziert worden sind. In ihren besten Artikulationen brachten diese Revolten genussvoll eben jenes Chaos ökonomischer Nichtverwertbarkeit, jene Ununterscheidbarkeit von kreativem Drang, sich zu entfalten, und dem nicht weniger kreativer Drang zur Zerstörung hervor. Dazu gehörte und gehört schließlich auch – abseits der traditionellen politischen Wege – in stiller oder fröhlich lauter Vehemenz die Muße, die Kontemplation oder auch schlicht die Lust am Sinn des Unsinns. Man hat das als luxuriösen Hedonismus denunziert, so, wie drangsalierte Arme, aus zwar nachvoll-ziehbaren, aber nicht guten Gründen, den Überfluss der Reichen als Müßiggang zu allen Zeiten an- und beklagt haben. Singulär, weil im historischen Maßstab regelrecht einzigartig, war aber eine Situation, in der jener „Hedonismus“ oder „Luxus“ gesellschaftlich als universelle Idee und Praxis zirkulierte.
Jenseits von Nostalgie und bloßer Erinnerung an verlorene oder ausgebliebene Kämpfe, ist die Erfahrung von ’68 durch die bislang einzigartige Begegnung objektiver Möglichkeiten und subjektiv wahrgenommener Chancen gekennzeichnet. Chancen, die ergriffen und wieder fallen gelassen wurden. Und deshalb ist diese Erfahrung – entgegen allen rationalisierenden oder verkitschten Erlebnistexten damaliger Protagonisten – dem Wesen nach eine poetische Erfahrung. Der schein-bare soziale Irrsinn dieser Poesie vertrug sich durchaus mit grundlegenden, aber eher pragmatischen Veränderungen und Verschiebungen innerhalb dessen, was man „Lebenswelten“ nennt. Was heute davon noch reklamiert wird als „Reformpotenzial“, das sich in einer weit greifenden Reformpolitik, die weniger als eine Handvoll Jahre Bestand hatte, niederschlug, ist dagegen nichts anderes gewesen als die Rückführung überschüssiger Verausgabung in das Räderwerk einer Haushaltslogik, die dann alle überschüssigen Energien wie ein Schwamm in sich aufnahm, um sie bald wieder aussscheiden zu können.
Es blieb jener langwierige, regelrechte Kulturkampf um das, was man damals Lebensqualität nannte und was sich zuallererst an zweierlei festmachte: Verkürzung der Arbeitszeit und Vermehrung des so genannten Soziallohns. Wie auch immer konterkariert durch Kapitalstrategien zur Intensivierung der Arbeit, waren und sind die Ausdehnung der „disponiblen Zeit“ sowie das Abtrotzen oder auch der kampflose Zugewinn von Soziallohn Kennzeichen und Kennziffern eines Zugewinns an individuellen Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten. Es ist nicht wahr, dass diese Spielräume vom Eigensinn der Einzelnen nicht genutzt worden. Im Gegenteil, zum Alptraum marktliberaler Geister wurde der enge Zusammenhang kollektiver Absicherung unmittelbarer Lebensbedingungen mit jenen Prozesse, die man „Individualisierung“ nennt. Entgegen den postmodernistischen Soziologien ist die so genannte Individualisierung ganz und gar ein Kind der öffentlichen Wohlfahrt in der Blütezeit des so genannten Fordismus.
Die, sicherlich überwiegend ganz privaten, doch massenhaften Emanzipationsbiografien Einzelner haben darin ihren materiellen, gesellschaftlichen und politischen Grund. Es wurde jener Zustand radikalisiert, den John Holloway so schön als „Eindringen des Pöbels in das Geld“ beschrieben hat [5]. Der Überfluss war kenntlich geworden, er war nicht massenhaft genutzt worden zur Umkehrung seiner gesellschaftlich herrschenden Form, aber innerhalb und im Rahmen dessen, was als öffentliche Wohlfahrt fungierte, wurde die Wohlfahrt auch in Anspruch genommen – und das in für den Staat des Kapitals schmerzlichem Ausmaß.

III. Reformen gegen den Reformismus

Die Geschichte der Gegenangriffe und der Strategien der Gegenreform füllt Bücher. Westeuropa war gewiss nicht der einzige Brennpunkt damaliger Kapitalstrategien, aber die dortigen Klassenkampfverhältnisse und die Subversion durch Anspruchsinflationen – „Wir wollen alles!“ die Einen, die Anderen: „Wir wollen mehr, viel mehr!“ – machte aus Westeuropa den Kampfplatz für einen sozialen Feldzug, dessen exemplarische Konfrontation jedoch nicht in Westeuropa, sondern zuallererst in Chile 1973 ausgetragen wurde. Die Einzigartigkeit der chilenischen Erfahrung lag in der Anomalie einer höchst entwickelten „klassischen“ Klassenkampfsituation nach Art des in Europa entwickelten kämpferischen Reformismus, aber in einem Land der so genannten Dritten Welt, in Lateinamerika. Diese Klassenkampfsituation war nicht nur exemplarisch für die Ängste der Herrschenden angesichts einer massenhaften Bewegung für eine sozialistische Transformation, sondern auch für die strategische Orientierung der sozialistisch-reformistischen Arbeiterbewegung in Westeuropa. Die Parallelität beziehungsweise das Exemplarische der chilenischen Erfahrung ist damals vielen durchaus bewusst gewesen. Und der Putsch im September 1973, die offen zu Tage tretende Aggressivität und Brutalität in der Niederringung proletarischer Widerständigkeit war auch Anlass für strategisch-taktische Wendungen andernorts, so in Italien in der Hinwendung der Kommunistischen Partei zur Strategie des „historischen Kompromisses“. Rossana Rossanda, die kommunistische Kritikerin der Kommunistischen Partei, sprach dann später von Westeuropa als einem `schleichenden Chile‘. Kein Zufall, dass das Pinochet-Regime zur ersten Heimstätte der monetaristischen Wilden, der so genannten Chicago Boys aus der Schule der Nobelpreisträgers Milton Friedmann, wurde.
