Martin Dieckmann
Gerechtigkeit und
Freiheit – Ein langer Marsch durch die Krise[*]
„Der Hass auf die Verschwendung ist der Daseinsgrund
und die Rechtfertigung der Bourgeoisie; er ist zugleich der Grund für
ihre abscheuliche Heuchelei.“
Georges Bataille
I. Ihre Agenda und unsere
Fünf Jahre rot-grüne Regierung reichten aus für
einen politischen Erdrutsch, der nunmehr so gut wie alle scheinbar verbrieften
Gewissheiten öffentlicher Wohlfahrt aus den Zeiten des so genannten
Rheinischen Kapitalismus mit sich reißt. Dass mit der Agenda 2010
ein solcher Dammbruch stattgefunden hat, hat weniger mit den einzelnen
Themen dieses Programms zu tun, als vielmehr mit dem Geist des Ganzen:
einem programmatischen Wechsel hin zu einer anderen Republik. Dieser Wechsel
ist von historischer Bedeutung und wie jedes historische Programm hat
auch dieses Programm die doppelte Aufgabe, erstens eine bereits vorhandene
Praxis zum Grundsatz zu erheben. Weil aber damit andere Grundsätze
obsolet werden, ist zweitens der Weg frei für eine Beschleunigung
und Radikalisierung dessen, was Zerstörung des Alten und nur in Umrissen
Durchsetzung von etwas Neuem ist.
Dabei verkennt die übliche Protestrhetorik den grundlegenden Sinn
in der Verwendung des Reform-Begriffs. Selbst wenn man Reformen mit „Verbesserungen“
übersetzt, handelt es sich bei allem, was in die Agenda eingegangen
ist, was sie flankiert und was im Weiteren daraus hervorgehen wird, durchaus
um ein Reformprogramm: Verbesserung der Verwertungsbedingungen des Kapitals,
nicht allein durch eine wie auch immer messbare Verschlechterung der Lebens-
und Arbeitsbedingungen der lohnabhängigen Menschen, sondern zuallererst
durch eine allgemeine Verunsicherung dessen, was überhaupt als angemessene
Existenzbedingung hier zu Lande gelten soll und darf. So wirkt sich der
programmatische Effekt derzeit stärker aus als der unmittelbar praktische
– denn es handelt sich in erster Linie um einen Kampf um die Köpfe
der Menschen.
Es war eine Frage der Zeit und damit des passenden Augenblicks im Gefolge
des parlamentarischen und Regierungsgeschäfts, wann es zu diesem
Frontalangriff kommen würde, den Regierungen zuvor vermeiden mussten
oder – wenn sie ihn zu wagen können glaubten – daran
letztlich gescheitert sind (wie zuletzt die Kohl-Regierung). Während
die Geschichte der sozialpolitischen Angriffe und wirtschaftspolitischen
Umschichtungen seit mehr als zwanzig Jahren sich als eine Geschichte von
Einkreisungen, Zerfaserungen, wechselnden Bündnisversuchen mit diesen
oder jenen Kerngruppen aus der Mitte der Gesellschaft darstellt, ist nunmehr
offenbar ein Zustand erreicht, in dem der Frontalangriff nicht nur notwendig,
sondern auch möglich geworden ist.
Angriff – worauf? Letztlich erfüllt sich das alte, seit Ende
der sechziger, spätestens zu Beginn der achtziger Jahre aufgelegte
Programm zur Niederkämpfung dessen, was Konservative hier zu Lande
die Anspruchsinflation genannt haben. Wobei man hinzufügen muss,
dass das, was jeweils unter Ansprüchen von denen Einen angeklagt
und den Anderen eingeklagt wurde, sich von Mal zu Mal auf niedrigeres
Niveau begeben hat. Aus den überschüssigen Bedürfnissen,
die sich explosiv in den Revolten der sechziger und frühen siebziger
Jahre artikulierten, wurden mit der Zeit, in der langen Weile, sozialstaatsbürgerliche
Basisbanalitäten. Mit dem Niveauverlust der Ansprüche auf öffentliche
Wohlfahrt näherten sich die Angriffe auf diese Ansprüche auf
Dauer immer näher Kernpunkten dessen, was den so genannten Konsens
im Westdeutschland der Nachkriegszeit ausgemacht hat – dem Wesen
nach ein historischer und dadurch umkämpfter Klassenkompromiss. Den
Abschied vom Rheinischen Kapitalismus ist diverse Male seit 1989 erklärt
worden, doch ihn auch vollständig zu vollziehen, bedeutet den drakonischen
Eingriff in die Lebensbedingungen aller, also jedes Einzelnen.
Noch Mitte der neunziger Jahre hatte die damalige Kohl-Regierung einen
ähnlichen Versuch unternommen: mit Hilfe des damals so genannten
Sparpakets, das, wie später die Agenda 2010, die Ärmsten ärmer
machte, die Drangsalierung durch Arbeits- und Sozialämter vorantrieb,
aber in einem Punkt einen bis dahin lange nicht mehr gekannten Widerstand
entfachte. Erstmals seit zwanzig Jahren kam es wieder zu wilden Streiks
in der Industrie. Die Lehre daraus sollten die Konsensgespräche mit
Verbänden und Institutionen sein, Schröder erhob dieses Konsultati-onsverfahren
– abseits der öffentlichen beziehungsweise gesetzlichen Gremien
von Parlamenten und Regierungen – zum Regierungssystem. Und scheiterte
damit spä-testens mit dem endgültigen Zerbrechen des Bündnisses
für Arbeit Anfang 2003. Erst darauf hin reklamierte die Politik in
Gestalt des in die Enge getriebenen Kanzlers ihr Primat gegenüber
nur korporativen Interessen und ebnete so auch den Weg für eine de
facto Große Koalition. Und darin können die Konservativen nur
in dem Maße Rot-Grün vor sich her treiben, wie sie sich vom
Rest sozial-katholischer Harmonielehre befreit haben. Die Demontage Norbert
Blüms, immerhin der letzte Arbeitsminister vor Rot-Grün, zum
Sozial-Clown eines CDU-Parteitages ist eine, freilich viel sagende Fußnote
zum allgemeinen Systemwechsel bürgerlicher Politik.
So weit zu den taktischen Konjunkturen der parlamentarischen und Parteienlandschaft.
Staunen und den Schrecken hat die Entschiedenheit ausgelöst, mit
der diese Allparteienkoalition sich so gut wie aller Normen und Maßstäbe,
an denen sie sich früher hatte messen lassen wollen oder müssen,
entledigt hat. In diesem Fall ist wieder einmal das Bewusstsein weiter
als das Handeln und greift diesem vorweg, Und der nicht zu bestreitende
Erfolg der schon lange erprobten Gehirnwäsche lässt sich an
der passiven wie skeptischen Hinnahme durch große Mehrheiten ablesen.
Das Geheimnis dieses Erfolges liegt eben darin, den Menschen nicht mehr
die Vision eines großen, sichernden und gesicherten Ganzen eines
wie auch immer gear-teten Gemeinwesens vorzugaukeln. Der Erfolg liegt
in der Negativität dieser Vision – durch eben jenen Frontalangriff,
der zuallererst jedem angeblichen Partikular-interesse gilt. Dies alles
im Namen einer „Gemeinschaft“, die es nicht gibt. Folglich
geht es um die Konstituierung eines neuen Allgemeinwohls aus einer neuen
Gemeinschaftsidee, die in den Auseinandersetzungen, auch mit Protesten
und Wi-derstandsaktionen, heraus entsteht. Der Protest ist einkalkuliert,
wie jedes bonapartistische Projekt lauern die Agenda-Parteien regelrecht
auf jede Artikulation partikularer, korporativer Interessen.
Das schwächt im Ansatz die vorhandenen, sich nur langsam entwickelnden,
Proteste und macht aus dem von Linken allzu schnell proklamierten sozialen
Widerstand einen euphemistischen Propagandatrick. Der Protest wird doppelt
konfrontiert – zum Einen mit der Entschiedenheit, das nicht mehr
klar zu definierende Gemeinwohl dadurch wieder definitionsfähig zu
machen, indem jeder Protest niedergebügelt wird als erwartete korporative
Klage; zum Anderen aber auch mit der Aufkündigung jener Normen und
Maßstäbe, anhand derer der soziale Protest die Regierenden
misst. Symptomatisch dafür ist die Bereitschaft eines Teils der Sozialdemokratie,
selbst auf ‚soziale Gerechtigkeit‘ als identitätsstiftende
Floskel zu verzichten. Dem abstrakten Allgemeinwohl der Herrschenden tritt
der Protest entgegen unter Berufung auf ein ganz anders geartetes Allgemeinwohl
– es wird um einen Dialog gerungen, wo schon längst der Antagonismus
die Diskurse radikal und unvermittelbar trennt. Man fordert das miteinander
Reden ein und hat sich doch nichts mehr zu sagen.