Die Programmatik möglichst radikaler Reformen – gegen den Reformismus – hat sich aber schon lange vor der explosiven Revolte rund um `68 heraus artikuliert. Diese Revolte stellte ja eher den Zenit eines Eindringens „des Pöbels“ dar, sie erntete auf verrückte Weise die Früchte der kämpferischen Klassenintegration – und entfaltete dabei die Dialektik eines Ausbruchs und Aufbruchs aus dem Innern des Kapitals in ein ganz anderes „Reich der Freiheit“ als das der „Vollbeschäftigung“. Die Programmatik des später so genannten Neoliberalismus fußte auf dem Widerwillen und der begründeten Skepsis gegenüber den politischen, sozialen und ökonomischen Kosten der staatlich regulierten Integration der Arbeiterklasse. Darauf hat John Holloway hingewiesen „Die Probleme, die sich für das Kapital aus diesem Entwicklungstyp ergeben, wurden in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts deutlich. Die ständige Ausweitung des Kredits führt vor allem zu einer Schwächung der Disziplin des Marktes, zu einer Schwächung der durch das Wertgesetz auferlegten gesellschaftlichen Disziplin. Der Aufschub oder die Modifikation der Krise führen zum Überleben unrentabler Kapitale und, was aus der Sicht des Kapitals noch schlimmer ist, zum Überleben unrentabler und aufsässiger Arbeiter.“[6] Insofern stellte sich die beklagte Anspruchsinflation nicht nur als politischer Legitimationsdruck diverser Reformregierungen her, sondern durchaus als unmit-telbar wirkender ökonomischer Faktor: „Die Insubordination des Lebens“ drang „als chronische finanzielle Instabilität in das Zentrum des Kapitalismus“ ein.[7]
Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, dass der Keyensianismus als entwickelteste Form, in der „der Pöbel in das Geldverhältnis“ hinein geriet, eine rationelle Antwort der Herrschenden auf die Krise des Kapitalismus war. Der Keynesianismus war genau so wenig wie seine Feinde aus den Schulen der Neo-Klassik und des Monetarismus eine rein ` ökonomische Politik’, sondern ebenfalls bürgerliche Klassenpolitik. Allerdings war er äußerst druckempfindlich gegenüber auch nur schwächeren Regungen des „Pöbels“. Die Blütejahre der Reformen waren auch die Geburtsjahre der Gegen-Reformen: begonnen als Triumph eines Keynesianismus der Arbeiterbewegung, endeten sie als Auftakt zur groß angelegten Austeritäts-Strategie. Westdeutschland kennt für diese Entwicklung zwei Protagonisten: Willy Brandt Anfang der siebziger Jahre, mit seiner Erklärung, man ginge nun über „von Reformen zu Reformen, die nichts kosten“; und auf ihn folgend Helmut Schmidt als Botschafter der Austerität. Kohl fand dann das Wesentliche vor.
In diesen Debatten und politischen Auseinandersetzungen spielen die Staatshaushalte eine doppelte Rolle: Zum Einen sind sie Indikator eines gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses und damit Drehkreuz für jeden Richtungswechsel der kapitalistischen Entwicklung als gesellschaftlichem Klassenverhältnis. Zum Anderen sind sie auch – gerade in der Logik des „Sozialabbaus“ – unverzichtbares Steuerungsinstrument, eine ganze Apparatur von Stellschrauben, für eben jene Richtungsentscheidungen. Den gesamten Prozess der Niederringung von individuellen Entfal-tungsansprüchen aufs Niveau einer halbwegs gesicherten Sozialhilfe fand im Wesentlichen auf drei Felder statt: Zum Ersten in der politischen Repression, der Kriminalisierung so gut wie jeder radikalen Kritik. Zum Zweiten in der unmittelbaren Konfrontation in exemplarischen Kämpfen –praktisch und symbolisch hierfür der britische Bergarbeiterstreik 1984/1985. Zum Dritten in der international konzertierten Aktion zur Schleifung aller Festungen des Reformismus, der nationalstaatlichen Wohlfahrtssysteme. Das Europäische Projekt – vom Europäische Währungssystem bis hin zu den Maastricht-Abkommen – ist in diesem Geist geboren worden und der Logik dieser international angelegten Strategie verpflichtet.[8]
Es wäre ein grundlegender Irrtum, diese großen Anstrengungen der herrschenden Politik nur auf imaginären oder reale Gefahren einer inneren Revolutionierung des „Pöbels“ zurückzuführen Es ging und geht primär nicht um die Niederhaltung einer subversiven Bewegung zur verschwenderischen „Aufhebung der Ökonomie“. Es ging und geht statt dessen um die immanente Verschiebung des sozialen Kräfteverhältnisses, um die Niederringung dessen, was die Ökonomie des Reformismus ausmacht. Um diese Ökonomie zu erklären und sie auch von dem gewöhnlichen gewerkschaftlichen Geschäft zu unterscheiden, muss man sich vergegenwärtigen, was die Besonderheiten der Arbeitskraft und ihres Wertes sind. Wenn nämlich stimmt, was Marx heraus gestellt hat, dass der Wert der Ware Arbeitskraft zu einem nicht unerheblichen Ausmaß eine historische und moralische Variable darstellt, dann besteht die Ökonomie des Reformismus keineswegs nur aus der – zwangsweise auch konfliktorisch – herbei zu führenden Angleichung des Preises an den Wert der Arbeitskraft. Genau dies ist das, mehr oder weniger erfolgreiche gewerkschaftliche Geschäft. Der Reformismus zielt darüber hinaus – auf die Durchsetzung einer Wertsteigerung der Ware Arbeitskraft mittels einer kämpferischen Durchsetzung historisch-moralisch legitimer Ansprüche auf ein Mehr an Quantität und Qualität der „notwendigen Lebensmittel“. Genau dies liegt der Ökonomie des Reformismus zu Grunde und kann zu einem gewissen Grad auch dessen Handlungsspielräume erklären – diese als notwendige, keineswegs hinreichende Bedingung von Emanzipation.
Damit wird vielleicht deutlicher, weshalb selbst zu Gunsten eines neuerlichen Richtungswechsels im Kapitalismus erhebliche Kampfanstrengungen erforderlich sind – Anstrengungen, die sich auf mehr beziehen als auf soziale und ökonomische Rahmen- wie Haushaltsdaten, sondern auf das, was man einmal die „moralische Ökonomie“ der subalternen Klassen genannt hat. Nicht als bloße Idee, sondern als praktische, umstrittene wie umkämpfte Verhältnisse, beziehungsweise als gelebte und in „Lebenswelten“ antizipierte soziale Beziehungen zwischen Menschen; stellte und stellt diese „moralische Ökonomie“ den eigentlichen Kampfplatz, auch des heutigen Geschehens dar.