Also geht es in erster Linie nicht um die bessere Methode, den Protest
lediglich zu steigern und durch die immer gleichen Aufrufe von neuem zu
intensivieren. Es geht vielmehr um die Maßstäbe und Ziele des
Protestes selbst – nicht allein um den Grad, sondern um die Qualität
der Ansprüche, die fürs eigene Leben und das der Anderen erhoben
werden. Wenn aus Sicht der Herrschenden die Geschäftsgrundlagen des
früher hoch gelobten sozialen Konsenses hinfällig geworden sind,
hängt die Antwort auf die Frage, wann und wie aus Protest auch Widerstand
wird, entscheidend davon ob und wie weit eine soziale und politische Opposition
sich auf eigener Grundlage entfaltet. Es geht nicht um die rein formale
Autonomie, um die Unabhängigkeit von Parteien und anderen Institutionen,
sondern um programmatische Selbstbegründung – und damit die
Fähigkeit, sich selbst als soziale und politische Gegenmacht zu konstituieren.
II. Armut und Reichtum
Wenn es stimmt, dass vorrangig so gut wie jeder Anspruch,
der in Richtung auf eigene Entfaltungsmöglichkeiten zielt, in Abrede
gestellt werden soll, dann erfüllt sich der Sinn der sozialpolitischen
Misere vor allem darin, dass sich die Menschen fortan fortlaufend nur
noch mit ihrer ökonomischen Lage beschäftigen sollen. Die fortdauernde
Beschäftigung mit der eigenen „Notdurft“ macht die Menschen
nicht weniger erfinderisch als sonst, aber sie werden all ihre Fantasie,
ihren Willen und sogar ihre Kreativität für das Aufspüren
von Nischen, Ecken und allerlei Schein-chancen aufwenden müssen.
Eine Gesellschaft, die weltweit am eigenen Reichtum regelrecht zu ersticken
droht, wird in einen Zustand ständiger Armutsverwaltung versetzt.
Reichtum und Armut sind eben nicht allein daran zu messen, wie Wert verteilt
ist, sondern wie sich wertmäßiger und stofflicher Reichtum
zueinander verhalten. Vor allem aber, wie sich gesellschaftlicher Reichtum
in den objektiven Möglichkeiten einer Gesellschaft darstellt –
oder eben unsichtbar macht beziehungsweise unsichtbar gemacht wird.
Neben der Armut an materiellen Lebensmitteln gibt es nicht nur die relative
Armut gemessen am wertmäßigen Reichtum, sondern auch die objektive
Armut durch Trennung von den wesentlichen „Mitteln des eigenen Tuns“[1].
Letzteres, die objektive Armut, wird nicht erst unter den Regimen von
Neoliberalismus und New Labour als Luxus-Thema abgewiesen, es galt schon
zuzeiten, als hartnäckig nach-denkende Marxisten den Begriff als
Aufdeckung eines historischen Skandals auf-brachten, als diskreditiert
– als Zynismus gegenüber jenen, die arm an Lebensmit-teln sind.
Zu Unrecht, wie sich wieder einmal heraus stellt. Denn, würde die
Linke selbst eine Hierarchisierung des Elends weiter betreiben, brächte
sie die Elendsten gegen die Elenden in Anschlag. Sie käme nirgendwo
auf den Punkt, an dem die beschädigten Subjekte im neuesten Kapitalismus
den Sprung aus der eigenen Mise-re finden können. Sie tut es auch
heute nicht, sie bleibt stecken im Diskurs einer Verteilungsgerechtigkeit,
ohne den Zusammenhang von Verteilungs- mit Aneignungsgerechtigkeit her
zu stellen. Gesellschaftlicher Reichtum wird so zu einer Redeweise, einem
Formelkompromiss, der die wirkliche Armut erneut ins Unsichtbare treibt.
Um dem Problem der objektiven Armut näher zu kommen, kann und darf
man durchaus mal die Alten bemühen, in diesem Fall mal wieder Marx
und Engels: „Diese `Entfremdung’ [...] kann natürlich
nur unter zwei praktischen Voraussetzungen aufgehoben werden. Damit sie
eine `unerträgliche’ Macht werde, d.h. eine Macht, gegen die
man revolutioniert, dazu gehört, dass sie die Masse der Menschheit
als durchaus eigentumslos’ erzeugt und zugleich im Widerspruch zu
einer vorhandenen Welt des Reichtums und der Bildung, was beides eine
große Steigerung der Produktivkraft, einen hohen Grad ihrer Entwicklung
voraussetzt – und andererseits ist diese Entwicklung der Produktivkräfte
(womit zugleich schon die in weltgeschichtlichem, statt der in lokalem
Dasein der Menschen vorhandene em-pirische Existenz gegeben ist) auch
deswegen eine absolut notwendige praktische Voraussetzung, weil ohne sie
nur der Mangel verallgemeinert, also mit der Notdurft auch der Streit
um das Notwendige wieder beginnen und die ganze alte Scheiße sich
herstellen müsste ...“[2]
Oft zitiert und fast genau so oft missbraucht, zielt diese These auch
auf die wesentliche Unterscheidung des Reichtums vom Notwendigen. In der
Unterscheidung zur „alten Scheiße“, zur ökonomischen
„Notdurft“ der Individuen, weist die These hinaus auf den
Überschuss, das Überschüssige und damit auch den Über-Fluss
als reiner Verausgabung, wie er als objektive Möglichkeit in dem
zur Weltgesellschaft gewordenen Kapitalismus existiert, jedoch in der
Akkumulations- als Verwertungskrise systematisch verborgen wird. Gegen
diese fast schon eiserne und notwendige Logik, den Überfluss systematisch
zu kanalisieren, sogar unter Umständen auch zu stauen, um ganze Landstriche
ebenso systematisch auszutrocknen, helfen Parolen wie „Es ist genug
Geld da“ nur wenig, eigentlich gar nichts. Weil es nicht ums Geld
geht, das aus guten – weil kapitalistischen – Gründen
zurzeit nicht in Produktion, sondern in Geld (auf Finanzmärkten)
angelegt wird. Und weil die reine Verteilung oder Umverteilung von Geldmitteln
zwar der Armut an Lebensmitteln entgegen wirken würde, der objektiven
Armut aber nicht.
Wenn es aber darum geht, den Überfluss – und damit auch die
Quelle eines möglichen, ganz anderen Zufließens von Mitteln
zum Leben – unsichtbar zu machen, was wird dann in diesem Unsichtbaren
verborgen? Ziehen wir dazu einmal nicht die Klassiker, sondern einen hellen
Kopf unter den Außenseiter, zu Rate. Georges Bataille hat die Unterscheidung
von zwei Prozessen menschlicher Tätigkeit vorgeschlagen, die man,
freilich anders artikuliert, auch bei Marx finden kann: zum Einen den
Prozess der Produktion und Reproduktion, soweit es sich um „den
für die Individuen einer Gesellschaft notwendigen Minimalverbrauch
zur Erhaltung des Lebens und zur Fortsetzung der produktiven Tätigkeit
handelt“[3] und zum Anderen
einen Bereich explizit unproduktiver Tätigkeiten. Für letztere
führt Bataille völlig heterogene Verweise an: Luxus, Theater,
Spiele, Künste et cetera. Diese lassen sich darin zusammenfassen
darin, dass sie „ihren Zweck in sich selbst haben“. Bei André
Gorz findet man das später als „autonome Tätigkeiten“
wieder, bei Bataille ist aber radikaler formuliert – als Verzicht
auf jedes Kriterium gesellschaftlicher Nützlichkeit, als unbedingtes
Recht auf den Schreckens jedes Ökonomen: Verschwendung. „Der
Hass auf die Verschwendung ist der Daseinsgrund und die Rechtfertigung
der Bourgeoisie; er ist zugleich der Grund für ihr abscheuliche Heuchelei“.[4]
All dies wäre abstrakte Akrobatik absonderlicher Geister oder bloß
das poetische Aufflammen eines einsamen Herzens, hätte es nicht historische
Augenblicke gegeben, in denen der Zugriff auf das Ganze des objektiv Möglichen
für einen Moment erfahren wurde. Eben nicht in der objektiv armen
staatssozialistischen Vision eines optimierten Generalcomputers, in dessen
Mikroprogrammen alle planwirtschaftlichen Steuerungen des gesamten „Systems
der Bedürfnisse“ gespeichert wäre. Eben nicht als System
der Nützlichkeit, des rein rationellen Bezugs des Einen auf den Anderen
– nicht auf der Basis des viel bemühten Win-Win-Kalkül.
Sondern tatsächlich als System scheinbaren Unsinns, in dem auch die
Lust an der Zerstörung (zumindest als Lust an der Verausgabung und
Verschwendung) eine schöpferische ist. Darin besteht die Singularität
jener historischen Bewegungen, der Revolten, die unter dem Label ’68
gleichermaßen mystifiziert wie systematisch denunziert worden sind.
In ihren besten Artikulationen brachten diese Revolten genussvoll eben
jenes Chaos ökonomischer Nichtverwertbarkeit, jene Ununterscheidbarkeit
von kreativem Drang, sich zu entfalten, und dem nicht weniger kreativer
Drang zur Zerstörung hervor. Dazu gehörte und gehört schließlich
auch – abseits der traditionellen politischen Wege – in stiller
oder fröhlich lauter Vehemenz die Muße, die Kontemplation oder
auch schlicht die Lust am Sinn des Unsinns. Man hat das als luxuriösen
Hedonismus denunziert, so, wie drangsalierte Arme, aus zwar nachvoll-ziehbaren,
aber nicht guten Gründen, den Überfluss der Reichen als Müßiggang
zu allen Zeiten an- und beklagt haben. Singulär, weil im historischen
Maßstab regelrecht einzigartig, war aber eine Situation, in der
jener „Hedonismus“ oder „Luxus“ gesellschaftlich
als universelle Idee und Praxis zirkulierte.
Jenseits von Nostalgie und bloßer Erinnerung an verlorene oder ausgebliebene
Kämpfe, ist die Erfahrung von ’68 durch die bislang einzigartige
Begegnung objektiver Möglichkeiten und subjektiv wahrgenommener Chancen
gekennzeichnet. Chancen, die ergriffen und wieder fallen gelassen wurden.
Und deshalb ist diese Erfahrung – entgegen allen rationalisierenden
oder verkitschten Erlebnistexten damaliger Protagonisten – dem Wesen
nach eine poetische Erfahrung. Der schein-bare soziale Irrsinn dieser
Poesie vertrug sich durchaus mit grundlegenden, aber eher pragmatischen
Veränderungen und Verschiebungen innerhalb dessen, was man „Lebenswelten“
nennt. Was heute davon noch reklamiert wird als „Reformpotenzial“,
das sich in einer weit greifenden Reformpolitik, die weniger als eine
Handvoll Jahre Bestand hatte, niederschlug, ist dagegen nichts anderes
gewesen als die Rückführung überschüssiger Verausgabung
in das Räderwerk einer Haushaltslogik, die dann alle überschüssigen
Energien wie ein Schwamm in sich aufnahm, um sie bald wieder aussscheiden
zu können.
Es blieb jener langwierige, regelrechte Kulturkampf um das, was man damals
Lebensqualität nannte und was sich zuallererst an zweierlei festmachte:
Verkürzung der Arbeitszeit und Vermehrung des so genannten Soziallohns.
Wie auch immer konterkariert durch Kapitalstrategien zur Intensivierung
der Arbeit, waren und sind die Ausdehnung der „disponiblen Zeit“
sowie das Abtrotzen oder auch der kampflose Zugewinn von Soziallohn Kennzeichen
und Kennziffern eines Zugewinns an individuellen Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten.
Es ist nicht wahr, dass diese Spielräume vom Eigensinn der Einzelnen
nicht genutzt worden. Im Gegenteil, zum Alptraum marktliberaler Geister
wurde der enge Zusammenhang kollektiver Absicherung unmittelbarer Lebensbedingungen
mit jenen Prozesse, die man „Individualisierung“ nennt. Entgegen
den postmodernistischen Soziologien ist die so genannte Individualisierung
ganz und gar ein Kind der öffentlichen Wohlfahrt in der Blütezeit
des so genannten Fordismus.
Die, sicherlich überwiegend ganz privaten, doch massenhaften Emanzipationsbiografien
Einzelner haben darin ihren materiellen, gesellschaftlichen und politischen
Grund. Es wurde jener Zustand radikalisiert, den John Holloway so schön
als „Eindringen des Pöbels in das Geld“ beschrieben hat
[5]. Der Überfluss war
kenntlich geworden, er war nicht massenhaft genutzt worden zur Umkehrung
seiner gesellschaftlich herrschenden Form, aber innerhalb und im Rahmen
dessen, was als öffentliche Wohlfahrt fungierte, wurde die Wohlfahrt
auch in Anspruch genommen – und das in für den Staat des Kapitals
schmerzlichem Ausmaß.
III. Reformen gegen den Reformismus
Die Geschichte der Gegenangriffe und der Strategien der
Gegenreform füllt Bücher. Westeuropa war gewiss nicht der einzige
Brennpunkt damaliger Kapitalstrategien, aber die dortigen Klassenkampfverhältnisse
und die Subversion durch Anspruchsinflationen – „Wir wollen
alles!“ die Einen, die Anderen: „Wir wollen mehr, viel mehr!“
– machte aus Westeuropa den Kampfplatz für einen sozialen Feldzug,
dessen exemplarische Konfrontation jedoch nicht in Westeuropa, sondern
zuallererst in Chile 1973 ausgetragen wurde. Die Einzigartigkeit der chilenischen
Erfahrung lag in der Anomalie einer höchst entwickelten „klassischen“
Klassenkampfsituation nach Art des in Europa entwickelten kämpferischen
Reformismus, aber in einem Land der so genannten Dritten Welt, in Lateinamerika.
Diese Klassenkampfsituation war nicht nur exemplarisch für die Ängste
der Herrschenden angesichts einer massenhaften Bewegung für eine
sozialistische Transformation, sondern auch für die strategische
Orientierung der sozialistisch-reformistischen Arbeiterbewegung in Westeuropa.
Die Parallelität beziehungsweise das Exemplarische der chilenischen
Erfahrung ist damals vielen durchaus bewusst gewesen. Und der Putsch im
September 1973, die offen zu Tage tretende Aggressivität und Brutalität
in der Niederringung proletarischer Widerständigkeit war auch Anlass
für strategisch-taktische Wendungen andernorts, so in Italien in
der Hinwendung der Kommunistischen Partei zur Strategie des „historischen
Kompromisses“. Rossana Rossanda, die kommunistische Kritikerin der
Kommunistischen Partei, sprach dann später von Westeuropa als einem
`schleichenden Chile‘. Kein Zufall, dass das Pinochet-Regime zur
ersten Heimstätte der monetaristischen Wilden, der so genannten Chicago
Boys aus der Schule der Nobelpreisträgers Milton Friedmann, wurde.
Die Programmatik möglichst radikaler Reformen – gegen den Reformismus
– hat sich aber schon lange vor der explosiven Revolte rund um `68
heraus artikuliert. Diese Revolte stellte ja eher den Zenit eines Eindringens
„des Pöbels“ dar, sie erntete auf verrückte Weise
die Früchte der kämpferischen Klassenintegration – und
entfaltete dabei die Dialektik eines Ausbruchs und Aufbruchs aus dem Innern
des Kapitals in ein ganz anderes „Reich der Freiheit“ als
das der „Vollbeschäftigung“. Die Programmatik des später
so genannten Neoliberalismus fußte auf dem Widerwillen und der begründeten
Skepsis gegenüber den politischen, sozialen und ökonomischen
Kosten der staatlich regulierten Integration der Arbeiterklasse. Darauf
hat John Holloway hingewiesen „Die Probleme, die sich für
das Kapital aus diesem Entwicklungstyp ergeben, wurden in den 60er und
70er Jahren des 20. Jahrhunderts deutlich. Die ständige Ausweitung
des Kredits führt vor allem zu einer Schwächung der Disziplin
des Marktes, zu einer Schwächung der durch das Wertgesetz auferlegten
gesellschaftlichen Disziplin. Der Aufschub oder die Modifikation der Krise
führen zum Überleben unrentabler Kapitale und, was aus der Sicht
des Kapitals noch schlimmer ist, zum Überleben unrentabler und aufsässiger
Arbeiter.“[6] Insofern
stellte sich die beklagte Anspruchsinflation nicht nur als politischer
Legitimationsdruck diverser Reformregierungen her, sondern durchaus als
unmit-telbar wirkender ökonomischer Faktor: „Die Insubordination
des Lebens“ drang „als chronische finanzielle Instabilität
in das Zentrum des Kapitalismus“ ein.[7]
Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, dass der Keyensianismus als
entwickelteste Form, in der „der Pöbel in das Geldverhältnis“
hinein geriet, eine rationelle Antwort der Herrschenden auf die Krise
des Kapitalismus war. Der Keynesianismus war genau so wenig wie seine
Feinde aus den Schulen der Neo-Klassik und des Monetarismus eine rein
` ökonomische Politik’, sondern ebenfalls bürgerliche
Klassenpolitik. Allerdings war er äußerst druckempfindlich
gegenüber auch nur schwächeren Regungen des „Pöbels“.
Die Blütejahre der Reformen waren auch die Geburtsjahre der Gegen-Reformen:
begonnen als Triumph eines Keynesianismus der Arbeiterbewegung, endeten
sie als Auftakt zur groß angelegten Austeritäts-Strategie.