IV. Repressive Integration

Was als Neoliberalismus die gesellschaftliche und weltpolitische Bühne betreten hat, kam mit einem gut sortierten und im Übrigen auch sehr übersichtlichen Hand-werkskoffer daher. Seine Schwäche aber bestand und besteht eben in dieser Über-sichtlichkeit, in der grobschlächtigen Weise, in der das Soziale abgewiesen wird ins Reich quasireligiöser Mythologien von Weltverbesserern. Besser als Margret Thatcher hat dies niemand sonst aus den Reihen der Neoliberalen auf den Punkt gebracht: „So etwas wie Gesellschaft gibt es eigentlich nicht“. Sicherlich tauglich als Kampfprogramm zur Niederringung der Ökonomie des Reformismus und damit zur Verjagung „des Pöbels aus dem Geldverhältnis“, lag und liegt die Schwäche des reinen Marktradikalismus in dem reinen Verjagen, dem Ausschließen – und damit auch dem drohenden Verlust an Kontrolle über die zunehmend kritische Masse der Atomisierten und Marginalisierten. Die gewollte Desintegration des so genannten sozialen Konsenses als common sense einer ungeschriebenen Verfassung mündete nicht von sich aus in einem neuen hegemonialen Projekt. Auch wenn der Vergleich nur bedingt zulässig ist, so kann man an die frühen kapitalistischen Unterwerfungsstrategien erinnern, die ja nicht nur die brutale Trennung der Menschen von „ihren“ Produktionsmitteln bedeutete – zur Freisetzung freier Lohnarbeiter – sondern darüber hinaus eine regelrechte Inhaftierung im Produktionsprozess mit sich brachten. So im System der „Arbeitshäuser“ oder anderer Anstalten der frühen repressiven Integration ins Kapitalverhältnis.
Die Architekten der „Arbeitshäuser“ des ausgehenden Zwanzigsten und beginnenden Einundzwanzigsten Jahrhunderts hat man deshalb auch nicht im Lager ausgewiesener Neoliberaler, sondern unter deren Kritikern zu suchen. Darin liegt auch das Geheimnis, warum es die Sozialstaatsparteien par excellence – die der Sozialdemokratie – waren, die eben jene Umwertung der Werte am deutlichsten in Gang und zu Stande brachten, deren Ergebnis in Plattformen wie der Agenda wiederzufinden sind. Ein Schlüsseltext zum Verständnis jener Transformation ist „Der Dritte Weg“ von Anthony Giddens geworden: „Vielleicht könnte das zentrale Motto der neuen Politik so lauten: Keine Rechte ohne Verpflichtungen. Der Staat hat ein Bündel von Verpflichtungen gegenüber seinen Bürgern und anderen Menschen, unter anderem den Schutz der Schwächeren. Die Sozialdemokratie alten Stils neigte dazu, Rechte als unbedingte Ansprüche zu behandeln. Mit der zunehmenden Individualisierung sollte eine Zunahme der Verpflichtungen des Einzelnen einhergehen.“[9] Die Formel, wonach es keine Rechte ohne Verpflichtungen gebe, klingt eingängiger, als sie in Wahrheit ist. Denn im Kontext mit den „unabdingbaren Ansprüchen“ zielt die Gegenüberstellung von Rechten und Pflichten auf jenes – freilich historisch und moralisch mal größer, mal kleiner bestimmtes – Areal an so genannten Grundrechten. Genau diese sind „unabdingbar“ und es macht eben die Eigenart von Grund- und Menschenrechten aus, dass ihnen keinerlei Pflichten gegenüberstehen. In ihrem Essay über den „Terror der Ökonomie“ hat Viviane Forrester dies polemisch zugespitzt in der Frage, ob man sich das Recht zu leben erst zu verdienen habe.
In den Geist von New Labour und neuer Sozialdemokratie eingegangen sind ursprünglich merkwürdig abstrakt geführte Debatten über das, was Gerechtigkeit und ob sie überhaupt bestimmbar sei. Debatten, die seit Jahrzehnten das akademische Denken vorwiegend in angelsächsischen Ländern beherrscht haben – und zwar im sich mehrfach überkreuzenden Streit zwischen den „Liberals“ und den so genannten „Kommunitariern“. Nachzulesen ist dieser historische Streit in vielen langweiligen Büchern, aber man muss diese Langeweile durchstehen, um hellsichtig und hellhörig auf das Schicksal des Wörtchens Freiheit zu achten. In seinen feinen Varianten kam der Kommunitarismus als sozialdemokratische, linke Kritik des Neoliberalismus daher – und das ausgerechnet unter Berufung auf eine linke Tradition des Freiheitsbegriffs: jener Unterscheidung positiver Freiheit („Freiheit zu“) von lediglich negativer Freiheit („Freiheit von“). Während Erzliberale zu allen Zeiten heftigen Protest dagegen eingelegt haben, Freiheit anders denn als rein negative zu bestimmen, verlegte dieser feinsinnig linke Kommunitarismus das Schicksal der Freiheit in das Schicksal der „Gemeinschaft“.
New Labour hat sich dieser „Gemeinschaft“ verschrieben und damit auch das Problem der gesellschaftlichen Exklusion in Angriff genommen – durch den ideologisch überhöhten abstrakten Gemeinschaftsgedanken, der überhaupt erst möglich macht, Pflichten auch gegen unabdingbare Ansprüche zu stellen. Den Neoliberalen – wie überhaupt dem Liberalismus – ist die Koexistenz von Polizeistaat und Marktradikalismus alles andere als fremd, aber das Fehlen jeder gesellschaftlichen Di-mension in den neoliberalen Konzepten hat erst die kommunitaristisch inspirierte neuen Sozialdemokratie wettmachen können. Man wolle eine Marktwirtschaft, aber keine Marktgesellschaft, hieß es im Schröder-Blair-Papier. Und Giddens, auf den dieses Papier maßgeblich zurück ging, hat mit dem „Dritten Weg“ die autoritäre „Inklusion“ gegen verwahrlosende „Exklusion“ gesetzt.
Deshalb ist nichts unzutreffender, als von einem stattfindenden oder drohenden „Abbau des Sozialstaates“ zu sprechen. Im Gegenteil, selten besaß der Sozialstaat eine derartige Präsenz, durchdrang er so weit gehend und mit derartiger Intensität wie heute alle Lebensbereiche – als fürsorgliche Belagerung und damit als unerlässliche, repressive Instanz zur Durchsetzung eben jenes Niedrigniveaus verbleibender „unabdingbarer Ansprüche“, das nach unten hin nur die Grenze durch Widerstand kennt. Damit werden aber auch die Freiheitsrechte nicht nur in Hinsicht auf individuelle Entfaltungsmöglichkeiten eingeschränkt, sondern gerade in ihrer historisch grundlegenden Form – als Abwehrrechte gegen den Staat, zusammengefasst im durchaus auch bürgerlich so verfassten „Recht in Ruhe gelassen zu wer-den“, der Grundform negativer Freiheit – angegriffen.