Westdeutschland kennt für diese Entwicklung zwei Protagonisten: Willy
Brandt Anfang der siebziger Jahre, mit seiner Erklärung, man ginge
nun über „von Reformen zu Reformen, die nichts kosten“;
und auf ihn folgend Helmut Schmidt als Botschafter der Austerität.
Kohl fand dann das Wesentliche vor.
In diesen Debatten und politischen Auseinandersetzungen spielen die Staatshaushalte
eine doppelte Rolle: Zum Einen sind sie Indikator eines gesellschaftlichen
Kräfteverhältnisses und damit Drehkreuz für jeden Richtungswechsel
der kapitalistischen Entwicklung als gesellschaftlichem Klassenverhältnis.
Zum Anderen sind sie auch – gerade in der Logik des „Sozialabbaus“
– unverzichtbares Steuerungsinstrument, eine ganze Apparatur von
Stellschrauben, für eben jene Richtungsentscheidungen. Den gesamten
Prozess der Niederringung von individuellen Entfal-tungsansprüchen
aufs Niveau einer halbwegs gesicherten Sozialhilfe fand im Wesentlichen
auf drei Felder statt: Zum Ersten in der politischen Repression, der Kriminalisierung
so gut wie jeder radikalen Kritik. Zum Zweiten in der unmittelbaren Konfrontation
in exemplarischen Kämpfen –praktisch und symbolisch hierfür
der britische Bergarbeiterstreik 1984/1985. Zum Dritten in der international
konzertierten Aktion zur Schleifung aller Festungen des Reformismus, der
nationalstaatlichen Wohlfahrtssysteme. Das Europäische Projekt –
vom Europäische Währungssystem bis hin zu den Maastricht-Abkommen
– ist in diesem Geist geboren worden und der Logik dieser international
angelegten Strategie verpflichtet.[8]
Es wäre ein grundlegender Irrtum, diese großen Anstrengungen
der herrschenden Politik nur auf imaginären oder reale Gefahren einer
inneren Revolutionierung des „Pöbels“ zurückzuführen
Es ging und geht primär nicht um die Niederhaltung einer subversiven
Bewegung zur verschwenderischen „Aufhebung der Ökonomie“.
Es ging und geht statt dessen um die immanente Verschiebung des sozialen
Kräfteverhältnisses, um die Niederringung dessen, was die Ökonomie
des Reformismus ausmacht. Um diese Ökonomie zu erklären und
sie auch von dem gewöhnlichen gewerkschaftlichen Geschäft zu
unterscheiden, muss man sich vergegenwärtigen, was die Besonderheiten
der Arbeitskraft und ihres Wertes sind. Wenn nämlich stimmt, was
Marx heraus gestellt hat, dass der Wert der Ware Arbeitskraft zu einem
nicht unerheblichen Ausmaß eine historische und moralische Variable
darstellt, dann besteht die Ökonomie des Reformismus keineswegs nur
aus der – zwangsweise auch konfliktorisch – herbei zu führenden
Angleichung des Preises an den Wert der Arbeitskraft. Genau dies ist das,
mehr oder weniger erfolgreiche gewerkschaftliche Geschäft. Der Reformismus
zielt darüber hinaus – auf die Durchsetzung einer Wertsteigerung
der Ware Arbeitskraft mittels einer kämpferischen Durchsetzung historisch-moralisch
legitimer Ansprüche auf ein Mehr an Quantität und Qualität
der „notwendigen Lebensmittel“. Genau dies liegt der Ökonomie
des Reformismus zu Grunde und kann zu einem gewissen Grad auch dessen
Handlungsspielräume erklären – diese als notwendige, keineswegs
hinreichende Bedingung von Emanzipation.
Damit wird vielleicht deutlicher, weshalb selbst zu Gunsten eines neuerlichen
Richtungswechsels im Kapitalismus erhebliche Kampfanstrengungen erforderlich
sind – Anstrengungen, die sich auf mehr beziehen als auf soziale
und ökonomische Rahmen- wie Haushaltsdaten, sondern auf das, was
man einmal die „moralische Ökonomie“ der subalternen
Klassen genannt hat. Nicht als bloße Idee, sondern als praktische,
umstrittene wie umkämpfte Verhältnisse, beziehungsweise als
gelebte und in „Lebenswelten“ antizipierte soziale Beziehungen
zwischen Menschen; stellte und stellt diese „moralische Ökonomie“
den eigentlichen Kampfplatz, auch des heutigen Geschehens dar.
IV. Repressive Integration
Was als Neoliberalismus die gesellschaftliche und weltpolitische
Bühne betreten hat, kam mit einem gut sortierten und im Übrigen
auch sehr übersichtlichen Hand-werkskoffer daher. Seine Schwäche
aber bestand und besteht eben in dieser Über-sichtlichkeit, in der
grobschlächtigen Weise, in der das Soziale abgewiesen wird ins Reich
quasireligiöser Mythologien von Weltverbesserern. Besser als Margret
Thatcher hat dies niemand sonst aus den Reihen der Neoliberalen auf den
Punkt gebracht: „So etwas wie Gesellschaft gibt es eigentlich
nicht“. Sicherlich tauglich als Kampfprogramm zur Niederringung
der Ökonomie des Reformismus und damit zur Verjagung „des Pöbels
aus dem Geldverhältnis“, lag und liegt die Schwäche des
reinen Marktradikalismus in dem reinen Verjagen, dem Ausschließen
– und damit auch dem drohenden Verlust an Kontrolle über die
zunehmend kritische Masse der Atomisierten und Marginalisierten. Die gewollte
Desintegration des so genannten sozialen Konsenses als common sense einer
ungeschriebenen Verfassung mündete nicht von sich aus in einem neuen
hegemonialen Projekt. Auch wenn der Vergleich nur bedingt zulässig
ist, so kann man an die frühen kapitalistischen Unterwerfungsstrategien
erinnern, die ja nicht nur die brutale Trennung der Menschen von „ihren“
Produktionsmitteln bedeutete – zur Freisetzung freier Lohnarbeiter
– sondern darüber hinaus eine regelrechte Inhaftierung im Produktionsprozess
mit sich brachten. So im System der „Arbeitshäuser“ oder
anderer Anstalten der frühen repressiven Integration ins Kapitalverhältnis.
Die Architekten der „Arbeitshäuser“ des ausgehenden Zwanzigsten
und beginnenden Einundzwanzigsten Jahrhunderts hat man deshalb auch nicht
im Lager ausgewiesener Neoliberaler, sondern unter deren Kritikern zu
suchen. Darin liegt auch das Geheimnis, warum es die Sozialstaatsparteien
par excellence – die der Sozialdemokratie – waren, die eben
jene Umwertung der Werte am deutlichsten in Gang und zu Stande brachten,
deren Ergebnis in Plattformen wie der Agenda wiederzufinden sind. Ein
Schlüsseltext zum Verständnis jener Transformation ist „Der
Dritte Weg“ von Anthony Giddens geworden: „Vielleicht
könnte das zentrale Motto der neuen Politik so lauten: Keine Rechte
ohne Verpflichtungen. Der Staat hat ein Bündel von Verpflichtungen
gegenüber seinen Bürgern und anderen Menschen, unter anderem
den Schutz der Schwächeren. Die Sozialdemokratie alten Stils neigte
dazu, Rechte als unbedingte Ansprüche zu behandeln. Mit der zunehmenden
Individualisierung sollte eine Zunahme der Verpflichtungen des Einzelnen
einhergehen.“[9]
Die Formel, wonach es keine Rechte ohne Verpflichtungen gebe, klingt eingängiger,
als sie in Wahrheit ist. Denn im Kontext mit den „unabdingbaren
Ansprüchen“ zielt die Gegenüberstellung von Rechten und
Pflichten auf jenes – freilich historisch und moralisch mal größer,
mal kleiner bestimmtes – Areal an so genannten Grundrechten. Genau
diese sind „unabdingbar“ und es macht eben die Eigenart von
Grund- und Menschenrechten aus, dass ihnen keinerlei Pflichten gegenüberstehen.
In ihrem Essay über den „Terror der Ökonomie“ hat
Viviane Forrester dies polemisch zugespitzt in der Frage, ob man sich
das Recht zu leben erst zu verdienen habe.
In den Geist von New Labour und neuer Sozialdemokratie eingegangen sind
ursprünglich merkwürdig abstrakt geführte Debatten über
das, was Gerechtigkeit und ob sie überhaupt bestimmbar sei. Debatten,
die seit Jahrzehnten das akademische Denken vorwiegend in angelsächsischen
Ländern beherrscht haben – und zwar im sich mehrfach überkreuzenden
Streit zwischen den „Liberals“ und den so genannten „Kommunitariern“.
Nachzulesen ist dieser historische Streit in vielen langweiligen Büchern,
aber man muss diese Langeweile durchstehen, um hellsichtig und hellhörig
auf das Schicksal des Wörtchens Freiheit zu achten. In seinen feinen
Varianten kam der Kommunitarismus als sozialdemokratische, linke Kritik
des Neoliberalismus daher – und das ausgerechnet unter Berufung
auf eine linke Tradition des Freiheitsbegriffs: jener Unterscheidung positiver
Freiheit („Freiheit zu“) von lediglich negativer Freiheit
(„Freiheit von“). Während Erzliberale zu allen Zeiten
heftigen Protest dagegen eingelegt haben, Freiheit anders denn als rein
negative zu bestimmen, verlegte dieser feinsinnig linke Kommunitarismus
das Schicksal der Freiheit in das Schicksal der „Gemeinschaft“.
New Labour hat sich dieser „Gemeinschaft“ verschrieben und
damit auch das Problem der gesellschaftlichen Exklusion in Angriff genommen
– durch den ideologisch überhöhten abstrakten Gemeinschaftsgedanken,
der überhaupt erst möglich macht, Pflichten auch gegen unabdingbare
Ansprüche zu stellen. Den Neoliberalen – wie überhaupt
dem Liberalismus – ist die Koexistenz von Polizeistaat und Marktradikalismus
alles andere als fremd, aber das Fehlen jeder gesellschaftlichen Di-mension
in den neoliberalen Konzepten hat erst die kommunitaristisch inspirierte
neuen Sozialdemokratie wettmachen können. Man wolle eine Marktwirtschaft,
aber keine Marktgesellschaft, hieß es im Schröder-Blair-Papier.
Und Giddens, auf den dieses Papier maßgeblich zurück ging,
hat mit dem „Dritten Weg“ die autoritäre „Inklusion“
gegen verwahrlosende „Exklusion“ gesetzt.
Deshalb ist nichts unzutreffender, als von einem stattfindenden oder drohenden
„Abbau des Sozialstaates“ zu sprechen. Im Gegenteil, selten
besaß der Sozialstaat eine derartige Präsenz, durchdrang er
so weit gehend und mit derartiger Intensität wie heute alle Lebensbereiche
– als fürsorgliche Belagerung und damit als unerlässliche,
repressive Instanz zur Durchsetzung eben jenes Niedrigniveaus verbleibender
„unabdingbarer Ansprüche“, das nach unten hin nur die
Grenze durch Widerstand kennt. Damit werden aber auch die Freiheitsrechte
nicht nur in Hinsicht auf individuelle Entfaltungsmöglichkeiten eingeschränkt,
sondern gerade in ihrer historisch grundlegenden Form – als Abwehrrechte
gegen den Staat, zusammengefasst im durchaus auch bürgerlich so verfassten
„Recht in Ruhe gelassen zu wer-den“, der Grundform negativer
Freiheit – angegriffen.
Überschritten werden auch die Grenzen zur früheren „repressiven
Toleranz“. Diese gehört der Vergangenheit an, an ihre Stelle
tritt eine bewusst auf Ressentiment bildende Mentalitäten zielende
Sozialtechnik, die den Begriff der „Sicherheit“ in doppelter
Weise transformiert: von der „sozialen“ zur „inneren
Sicherheit“ – vice versa, von der „inneren“ zur
„sozialen Sicherheit“. Es ist ein Regime der Prävention
nicht existierender Gefahren, in deren Diffusität die konkrete, erlebte
und befürchtete Drangsal eines schlechteren Lebens in einer systematischen
Politik der Gefühle manipuliert wird. Bei Giddens, im parfümierten
Ton des Sozialphilosophen, klingt das dann so: „Präventive
Verbrechensbekämpfung und die Verminderung der Angst vor Kriminalität
setzen beide die Erneuerung der Gemeinschaft voraus."[10]
An die Stelle der liberalen Ideologie der `offenen Gesellschaft’
tritt nun die repressive Integration in eine Geschlossener Gesellschaft.
Ausgerechnet ein alter Erzliberaler, Ralf Dahrendorf wies die neue Sozialdemokratie
auf die Konsequenzen hin: „Dem Dritten Weg geht es nicht um
offene Gesellschaft oder Freiheit. Er hat tatsächlich einen merkwürdig
autoritären Anflug, und dies nicht nur in der Praxis.“[11]
Hier zielt die gesamte Entwicklung – hin zur repressiven Integration
durch einen zunehmend aggressiv auftretenden, autoritären Sozialstaat
– ins Herz dessen, was historisch zur Identität des sozialdemokratischen
Reformismus gehörte: das Fest-halten an einer Vorstellung kollektiver
Absicherung individueller Emanzipation, in der der Grad bürgerlicher
Freiheiten – je nach Radikalisierungsgrad – nur über-,
niemals aber unterschritten werden sollte. Was als „Demokratieproblem“
die Spaltungen der Arbeiterbewegung – der sozialdemokratischen von
den stalinistisch-kommunistischen Richtungen – durchzogen hat, war
im Kern dieses aufbewahrte und nirgends aufgehobene Freiheitsproblem.
Lediglich die Bewegungen des libertären Kommunismus haben dem einen
angemessenen Entwurf und in Ansätzen auch eine angemessene Praxis
gewidmet. Damit erledigt sich die Sozialdemokratie selbst als früherer
Repräsentant einer kollektiven Absicherung individueller Hand-lungs-
und Entwicklungsmöglichkeiten. In diesem Kontext ist ein Begriff
wie „Individualisierung“ nicht nur euphemistisch, sondern
wird buchstäblich zur handfesten Zumutung.
So gibt „die Freiheit“ die Freiheit wieder frei. Und der Konflikt
zwischen Gemeinschaftsdiskurs und einer nicht reduzierbaren Individualität
wird neu und antagonistisch eröffnet. Während das, was durchaus,
wenn auch in seinen Möglichkeiten begrenzt, Individualisierung gewesen
war, an die Bedingungen eines entfalteten Wohlfahrtssystems gebunden war,
kehrt sich der Begriff in sein krasses Gegenteil um: die Einzelnen als
Vereinzelte im Klammergriff einer aggressiven und repressiven staatlichen
Autorität. Die traditionelle sozialistisch-kommunistische Linke,
aber auch die Erbverwalter der „neuen sozialen Bewegungen“
aus den siebziger Jahren können dem nur dann etwas entgegen setzen,
wenn sie eben die nicht reduzierbare Individualität ins Zentrum ihrer
eigenen Entwürfe einer neuen sozialen Bewegung und einer neuen Linken
setzen.
Diese Aufgabe ist alles andere als leicht zu erfüllen. Die Freiheit
der Freiheit besteht ja gerade darin, dass man sie nicht so ohne weiteres
„in den Griff“ bekommt. Eine auf Solidarität zielende
Bewegung und Programmatik eröffnet nicht selten spiegelbildlich einen
Gemeinschaftsdiskurs, der die Singularität der Individuen, eben jene
Nichtreduzierbarkeit der Individualität, dem Allgemeinen unterordnet.
Es wäre zu leicht, dies allein dem traditionellen Kollektivismus
der Sozialisten und Kommunisten zuzuschreiben: „Du bist nichts,
die Partei (die Klasse) ist alles.“ Auch die „neuen sozialen
Bewegungen“, insbesondere auf dem damals neuesten Politikfeld: der
Ökologie, haben diese Vorherrschaft übers Individuelle mit in
Gang gebracht. Man erinnere sich nur an den durchschlagenden Erfolg des
„Prinzip Verantwortung“ von Hans Jonas, ein Buch, das von
der ersten bis zur letzten Seite als Streitschrift gegen Ernst Blochs
„Prinzip Hoffnung“ gerichtet war und so gut wie alles, was
noch frei und kreativ-spontan den Individuen eigen ist, einem re-pressiven
Rechtfertigungsdiskurs unterwarf.
Was es mit den Einzelnen und ihrem allgemeinen Wohl in Hinsicht auf die
Freiheit auf sich hat, ist von Stephan Hermlin in seiner Erzählung
„Abendlicht“ als Erfahrung seiner Lektüren des Kommunistischen
Manifestes beschrieben und dabei auf den Punkt gebracht worden. Bis zu
seinem fünfzigsten Lebensjahr hatte er das Manifest mehrfach gelesen,
unter „den Sätzen, die für mich seit langem selbstverständlich
geworden waren, befand sich einer, der folgendermaßen lautete: `An
die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen
und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung
aller die Bedingung für die freie Entwicklung eines jeden ist.’
(...) Wie groß war mein Erstaunen, ja mein Entsetzen, als ich nach
vielen Jahren fand, dass der Satz in Wirklichkeit gerade das Gegenteil
besagte: `... worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für
die freie Entwicklung aller ist.’“[12]
Mit Marx – aber auch über Marx und den historischen Marxismus
hinaus: Die Nichtreduzierbarkeit der Individualität anzuerkennen,
heißt einen Zustand anzunehmen – und anzuerkennen –,
in dem auch dem Vor-Sozialen Räume gewährt werden. Darin erfüllen
sich die bürgerlichen Freiheiten nicht, sie sind aber nur darin wirklich
aufgehoben, nicht abgeschafft.