Überschritten werden auch die Grenzen zur früheren „repressiven Toleranz“. Diese gehört der Vergangenheit an, an ihre Stelle tritt eine bewusst auf Ressentiment bildende Mentalitäten zielende Sozialtechnik, die den Begriff der „Sicherheit“ in doppelter Weise transformiert: von der „sozialen“ zur „inneren Sicherheit“ – vice versa, von der „inneren“ zur „sozialen Sicherheit“. Es ist ein Regime der Prävention nicht existierender Gefahren, in deren Diffusität die konkrete, erlebte und befürchtete Drangsal eines schlechteren Lebens in einer systematischen Politik der Gefühle manipuliert wird. Bei Giddens, im parfümierten Ton des Sozialphilosophen, klingt das dann so: „Präventive Verbrechensbekämpfung und die Verminderung der Angst vor Kriminalität setzen beide die Erneuerung der Gemeinschaft voraus."[10] An die Stelle der liberalen Ideologie der `offenen Gesellschaft’ tritt nun die repressive Integration in eine Geschlossener Gesellschaft. Ausgerechnet ein alter Erzliberaler, Ralf Dahrendorf wies die neue Sozialdemokratie auf die Konsequenzen hin: „Dem Dritten Weg geht es nicht um offene Gesellschaft oder Freiheit. Er hat tatsächlich einen merkwürdig autoritären Anflug, und dies nicht nur in der Praxis.“[11]
Hier zielt die gesamte Entwicklung – hin zur repressiven Integration durch einen zunehmend aggressiv auftretenden, autoritären Sozialstaat – ins Herz dessen, was historisch zur Identität des sozialdemokratischen Reformismus gehörte: das Fest-halten an einer Vorstellung kollektiver Absicherung individueller Emanzipation, in der der Grad bürgerlicher Freiheiten – je nach Radikalisierungsgrad – nur über-, niemals aber unterschritten werden sollte. Was als „Demokratieproblem“ die Spaltungen der Arbeiterbewegung – der sozialdemokratischen von den stalinistisch-kommunistischen Richtungen – durchzogen hat, war im Kern dieses aufbewahrte und nirgends aufgehobene Freiheitsproblem. Lediglich die Bewegungen des libertären Kommunismus haben dem einen angemessenen Entwurf und in Ansätzen auch eine angemessene Praxis gewidmet. Damit erledigt sich die Sozialdemokratie selbst als früherer Repräsentant einer kollektiven Absicherung individueller Hand-lungs- und Entwicklungsmöglichkeiten. In diesem Kontext ist ein Begriff wie „Individualisierung“ nicht nur euphemistisch, sondern wird buchstäblich zur handfesten Zumutung.
So gibt „die Freiheit“ die Freiheit wieder frei. Und der Konflikt zwischen Gemeinschaftsdiskurs und einer nicht reduzierbaren Individualität wird neu und antagonistisch eröffnet. Während das, was durchaus, wenn auch in seinen Möglichkeiten begrenzt, Individualisierung gewesen war, an die Bedingungen eines entfalteten Wohlfahrtssystems gebunden war, kehrt sich der Begriff in sein krasses Gegenteil um: die Einzelnen als Vereinzelte im Klammergriff einer aggressiven und repressiven staatlichen Autorität. Die traditionelle sozialistisch-kommunistische Linke, aber auch die Erbverwalter der „neuen sozialen Bewegungen“ aus den siebziger Jahren können dem nur dann etwas entgegen setzen, wenn sie eben die nicht reduzierbare Individualität ins Zentrum ihrer eigenen Entwürfe einer neuen sozialen Bewegung und einer neuen Linken setzen.
Diese Aufgabe ist alles andere als leicht zu erfüllen. Die Freiheit der Freiheit besteht ja gerade darin, dass man sie nicht so ohne weiteres „in den Griff“ bekommt. Eine auf Solidarität zielende Bewegung und Programmatik eröffnet nicht selten spiegelbildlich einen Gemeinschaftsdiskurs, der die Singularität der Individuen, eben jene Nichtreduzierbarkeit der Individualität, dem Allgemeinen unterordnet. Es wäre zu leicht, dies allein dem traditionellen Kollektivismus der Sozialisten und Kommunisten zuzuschreiben: „Du bist nichts, die Partei (die Klasse) ist alles.“ Auch die „neuen sozialen Bewegungen“, insbesondere auf dem damals neuesten Politikfeld: der Ökologie, haben diese Vorherrschaft übers Individuelle mit in Gang gebracht. Man erinnere sich nur an den durchschlagenden Erfolg des „Prinzip Verantwortung“ von Hans Jonas, ein Buch, das von der ersten bis zur letzten Seite als Streitschrift gegen Ernst Blochs „Prinzip Hoffnung“ gerichtet war und so gut wie alles, was noch frei und kreativ-spontan den Individuen eigen ist, einem re-pressiven Rechtfertigungsdiskurs unterwarf.
Was es mit den Einzelnen und ihrem allgemeinen Wohl in Hinsicht auf die Freiheit auf sich hat, ist von Stephan Hermlin in seiner Erzählung „Abendlicht“ als Erfahrung seiner Lektüren des Kommunistischen Manifestes beschrieben und dabei auf den Punkt gebracht worden. Bis zu seinem fünfzigsten Lebensjahr hatte er das Manifest mehrfach gelesen, unter „den Sätzen, die für mich seit langem selbstverständlich geworden waren, befand sich einer, der folgendermaßen lautete: `An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung aller die Bedingung für die freie Entwicklung eines jeden ist.’ (...) Wie groß war mein Erstaunen, ja mein Entsetzen, als ich nach vielen Jahren fand, dass der Satz in Wirklichkeit gerade das Gegenteil besagte: `... worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.’“[12] Mit Marx – aber auch über Marx und den historischen Marxismus hinaus: Die Nichtreduzierbarkeit der Individualität anzuerkennen, heißt einen Zustand anzunehmen – und anzuerkennen –, in dem auch dem Vor-Sozialen Räume gewährt werden. Darin erfüllen sich die bürgerlichen Freiheiten nicht, sie sind aber nur darin wirklich aufgehoben, nicht abgeschafft.