V. Die innere Landnahme
Noch nie waren gesellschaftlicher Dissens und Konsens derart
ineinander verschoben, überlagerten sich Unterwerfung und Protest
wie heute. Die alten Akteure, die großen politischen Formationen,
auch als Klassenformationen, sind von der Bühne verschwunden. Ihnen
folgt alles, was als Institutionen der „Politik“ Rang und
Namen und damit auch Geltung hatte. Geblieben und schmerzhaft wirksam
sind die Antagonismen, eben jener „Klassenkampf ohne Klassen“,
in dem die alten Lager verschwinden und aus dem heraus sich neue konstituieren.
Was sehr früh die „Be-schädigung des Subjekts“ genannt
wurde, setzt sich aber fort in einem Prozess innerer Landnahme durch das
Kapital, sowohl als „Kolonisierung der Lebenswelten“ wie im
Zugriff auf den `ganzen Menschen’: „Mit der Zeit dringen
die Mauern des Irrgartens in die Person, die in ihm gefangen ist, ein.
Die äußeren Begrenzungen werden zu inneren Definitionen, Selbst-Definitionen,
Identifizierung, die Einnahme von Rollen, die die Existenz der Mauern
derart voraussetzen, dass sie unsichtbar werden. Wenngleich niemals vollständig.“
(Holloway, S. 239) Um den letzten Satz aber geht es, um den Grad der Vollständigkeit
einer Integration, die durch teils freiwillige, teils repressive Internalisierung
vor sich geht – und damit um den Grad des Nichtreduzierbaren, Nichtintegrierbaren.
Die Geschichte der kapitalistischen Integration – und damit der
kapitalistischen Vergesellschaftung der Individuen – ist nicht einfach
eine Geschichte von wechselnden Bewusstseinszuständen, möglicherweise
eine Geschichte des Siegeszug eines „falschen Bewusstseins“.
Die Transformationen in den Köpfen und Seelen sind wirkliche Prozesse
und kommunizieren die Transformationen in der sozialen Welt im Individuum.
Man muss immer wieder an diese These der Kritischen Theorie erinnern:
dass Ideologie als „verkehrtes Bewusstsein“ Bewusstsein in
einer real verkehrten Welt ist. Wenn häufiger gesagt wurde, mit dem
Sieg des Kapitalismus im Weltmaßstab käme der Kapitalismus
„zu sich selbst“, trifft das auf den so genannten Zeitgeist
genau so zu wie auf die materiellen Basisprozesse in Produktion und Reproduktion.
Wer immer noch glaubt, aus der immanenten Entwicklungslogik des Kapitals
– einer Logik von Produktivkraftentwicklung – erwachse ihm
sein Totengräber, dann kann dies nur in der reinen Negativität
stimmen. Und es kann darüber hinaus nur dann stimmen, wenn dem Prozess
der „inneren Landnahme“ auch ein Widerstand aus einem „inneren
Hinterland“ erwächst. Die Paradoxie liegt gerade darin, dass
dieses „innere Hinterland“ zugleich jenes Reservoir ist, aus
dessen Potenzen der Kapitalismus immer wieder seine Energien bezieht,
eben jenes nichtreduzierbare Areal von Kreativität, Fantasie, von
Bedürfnissen, die nur jen-seits einer Zweckbestimmung befriedigt
werden können. Nur im Über-Fluss, in einer tatsächlich
weit über das notwendige Maß des Sozialen hinaus gehenden Freiheit
– Freiheit der völligen Verausgabung, sogar der Verschwendung
– kann dieses Areal ausgeweitet werden. Eine freie Assoziation könnte
daraus ihren Nutzen ziehen, jedoch nur bei Anerkennung seiner Nichtreduzierbarkeit,
sogar seines nicht- oder vor-sozialen Charakters.
In der marxistischen Tradition kann man die gesamte Entwicklung hin zum
Zugriff auf den ganzen Menschen als „reelle Subsumption“ unters
Kapital bestimmen. Es geht aber heute lange nicht mehr um die Dualität
einer Welt aus Produktion und Reproduktion. „Basisprozesse“,
wie die der Integration durch Internalisierung, vermitteln alle gesellschaftlichen
Sphären und müssen von ihrer Logik, nicht allein vom jeweiligen
sozialen Einsatzort her, begriffen werden. Am deutlichsten wird dies in
der Ökonomisierung sämtlicher sozialer Beziehungen, sozusagen
der Außenseite der Verinnerlichung, was letztlich nichts anderes
als die Unterwerfung aller sozialen – und darin auch zwischenmenschlicher
– Beziehungen unter das Rentabilitätskriterium bedeutet. Gelungen
ist dies durch die Implementierung von Marktbeziehungen auch dort, wo
es keine „Märkte“ gab und gibt, in der Umwandlung von
Produkten in Dienstleistungen und – vice versa – von Dienstleistungen
in Produkten. Herunter gebrochen bis auf die banalste Arbeitsbeziehung,
die früher noch definiert war und erfahren wurde als Kooperation
zur Herstellung eines bestimmten Produkts, zieht dies eine Zerlegung der
Arbeitsbeziehungen in Kunden- und Lieferantenbeziehungen nach sich. Dies
ist keineswegs ein naturwüchsiger Prozess, sondern eine systematisch
betriebene und sehr erfolgreich umgesetzte Unterwerfungs- und Einbindungsstrategie,
deren Kern darin besteht, die Einzelnen unmittelbar mit (den) Marktbedingungen
zu konfrontieren. Wo diese nicht erfahrbar sind, müssen sie hergestellt
werden. „Den Markt an jeden Schreibtisch bringen“, heißt
es in der Managersprache.
Beschrieben wurde dies vielfach als „neue Selbstständigkeit
in der Arbeit“.[13] Eine
Autonomie, die keine ist, also eine fremdbestimmte Selbstbestimmung oder
selbstbestimmte Fremdbestimmung: weil der Unternehmer zwar Entscheidungen
nach unten delegiert, dies auch als mehr Freiheit subalterner Einheiten
vermittelt – in Wahrheit aber ist genau das Gegenteil „unternehmerischer
Freiheit“. Denn es werden die so genannten Handlungs- weil Sachzwänge
des „Marktes“ nach un-ten weiter gegeben. Entgegen den früher
noch euphorischen Prognosen eines Zugewinns an Entfaltungsmöglichkeiten
ist heute in großem Maßstab bekannt, dass dies nur hinaus
auf „mehr Druck durch mehr Freiheit“ läuft. Das aber
ändert zunächst nichts an dem Ausmaß, in dem die innere
Logik dieses Prozesses so gut wie alles erfasst, was die sozialen und
zwischenmenschlichen Beziehungen betrifft.
Auch das ist nicht naturwüchsig daher gekommen, sondern wird im großen
Maßstab zum Politikmodell geworden – das des budgetierten
Lebens. Ansprüche aus dem so genannten Allgemeinwohl müssen
sich nicht nur im Staatshaushalt rechnen lassen, sondern in einem unendlich
zerfaserten Netz privater und schließlich individueller Haushalte.
Die aus großen Unternehmen und aus dem öffentlichen Dienst
bekannten Modelle der Globalhaushalte – mit dann den unteren Einheiten
zugewiesenen Budgets – werden zu Instrumenten einer gesellschaftlichen
Globalsteuerung, die freilich jene „unternehmerische“ Verantwortung
der Einzelnen fürs Eigene voraussetzen. Genau hierin verschränken
sich die Transformationen in Produktion und Reproduktion und hier ergibt
sich auch erst der Sinn des Zusammenwirkens von Marktbeziehungen und repressiver
Gemeinschaftsintegration. Ob Bildung, Gesundheit, Wohnen oder unmittelbare
Grundsicherung von Existenzbedingungen – alles wird strukturiert
nach Budgets, durch zugewiesene „Gutscheine“, Leben auf Kredit,
Arbeiten als Gemeinschaftsschuldner. Im Alltag findet die Seele keine
Ruhe mehr vor dem pragmatisch unlösbaren Konflikt zwischen dem Zwang,
sich, wie auch immer, unternehmerisch auf sich selbst zu beziehen, und
der inneren Entlee-rung, wenn diesem Zwang nachgegeben wird. Und im gleichen
Maße, wie die Rentabilitätsrechnung fürs eigene Leben
akzeptiert ist, wird auch die Toleranz gegenüber einer Zunahme von
Rentabilitätsopfern zunächst größer.
Die Ökonomisierung sozialer Beziehungen macht auf Dauer nicht jede
Solidarität, jedoch eine bestimmte Form von Solidarität hinfällig.
Die rein instrumentell bestimmte Solidarität, die auch mit bestimmend
war für die Entwicklung der traditionellen sozialen Bewegung, der
Arbeiterbewegung: dass man sich beistehen muss, weil man sich noch braucht.
In der instrumentellen Solidarität sind die Rechte der Anderen durchaus
nicht unabdingbar, ihre Anerkennung findet Grenzen an der Allgemeinheit
der Interessen. Unabdingbare Solidarität dagegen ist die einzige
Art des Beistehens, die mit jedem Kalkül, jedem rein instrumentellen
Bezug auf die Anderen bricht. Wenn es noch ein Modell des Zusammenlebens,
das der Diktatur der Rentabilität entgegen steht, gibt, dann kann
es nur auf dieser unabdingbaren Solidarität beruhen und im Kern kann
diese nicht aufs Allgemeine, sondern muss auf die Singularität der
Individuen abzielen.
Selbst wenn man den Prozess der Internalisierung unternehmerischer Rentabilität
als vollständig vollzogen annimmt – und es gibt gute Einwände
gegen diese Annahme –, ist damit die Unterwerfung vollständig,
sondern nur der Antagonismus von Landnahme und widerständigem Hinterland
ganz ins Individuum hinein gelegt worden. Also vollziehen sich Unterwerfung
und Protest, sogar Revolte und Repression, wenigstens zu Teilen schon
im Innern der Einzelnen. Der unendliche Kampf im Klassenverhältnis
des Kapitals – der Kampf um Abgewinnung, Abpressung von Verausgabung
und Kreativität, von Renitenz, Positivität der Herrschaft und
Negation durch Verweigerung – ist damit längst bestimmend geworden
fürs Soziale im Individuum. Die Entfremdung ist konkret geworden,
Niederschlag des „Ganzen“ in einer Standards abstrakter Individualität.
Damit stellt sich auch das Problem der Verelendung auf eine Weise, wie
es schon immer existierte: „Man muss auf den inneren Zusammenhang
zwischen den Marxschen Begriffen der Ausbeutung und der Verelendung trotz
späterer Neubestimmungen bestehen, bei denen die Verelendung entweder
ein kultureller Aspekt oder derart relativiert wird, dass er auch ein
Vorstadthaus mit Auto, Fernsehgerät usw. zutrifft. `Verelendung’
bedeutet das absolute Bedürfnis und die absolute Notwendigkeit, unerträgliche
Existenzbedingungen umzuwälzen, und ein solches absolutes Bedürfnis
erscheint in den Anfängen aller Revolution gegen die grundlegenden
gesellschaftlichen Institutionen“. [14]
Vielleicht liegt es an diesem Realwerden des abstrakten Allgemeinen im
Einzelnen, dass das frühere Leitbild von Emanzipation – das
eines „neuen Menschen“, der in seiner „Ganzheitlichkeit“
Gesellschaftliches und Individuelles wie eine antike Schönheit in
sich totalisierend vermittelt – seine Zugkraft verloren hat. Zu
Recht, muss man hinzufügen, weil genau diese „Ganzheitlichkeit“
den Individuen tagtäglich abverlangt wird. Sogar eine ausgeglichene
Bilanz beziehungsweise Balance zwischen Arbeit und Leben – in der
inneren Haushaltsführung – wird neuerlich in Managementkreisen
zur Selbstqualifikation erhoben. Zeitmanagement. Das Vervollkommnungsideal
der alten Utopien verstärkt heute eher den Schrecken als die Hoffnung.
In einer anderen, einer Gegenkultur wäre statt dessen auch etwas
radikal Anderes ins Zentrum zu rücken: die Partikularität des
„neuen Menschen“. An die Stelle einer Vervollkommnung fordernden
Ganzheit träte die Anerkennung des Fragmentarischen, Unvollkommenen
des ganzen Menschen.
VI. Eine andere Welt, ein anderes Leben
Wenn die Diagnose über das Ausmaß der inneren
Landnahme und der daraus her-vor gehenden Korrespondenz von gesellschaftlichem
Antagonismus und repressiver Integration stimmt, dann ist auch die Diagnose
über die Perspektiven von Bewegung und Revolte gefällt. Sie
sind auf allen Ebenen des Lebens zu suchen und jede politische Strategie
der Machtentfaltung einer Gegenmacht muss und darf nur noch darauf beruhen,
der Freiheit den Sinn unreduzierbarer Entfaltungsmöglich-keiten zu
geben – wohlgemerkt nicht als abstrakte oder nur poetische Losung,
die beliebig auf diese oder jene Situation „anzuwenden“ wäre.
Sondern in der Herstellung konkreter Situationen, Erfahrungen, durchaus
und unbedingt bei Beachtung der notwendigen Unterscheidung von alltäglichen
Lebenszusammenhängen, einzelnen Biografien und den größeren
politischen Entwürfen, Strategien und Experimenten.
In Hinblick auf das, was hier die Ökonomie des Reformismus –
als Ausdehnung der Ansprüche auf „notwendige Lebensmittel“
– und in Bezug auf die subversive Ökonomie der Verausgabung
– als Eröffnung von Räumen zweckfreien Tuns und Lassens
– dargestellt wurde, gilt deshalb für die Perspektiven von
Bewegung und Revolte, dass die alternative Gegenüberstellung von
Reform und Revolte – und Revolution – wie auch von Politik
und Anti-Politik, Macht und Anti-Macht eine falsche Konfrontation nach
sich zieht. Die bescheidene Orientierung auf „Refor-men für
uns“ hat selbst zur Voraussetzung, dass schon im Ansatz der Bruch
mit der Logik des Systems vollzogen wird – denn es gibt diesen Richtungswechsel
im Kapitalismus nicht ohne die Revolte gegen dessen Logik. Und der emanzipative
Verweis auf „Anti-Macht“ und „Anti-Politik“, wie
er von John Holloway in seinem neuen, schönen, weil guten Buch gegeben
wird, führt einen, bleibt es nur bei diesem Verweis, auf das Feld
eines imaginären Exterritorialismus gegenüber dem Staat und
damit außerhalb eines gesellschaftlichen Verhältnisses, in
dem alle existieren. Man kann den Staat als gesellschaftliches Verhältnis
nicht von seinen Institutionen, seinen Apparaten trennen. Es ist ein fetischisiertes
Verhältnis, ja, aber dieser Fetisch existiert real – und die
Existenz der Menschen ist darin eingeschrieben.
Richtig aber ist, dass es keine emanzipative Politik geben kann. Und Linke,
die in Bewegungen dieses Versprechen geben, haben ihre eigene Geschichte
nicht begriffen: Auch eine radikale Linke kann in der „Politik“
nur negativ Bedingungen von Emanzipation schaffen: zu Gunsten kollektiver
wie darin individueller Entfaltungsmöglichkeiten. „Die Welt
verändern, ohne die Macht zu übernehmen“ – dies
ist nicht nur dem Titel nach Frage und Aufgabe zugleich, wie sie John
Holloway aus den Ereignissen und Prozessen der neunziger Jahre heraus
für eine emanzipative Praxis formuliert hat. Aber Holloway geht von
einer falschen Voraussetzung aus: „Das Wissen der Revolutionäre
des letzten Jahrhunderts wurde besiegt. Aber es ist mehr als das: Unser
Nicht-Wissen ist auch das Nicht-Wissen derjenigen, die begreifen, dass
Nicht-Wissen Teil des revolutionären Prozesses ist“.[15]
Wäre das Wissen der Revolutionäre des letzten Jahrhunderts besiegt
worden, wäre diese Aussage gar nicht möglich. Vielmehr ist das
Wissen der Revolutionäre des letzten Jahrhunderts zu großen
Teilen noch gar nicht entdeckt – weil man sich noch immer zu wenig
Mühe macht, dieses Wissen vom Standpunkt des Nicht-Wissens (und nichts
anderes ist die Kritik, der Grundsatz des Zweifels in der Selbstreflexion)
zu begutachten.
Anders als es die Sätze Holloways nahe legen, erscheint doch die
erstaunliche Korrespondenz neuer auch internationaler Zusammenhänge
sozialer Bewegungen mit der Wiederkehr einer radikalen theoretischen Kritik
(die freilich aus dem Nicht-Wissen der Revolutionäre des letzten
Jahrhunderts ihre Schlussfolgerungen gezogen hat) eher als Wiederaufnahme
eines Gegenstandpunkts von Kämpfen, die – wie Holloway selbst
schreibt – mehr sind als „reine Kämpfe-gegen“.
Der Fortschritt von Emanzipation in Bewegungen ist sowohl Ergebnis wie
Voraussetzun-gen dieser Bewegungen: Denn „die Erfahrung gemeinsamen
Kampfes setzt bereits die Entwicklung von Verhältnissen zwischen
Menschen voraus, die sich qualitativ von den gesellschaftlichen Verhältnissen
des Kapitalismus unterscheiden“[16].
Das ist aber durchaus das Wissen von Revolutionären des vergangenen
Jahrhunderts und davor gewesen.