V. Die innere Landnahme

Noch nie waren gesellschaftlicher Dissens und Konsens derart ineinander verschoben, überlagerten sich Unterwerfung und Protest wie heute. Die alten Akteure, die großen politischen Formationen, auch als Klassenformationen, sind von der Bühne verschwunden. Ihnen folgt alles, was als Institutionen der „Politik“ Rang und Namen und damit auch Geltung hatte. Geblieben und schmerzhaft wirksam sind die Antagonismen, eben jener „Klassenkampf ohne Klassen“, in dem die alten Lager verschwinden und aus dem heraus sich neue konstituieren. Was sehr früh die „Be-schädigung des Subjekts“ genannt wurde, setzt sich aber fort in einem Prozess innerer Landnahme durch das Kapital, sowohl als „Kolonisierung der Lebenswelten“ wie im Zugriff auf den `ganzen Menschen’: „Mit der Zeit dringen die Mauern des Irrgartens in die Person, die in ihm gefangen ist, ein. Die äußeren Begrenzungen werden zu inneren Definitionen, Selbst-Definitionen, Identifizierung, die Einnahme von Rollen, die die Existenz der Mauern derart voraussetzen, dass sie unsichtbar werden. Wenngleich niemals vollständig.“ (Holloway, S. 239) Um den letzten Satz aber geht es, um den Grad der Vollständigkeit einer Integration, die durch teils freiwillige, teils repressive Internalisierung vor sich geht – und damit um den Grad des Nichtreduzierbaren, Nichtintegrierbaren.
Die Geschichte der kapitalistischen Integration – und damit der kapitalistischen Vergesellschaftung der Individuen – ist nicht einfach eine Geschichte von wechselnden Bewusstseinszuständen, möglicherweise eine Geschichte des Siegeszug eines „falschen Bewusstseins“. Die Transformationen in den Köpfen und Seelen sind wirkliche Prozesse und kommunizieren die Transformationen in der sozialen Welt im Individuum. Man muss immer wieder an diese These der Kritischen Theorie erinnern: dass Ideologie als „verkehrtes Bewusstsein“ Bewusstsein in einer real verkehrten Welt ist. Wenn häufiger gesagt wurde, mit dem Sieg des Kapitalismus im Weltmaßstab käme der Kapitalismus „zu sich selbst“, trifft das auf den so genannten Zeitgeist genau so zu wie auf die materiellen Basisprozesse in Produktion und Reproduktion. Wer immer noch glaubt, aus der immanenten Entwicklungslogik des Kapitals – einer Logik von Produktivkraftentwicklung – erwachse ihm sein Totengräber, dann kann dies nur in der reinen Negativität stimmen. Und es kann darüber hinaus nur dann stimmen, wenn dem Prozess der „inneren Landnahme“ auch ein Widerstand aus einem „inneren Hinterland“ erwächst. Die Paradoxie liegt gerade darin, dass dieses „innere Hinterland“ zugleich jenes Reservoir ist, aus dessen Potenzen der Kapitalismus immer wieder seine Energien bezieht, eben jenes nichtreduzierbare Areal von Kreativität, Fantasie, von Bedürfnissen, die nur jen-seits einer Zweckbestimmung befriedigt werden können. Nur im Über-Fluss, in einer tatsächlich weit über das notwendige Maß des Sozialen hinaus gehenden Freiheit – Freiheit der völligen Verausgabung, sogar der Verschwendung – kann dieses Areal ausgeweitet werden. Eine freie Assoziation könnte daraus ihren Nutzen ziehen, jedoch nur bei Anerkennung seiner Nichtreduzierbarkeit, sogar seines nicht- oder vor-sozialen Charakters.
In der marxistischen Tradition kann man die gesamte Entwicklung hin zum Zugriff auf den ganzen Menschen als „reelle Subsumption“ unters Kapital bestimmen. Es geht aber heute lange nicht mehr um die Dualität einer Welt aus Produktion und Reproduktion. „Basisprozesse“, wie die der Integration durch Internalisierung, vermitteln alle gesellschaftlichen Sphären und müssen von ihrer Logik, nicht allein vom jeweiligen sozialen Einsatzort her, begriffen werden. Am deutlichsten wird dies in der Ökonomisierung sämtlicher sozialer Beziehungen, sozusagen der Außenseite der Verinnerlichung, was letztlich nichts anderes als die Unterwerfung aller sozialen – und darin auch zwischenmenschlicher – Beziehungen unter das Rentabilitätskriterium bedeutet. Gelungen ist dies durch die Implementierung von Marktbeziehungen auch dort, wo es keine „Märkte“ gab und gibt, in der Umwandlung von Produkten in Dienstleistungen und – vice versa – von Dienstleistungen in Produkten. Herunter gebrochen bis auf die banalste Arbeitsbeziehung, die früher noch definiert war und erfahren wurde als Kooperation zur Herstellung eines bestimmten Produkts, zieht dies eine Zerlegung der Arbeitsbeziehungen in Kunden- und Lieferantenbeziehungen nach sich. Dies ist keineswegs ein naturwüchsiger Prozess, sondern eine systematisch betriebene und sehr erfolgreich umgesetzte Unterwerfungs- und Einbindungsstrategie, deren Kern darin besteht, die Einzelnen unmittelbar mit (den) Marktbedingungen zu konfrontieren. Wo diese nicht erfahrbar sind, müssen sie hergestellt werden. „Den Markt an jeden Schreibtisch bringen“, heißt es in der Managersprache.
Beschrieben wurde dies vielfach als „neue Selbstständigkeit in der Arbeit“.[13] Eine Autonomie, die keine ist, also eine fremdbestimmte Selbstbestimmung oder selbstbestimmte Fremdbestimmung: weil der Unternehmer zwar Entscheidungen nach unten delegiert, dies auch als mehr Freiheit subalterner Einheiten vermittelt – in Wahrheit aber ist genau das Gegenteil „unternehmerischer Freiheit“. Denn es werden die so genannten Handlungs- weil Sachzwänge des „Marktes“ nach un-ten weiter gegeben. Entgegen den früher noch euphorischen Prognosen eines Zugewinns an Entfaltungsmöglichkeiten ist heute in großem Maßstab bekannt, dass dies nur hinaus auf „mehr Druck durch mehr Freiheit“ läuft. Das aber ändert zunächst nichts an dem Ausmaß, in dem die innere Logik dieses Prozesses so gut wie alles erfasst, was die sozialen und zwischenmenschlichen Beziehungen betrifft.
Auch das ist nicht naturwüchsig daher gekommen, sondern wird im großen Maßstab zum Politikmodell geworden – das des budgetierten Lebens. Ansprüche aus dem so genannten Allgemeinwohl müssen sich nicht nur im Staatshaushalt rechnen lassen, sondern in einem unendlich zerfaserten Netz privater und schließlich individueller Haushalte. Die aus großen Unternehmen und aus dem öffentlichen Dienst bekannten Modelle der Globalhaushalte – mit dann den unteren Einheiten zugewiesenen Budgets – werden zu Instrumenten einer gesellschaftlichen Globalsteuerung, die freilich jene „unternehmerische“ Verantwortung der Einzelnen fürs Eigene voraussetzen. Genau hierin verschränken sich die Transformationen in Produktion und Reproduktion und hier ergibt sich auch erst der Sinn des Zusammenwirkens von Marktbeziehungen und repressiver Gemeinschaftsintegration. Ob Bildung, Gesundheit, Wohnen oder unmittelbare Grundsicherung von Existenzbedingungen – alles wird strukturiert nach Budgets, durch zugewiesene „Gutscheine“, Leben auf Kredit, Arbeiten als Gemeinschaftsschuldner. Im Alltag findet die Seele keine Ruhe mehr vor dem pragmatisch unlösbaren Konflikt zwischen dem Zwang, sich, wie auch immer, unternehmerisch auf sich selbst zu beziehen, und der inneren Entlee-rung, wenn diesem Zwang nachgegeben wird. Und im gleichen Maße, wie die Rentabilitätsrechnung fürs eigene Leben akzeptiert ist, wird auch die Toleranz gegenüber einer Zunahme von Rentabilitätsopfern zunächst größer.
Die Ökonomisierung sozialer Beziehungen macht auf Dauer nicht jede Solidarität, jedoch eine bestimmte Form von Solidarität hinfällig. Die rein instrumentell bestimmte Solidarität, die auch mit bestimmend war für die Entwicklung der traditionellen sozialen Bewegung, der Arbeiterbewegung: dass man sich beistehen muss, weil man sich noch braucht. In der instrumentellen Solidarität sind die Rechte der Anderen durchaus nicht unabdingbar, ihre Anerkennung findet Grenzen an der Allgemeinheit der Interessen. Unabdingbare Solidarität dagegen ist die einzige Art des Beistehens, die mit jedem Kalkül, jedem rein instrumentellen Bezug auf die Anderen bricht. Wenn es noch ein Modell des Zusammenlebens, das der Diktatur der Rentabilität entgegen steht, gibt, dann kann es nur auf dieser unabdingbaren Solidarität beruhen und im Kern kann diese nicht aufs Allgemeine, sondern muss auf die Singularität der Individuen abzielen.
Selbst wenn man den Prozess der Internalisierung unternehmerischer Rentabilität als vollständig vollzogen annimmt – und es gibt gute Einwände gegen diese Annahme –, ist damit die Unterwerfung vollständig, sondern nur der Antagonismus von Landnahme und widerständigem Hinterland ganz ins Individuum hinein gelegt worden. Also vollziehen sich Unterwerfung und Protest, sogar Revolte und Repression, wenigstens zu Teilen schon im Innern der Einzelnen. Der unendliche Kampf im Klassenverhältnis des Kapitals – der Kampf um Abgewinnung, Abpressung von Verausgabung und Kreativität, von Renitenz, Positivität der Herrschaft und Negation durch Verweigerung – ist damit längst bestimmend geworden fürs Soziale im Individuum. Die Entfremdung ist konkret geworden, Niederschlag des „Ganzen“ in einer Standards abstrakter Individualität. Damit stellt sich auch das Problem der Verelendung auf eine Weise, wie es schon immer existierte: „Man muss auf den inneren Zusammenhang zwischen den Marxschen Begriffen der Ausbeutung und der Verelendung trotz späterer Neubestimmungen bestehen, bei denen die Verelendung entweder ein kultureller Aspekt oder derart relativiert wird, dass er auch ein Vorstadthaus mit Auto, Fernsehgerät usw. zutrifft. `Verelendung’ bedeutet das absolute Bedürfnis und die absolute Notwendigkeit, unerträgliche Existenzbedingungen umzuwälzen, und ein solches absolutes Bedürfnis erscheint in den Anfängen aller Revolution gegen die grundlegenden gesellschaftlichen Institutionen“. [14]
Vielleicht liegt es an diesem Realwerden des abstrakten Allgemeinen im Einzelnen, dass das frühere Leitbild von Emanzipation – das eines „neuen Menschen“, der in seiner „Ganzheitlichkeit“ Gesellschaftliches und Individuelles wie eine antike Schönheit in sich totalisierend vermittelt – seine Zugkraft verloren hat. Zu Recht, muss man hinzufügen, weil genau diese „Ganzheitlichkeit“ den Individuen tagtäglich abverlangt wird. Sogar eine ausgeglichene Bilanz beziehungsweise Balance zwischen Arbeit und Leben – in der inneren Haushaltsführung – wird neuerlich in Managementkreisen zur Selbstqualifikation erhoben. Zeitmanagement. Das Vervollkommnungsideal der alten Utopien verstärkt heute eher den Schrecken als die Hoffnung. In einer anderen, einer Gegenkultur wäre statt dessen auch etwas radikal Anderes ins Zentrum zu rücken: die Partikularität des „neuen Menschen“. An die Stelle einer Vervollkommnung fordernden Ganzheit träte die Anerkennung des Fragmentarischen, Unvollkommenen des ganzen Menschen.

VI. Eine andere Welt, ein anderes Leben

Wenn die Diagnose über das Ausmaß der inneren Landnahme und der daraus her-vor gehenden Korrespondenz von gesellschaftlichem Antagonismus und repressiver Integration stimmt, dann ist auch die Diagnose über die Perspektiven von Bewegung und Revolte gefällt. Sie sind auf allen Ebenen des Lebens zu suchen und jede politische Strategie der Machtentfaltung einer Gegenmacht muss und darf nur noch darauf beruhen, der Freiheit den Sinn unreduzierbarer Entfaltungsmöglich-keiten zu geben – wohlgemerkt nicht als abstrakte oder nur poetische Losung, die beliebig auf diese oder jene Situation „anzuwenden“ wäre. Sondern in der Herstellung konkreter Situationen, Erfahrungen, durchaus und unbedingt bei Beachtung der notwendigen Unterscheidung von alltäglichen Lebenszusammenhängen, einzelnen Biografien und den größeren politischen Entwürfen, Strategien und Experimenten.