Wenn es eine Erfahrung gibt, in die dieses Wissen eingeht, dann ist es
der Doppelcharakter von Selbstorganisierung, von Autonomie und verändernder
Praxis: dass sie zum Einen an Fronten kämpft, die sie selbst nicht
gewählt hat, an den Schauplätzen eines aufgezwungenen Kampfes
– so auch auf denen der „Politik“ – und zugleich
schon in den eigenen, widerständigen Lebenswelten qualitativ andere
Beziehungen entwickeln will und muss. Es gibt keinen Kampf ohne Feindberüh-rung
und es gibt keine Feindberührung, von der man nicht die Spuren des
Feindes von sich mit sich trägt. Die Macht – im Sinne von Staatsmacht
– nicht übernehmen zu wollen, zieht zum einen noch lange nicht
nach sich, den Staat unberührt zu lassen und sich seinem Terrain
zu entziehen.
Zum anderen aber wird man die Staatsmacht nicht auflösen können,
ohne sie in die Hände zu nehmen. Es ist nicht bloß „die
Macht“, um die es geht – es geht um Herrschaft. Und beides
ist nicht identisch. Obsolet und tatsächlich in das Reich der Vergangenheit
gehören die Bilder von parteigeführten oder wie auch immer staatsbildenden
Revolutionen, in denen sich die gesellschaftliche Gegenmacht zur Herrschaft
über jedwede mögliche Gegenmacht entfaltet hat. All das kann
getrost nicht nur zum Beantworten, sondern schon als Fragen den Menschen
einer Zukunft, in der sich diese Fragen allein stellen können, überlassen
bleiben. Entscheidend für die Gegenwart ist dagegen die Einsicht,
dass die radikale Kritik viel beharrlicher auf einer scheinbaren Pragmatik
– nämlich auf der Nähe zu den Individuen, ihrem Alltag
und ihren verinnerlichten Antagonismen – bestehen muss. Und sie
muss eben so beharrlich auf dem „Überschuss“ im Über-Fluss
bestehen, sie muss einer Logik von Generationenverträgen widerstehen,
die lediglich die Enteignung der gegenwärtigen Generationen legitimieren.
Die radikale Kritik hat zudem frühere Versöhnungsversprechen
einer mit allen Freiheiten identifizierbaren Freiheit zurückzuweisen.
Sie muss die Kunst – oder das Kunstwerk? – vollbringen, gleichzeitig
die Ökonomie des Reformismus vor sich her zu treiben und zu jeder
Zeit die weiter gehenden Ansprüche auf eine Kultur unabdingbarer
Anerkennung geltend machen. Dies ist zugleich ein praktischer wie ein
programmatischer Prozess, wobei die Kriterien, Normen und Maßstäbe
vom Ausgangspunkt her – und dieser Ausgangspunkt ist tatsächlich
der Ausgang all dessen, was uns Revolutionäre und Revolutionen des
vergangenen Jahrhunderts hinterlassen haben – klar sind und klar
sein müssen. Sind die Ziele in den Bewegungen nicht enthalten, sind
die Bewegung nichts und die Ziele werden zu reinen Phrasen.
Vieles spricht dafür, dass die Bewegungen von heute – und dies
weltweit und nicht nur in diesem oder jenem einzelnen Land – dem
näher kommen, als es ihre ersten Artikulationen vermuten lassen.
Jedenfalls ist es eine Praxis und weniger eine umständlich zu vermittelnde
Theorie, die heutzutage etwas ermöglicht hat, was lange Zeit als
vielleicht denkbar, aber nicht machbar erschien: ein neuer Universalismus,
der dem Einzelnen wie den besonderen Interessen oder sogar Identitäten
nicht entgegen steht, sondern diese erst durch gegenseitige Anerkennung
hervor treten lässt. Man beginnt zu erkennen, dass Heterogenität
nicht zwangsläufig Schwäche, sondern sogar einen Reichtum an
sozialen Beziehungen bedeutet. In dieser Hinsicht sind die Gedankenübungen
von Theoretikern über die „Vielheit“ oder „Multitude“
noch verkrampfte Profilierungsversuche. Als radikale Kritik müssen
diese Überlegungen aber in die Selbstreflexion politischer und sozialer
Praxis eingehen – denn nichts ist so angreifbar und daher auch umkehrbar
wie eine Anerkennungskultur im Heterogenen. In der Zuspitzung von Kämpfen
und Aktionen, zudem durch Primat-ansprüche der Politik einer bestimmten
Linken, droht jederzeit eine fatale Tendenz zur Homogenisierung vorherrschend
zu werden.
Hinfällig ist in diesem Zusammenhang auch der Avantgardismus, als
politische Praxis der vordersten, „ersten Linie“. Sie war
es eigentlich schon immer - die besten Avantgarden brachten die Bewegungen
selbst hervor -, jetzt wird es jedoch besser ersichtlich, dass das Wissen
der radikalen Kritik mitsamt des Wissens der Revolutionäre des vergangenen
Jahrhunderts seinen Platz nicht in der Vorhut hat. Wenn es beim militärischen
Bild bleiben soll, dann wäre mit der Nachhut der richtige Ort beschrieben
– ganz ihrer militärischen Funktion entsprechend, hat die Nachhut
eine zunächst rein stabilisierende Funktion, sie sichert das Hinterland
ab. In Krisenzeiten aber ist sie noch unverzichtbarer als in der Blütezeit
einer Bewegung oder Offensive: Denn auf dem Rückzug übernimmt
sie die Führung. Darin stimmt immer noch das Bild vom „Langen
Marsch“: Scheinbar nur ein geordneter Rückzug, sichert er ein
neues, eigenes Hinterland ab.
Ohne ein solches Hinterland – übertragen in die alltäglichen
Lebenswelten mit ihren eigensinnigen, widerständigen Ideen von Wohlfahrt
als solidarischer Beziehung Aller zu den Einzelnen – bricht eine
Bewegung als bloßer Protest in sich zusammen. Es soll eben nicht
nur eine andere Welt, sondern auch ein anderes Leben möglich sein.
*) AUS: DIE AKTION, HEFT 208,
EDITION NAUTILUS 2004
Anmerkungen:
(1) John Holloway, Die Welt verändern,
ohne die Macht zu übernehmen, Münster (Westfälisches Dampfboot)
2002, S. 241; (2) Karl Marx / Friedrich Engels, Deutsche
Ideologie, in: Marx-Engels-Werke, Bd. 3, Berlin-DDR (Dietz) 1969, S. 34
f.; (3) Georges Bataille, Die Aufhebung der Ökonomie,
München (Matthes & Seitz) 2001, S. 12; (4)
Georges Bataille, a.a.O., S. 23; (5) John Holloway,
a.a.O., S. 226; (6) ebenda; (7)
John Holloway, a.a.O, S.225; (8) vgl. die Sonderausgabe
der AKTION zu Maastricht und Europa – Heft 113/119, März 1994;
(9) Anthony Giddens, Der dritte Weg, Frankfurt am Main
(Suhrkamp) 1998, S. 81; (10) Anthony Giddens, a.a.O.,
S. 103; (11) Ralf Dahrendorf, New Labour und Old Liberty
– Kommentare zum Dritten Weg, Neue Zürcher Zeitung, 14. Juli
1999; (12) Stephan Hermlin, Abendlicht, Berlin (Wagenbach)
1997, S. 18 f.; (13) Wilfried Glißmann / Klaus
Peters, Mehr Druck durch mehr Freiheit. Die neue Autonomie in der Arbeit
und ihre paradoxen Folgen, Hamburg (VSA) 2001; (14)
Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch, in: Herbert Marcuse, Schriften,
Bd. 7, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1989, S. 46; (15)
John Holloway, a.a.O. S. 248; (16) John Holloway,
a.a.O., S.240;
DIE AKTION erscheint in der Edition Nautilus, Alte Holstenstraße
22, 21031 Hamburg, Tel.: 040-7213546, edition-nautilus@t-online.de,
www.edition-nautilus.de
In der selben Ausgabe der „Aktion“: Anna Rheinsberg:
Isst mein Brot / Glossen und Anmerkungen I / Der Herausgeber: Caprichos
/ John Holoway: Macht Demokratie! / Mar-tin Dieckmann: Gerechtigkeit und
Freiheit – Ein langer Marsch durch die Krise / Von Ka-bul nach Bagdad
II – Serge Bricianer: Ein Funke in der Nacht / Islam und Revolution
im Iran 1978-1979 / Babak Vavamini: Komitees und Räte Augenzeugenberichte
/ Ab irato Kollektiv: Chronologie zum Iran / Detlef Grumbach: Im Rätsel
der fremden Sprache. Ein Porträt des Schriftstellers Christian Geissler
/ Glossen und Anmerkungen II: Christoph Ernst: Verschleierte Wahrheiten
/ Adi Quarti: Der neue Geist des Kapitalismus / Egon Günther: Corpus
Christi / Andreas Löhrer: Die Gewalt – die Revolte
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