In Hinblick auf das, was hier die Ökonomie des Reformismus – als Ausdehnung der Ansprüche auf „notwendige Lebensmittel“ – und in Bezug auf die subversive Ökonomie der Verausgabung – als Eröffnung von Räumen zweckfreien Tuns und Lassens – dargestellt wurde, gilt deshalb für die Perspektiven von Bewegung und Revolte, dass die alternative Gegenüberstellung von Reform und Revolte – und Revolution – wie auch von Politik und Anti-Politik, Macht und Anti-Macht eine falsche Konfrontation nach sich zieht. Die bescheidene Orientierung auf „Refor-men für uns“ hat selbst zur Voraussetzung, dass schon im Ansatz der Bruch mit der Logik des Systems vollzogen wird – denn es gibt diesen Richtungswechsel im Kapitalismus nicht ohne die Revolte gegen dessen Logik. Und der emanzipative Verweis auf „Anti-Macht“ und „Anti-Politik“, wie er von John Holloway in seinem neuen, schönen, weil guten Buch gegeben wird, führt einen, bleibt es nur bei diesem Verweis, auf das Feld eines imaginären Exterritorialismus gegenüber dem Staat und damit außerhalb eines gesellschaftlichen Verhältnisses, in dem alle existieren. Man kann den Staat als gesellschaftliches Verhältnis nicht von seinen Institutionen, seinen Apparaten trennen. Es ist ein fetischisiertes Verhältnis, ja, aber dieser Fetisch existiert real – und die Existenz der Menschen ist darin eingeschrieben.
Richtig aber ist, dass es keine emanzipative Politik geben kann. Und Linke, die in Bewegungen dieses Versprechen geben, haben ihre eigene Geschichte nicht begriffen: Auch eine radikale Linke kann in der „Politik“ nur negativ Bedingungen von Emanzipation schaffen: zu Gunsten kollektiver wie darin individueller Entfaltungsmöglichkeiten. „Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen“ – dies ist nicht nur dem Titel nach Frage und Aufgabe zugleich, wie sie John Holloway aus den Ereignissen und Prozessen der neunziger Jahre heraus für eine emanzipative Praxis formuliert hat. Aber Holloway geht von einer falschen Voraussetzung aus: „Das Wissen der Revolutionäre des letzten Jahrhunderts wurde besiegt. Aber es ist mehr als das: Unser Nicht-Wissen ist auch das Nicht-Wissen derjenigen, die begreifen, dass Nicht-Wissen Teil des revolutionären Prozesses ist“.[15] Wäre das Wissen der Revolutionäre des letzten Jahrhunderts besiegt worden, wäre diese Aussage gar nicht möglich. Vielmehr ist das Wissen der Revolutionäre des letzten Jahrhunderts zu großen Teilen noch gar nicht entdeckt – weil man sich noch immer zu wenig Mühe macht, dieses Wissen vom Standpunkt des Nicht-Wissens (und nichts anderes ist die Kritik, der Grundsatz des Zweifels in der Selbstreflexion) zu begutachten.
Anders als es die Sätze Holloways nahe legen, erscheint doch die erstaunliche Korrespondenz neuer auch internationaler Zusammenhänge sozialer Bewegungen mit der Wiederkehr einer radikalen theoretischen Kritik (die freilich aus dem Nicht-Wissen der Revolutionäre des letzten Jahrhunderts ihre Schlussfolgerungen gezogen hat) eher als Wiederaufnahme eines Gegenstandpunkts von Kämpfen, die – wie Holloway selbst schreibt – mehr sind als „reine Kämpfe-gegen“. Der Fortschritt von Emanzipation in Bewegungen ist sowohl Ergebnis wie Voraussetzun-gen dieser Bewegungen: Denn „die Erfahrung gemeinsamen Kampfes setzt bereits die Entwicklung von Verhältnissen zwischen Menschen voraus, die sich qualitativ von den gesellschaftlichen Verhältnissen des Kapitalismus unterscheiden“[16]. Das ist aber durchaus das Wissen von Revolutionären des vergangenen Jahrhunderts und davor gewesen.
Wenn es eine Erfahrung gibt, in die dieses Wissen eingeht, dann ist es der Doppelcharakter von Selbstorganisierung, von Autonomie und verändernder Praxis: dass sie zum Einen an Fronten kämpft, die sie selbst nicht gewählt hat, an den Schauplätzen eines aufgezwungenen Kampfes – so auch auf denen der „Politik“ – und zugleich schon in den eigenen, widerständigen Lebenswelten qualitativ andere Beziehungen entwickeln will und muss. Es gibt keinen Kampf ohne Feindberüh-rung und es gibt keine Feindberührung, von der man nicht die Spuren des Feindes von sich mit sich trägt. Die Macht – im Sinne von Staatsmacht – nicht übernehmen zu wollen, zieht zum einen noch lange nicht nach sich, den Staat unberührt zu lassen und sich seinem Terrain zu entziehen.
Zum anderen aber wird man die Staatsmacht nicht auflösen können, ohne sie in die Hände zu nehmen. Es ist nicht bloß „die Macht“, um die es geht – es geht um Herrschaft. Und beides ist nicht identisch. Obsolet und tatsächlich in das Reich der Vergangenheit gehören die Bilder von parteigeführten oder wie auch immer staatsbildenden Revolutionen, in denen sich die gesellschaftliche Gegenmacht zur Herrschaft über jedwede mögliche Gegenmacht entfaltet hat. All das kann getrost nicht nur zum Beantworten, sondern schon als Fragen den Menschen einer Zukunft, in der sich diese Fragen allein stellen können, überlassen bleiben. Entscheidend für die Gegenwart ist dagegen die Einsicht, dass die radikale Kritik viel beharrlicher auf einer scheinbaren Pragmatik – nämlich auf der Nähe zu den Individuen, ihrem Alltag und ihren verinnerlichten Antagonismen – bestehen muss. Und sie muss eben so beharrlich auf dem „Überschuss“ im Über-Fluss bestehen, sie muss einer Logik von Generationenverträgen widerstehen, die lediglich die Enteignung der gegenwärtigen Generationen legitimieren.
Die radikale Kritik hat zudem frühere Versöhnungsversprechen einer mit allen Freiheiten identifizierbaren Freiheit zurückzuweisen. Sie muss die Kunst – oder das Kunstwerk? – vollbringen, gleichzeitig die Ökonomie des Reformismus vor sich her zu treiben und zu jeder Zeit die weiter gehenden Ansprüche auf eine Kultur unabdingbarer Anerkennung geltend machen. Dies ist zugleich ein praktischer wie ein programmatischer Prozess, wobei die Kriterien, Normen und Maßstäbe vom Ausgangspunkt her – und dieser Ausgangspunkt ist tatsächlich der Ausgang all dessen, was uns Revolutionäre und Revolutionen des vergangenen Jahrhunderts hinterlassen haben – klar sind und klar sein müssen. Sind die Ziele in den Bewegungen nicht enthalten, sind die Bewegung nichts und die Ziele werden zu reinen Phrasen.
Vieles spricht dafür, dass die Bewegungen von heute – und dies weltweit und nicht nur in diesem oder jenem einzelnen Land – dem näher kommen, als es ihre ersten Artikulationen vermuten lassen. Jedenfalls ist es eine Praxis und weniger eine umständlich zu vermittelnde Theorie, die heutzutage etwas ermöglicht hat, was lange Zeit als vielleicht denkbar, aber nicht machbar erschien: ein neuer Universalismus, der dem Einzelnen wie den besonderen Interessen oder sogar Identitäten nicht entgegen steht, sondern diese erst durch gegenseitige Anerkennung hervor treten lässt. Man beginnt zu erkennen, dass Heterogenität nicht zwangsläufig Schwäche, sondern sogar einen Reichtum an sozialen Beziehungen bedeutet. In dieser Hinsicht sind die Gedankenübungen von Theoretikern über die „Vielheit“ oder „Multitude“ noch verkrampfte Profilierungsversuche. Als radikale Kritik müssen diese Überlegungen aber in die Selbstreflexion politischer und sozialer Praxis eingehen – denn nichts ist so angreifbar und daher auch umkehrbar wie eine Anerkennungskultur im Heterogenen. In der Zuspitzung von Kämpfen und Aktionen, zudem durch Primat-ansprüche der Politik einer bestimmten Linken, droht jederzeit eine fatale Tendenz zur Homogenisierung vorherrschend zu werden.
Hinfällig ist in diesem Zusammenhang auch der Avantgardismus, als politische Praxis der vordersten, „ersten Linie“. Sie war es eigentlich schon immer - die besten Avantgarden brachten die Bewegungen selbst hervor -, jetzt wird es jedoch besser ersichtlich, dass das Wissen der radikalen Kritik mitsamt des Wissens der Revolutionäre des vergangenen Jahrhunderts seinen Platz nicht in der Vorhut hat. Wenn es beim militärischen Bild bleiben soll, dann wäre mit der Nachhut der richtige Ort beschrieben – ganz ihrer militärischen Funktion entsprechend, hat die Nachhut eine zunächst rein stabilisierende Funktion, sie sichert das Hinterland ab. In Krisenzeiten aber ist sie noch unverzichtbarer als in der Blütezeit einer Bewegung oder Offensive: Denn auf dem Rückzug übernimmt sie die Führung. Darin stimmt immer noch das Bild vom „Langen Marsch“: Scheinbar nur ein geordneter Rückzug, sichert er ein neues, eigenes Hinterland ab.
Ohne ein solches Hinterland – übertragen in die alltäglichen Lebenswelten mit ihren eigensinnigen, widerständigen Ideen von Wohlfahrt als solidarischer Beziehung Aller zu den Einzelnen – bricht eine Bewegung als bloßer Protest in sich zusammen. Es soll eben nicht nur eine andere Welt, sondern auch ein anderes Leben möglich sein.

*) AUS: DIE AKTION, HEFT 208, EDITION NAUTILUS 2004

Anmerkungen:

(1) John Holloway, Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen, Münster (Westfälisches Dampfboot) 2002, S. 241; (2) Karl Marx / Friedrich Engels, Deutsche Ideologie, in: Marx-Engels-Werke, Bd. 3, Berlin-DDR (Dietz) 1969, S. 34 f.; (3) Georges Bataille, Die Aufhebung der Ökonomie, München (Matthes & Seitz) 2001, S. 12; (4) Georges Bataille, a.a.O., S. 23; (5) John Holloway, a.a.O., S. 226; (6) ebenda; (7) John Holloway, a.a.O, S.225; (8) vgl. die Sonderausgabe der AKTION zu Maastricht und Europa – Heft 113/119, März 1994; (9) Anthony Giddens, Der dritte Weg, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1998, S. 81; (10) Anthony Giddens, a.a.O., S. 103; (11) Ralf Dahrendorf, New Labour und Old Liberty – Kommentare zum Dritten Weg, Neue Zürcher Zeitung, 14. Juli 1999; (12) Stephan Hermlin, Abendlicht, Berlin (Wagenbach) 1997, S. 18 f.; (13) Wilfried Glißmann / Klaus Peters, Mehr Druck durch mehr Freiheit. Die neue Autonomie in der Arbeit und ihre paradoxen Folgen, Hamburg (VSA) 2001; (14) Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch, in: Herbert Marcuse, Schriften, Bd. 7, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1989, S. 46; (15) John Holloway, a.a.O. S. 248; (16) John Holloway, a.a.O., S.240;


DIE AKTION erscheint in der Edition Nautilus, Alte Holstenstraße 22, 21031 Hamburg, Tel.: 040-7213546, edition-nautilus@t-online.de, www.edition-nautilus.de

In der selben Ausgabe der „Aktion“: Anna Rheinsberg: Isst mein Brot / Glossen und Anmerkungen I / Der Herausgeber: Caprichos / John Holoway: Macht Demokratie! / Mar-tin Dieckmann: Gerechtigkeit und Freiheit – Ein langer Marsch durch die Krise / Von Ka-bul nach Bagdad II – Serge Bricianer: Ein Funke in der Nacht / Islam und Revolution im Iran 1978-1979 / Babak Vavamini: Komitees und Räte Augenzeugenberichte / Ab irato Kollektiv: Chronologie zum Iran / Detlef Grumbach: Im Rätsel der fremden Sprache. Ein Porträt des Schriftstellers Christian Geissler / Glossen und Anmerkungen II: Christoph Ernst: Verschleierte Wahrheiten / Adi Quarti: Der neue Geist des Kapitalismus / Egon Günther: Corpus Christi / Andreas Löhrer: Die Gewalt – die Revolte


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