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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Mehr ist drin! Radikale Linke und Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit heute Von Wolfgang Schaumberg Auf dem Dritten Bochumer Sozialforum (17./18. Februar 2006) hatte Wolfgang Schaumberg im Rahmen des Workshops »Radikale Linke und Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit heute« eine Kurzfassung seiner Thesen vorgestellt, die man schon seit einer Weile im Labournet [1] nachlesen kann und die in Kürze in unserer Reihe »Ränkeschmiede - Texte zur internationalen ArbeiterInnenbewegung« schwarz auf weiß erscheinen werden. Der Beitrag vereint auf eine in der bundesrepublikanischen Diskussion der politischen und akademischen Linken vergleichsweise seltene Weise eine Auseinandersetzung sowohl mit aktuellen theoretischen Ansätzen zur Frage, was postkapitalistische Orientierung heute heißen könnte, als auch mit der Verarbeitung von Erfahrungen von Beschäftigten aus der industriellen Produktion, der Rolle betrieblicher Oppositionsgruppen sowie der besonderen Bedeutung der Gewerkschaften für die Beförderung bzw. Verhinderung dieser Erfahrungen. Es geht Schaumberg dabei um die Frage nach theoretischen und praktischen Orientierungspunkten für eine gesellschaftliche Veränderung, die nicht im reformistischen Horizont einer anderen Verteilung des produzierten Reichtums stehen bleibt, sondern Widersprüche im Produktionsprozess selbst auslotet und, an konkreten Erfahrungen in der Belegschaft und in der betrieblichen Oppositionsgruppe GoG ansetzend, Momente aufzuzeigen versucht, die in Richtung auf eine »andere Welt« jenseits kapitalistischer Verhältnisse weisen. 1. »Radikale Linke« fragen nicht nach einem humaner gestalteten, reformierten Kapitalismus, sondern nach einer nicht auf Verwertung, auf Kapitalakkumulation, sondern allein auf Bedürfnisbefriedigung ausgerichteten Produktionsweise auf der Grundlage demokratischer Absprachen über das Was und Wie der Produktion und der Verteilung der Produkte. 2. In der »Charta der Grundsätze des Weltsozialforums« heißt es: »Die auf dem WSF vorgeschlagenen Alternativen widersetzen sich einem Prozess der Globalisierung, der von den großen multinationalen Konzernen und den ihren Interessen dienenden internationalen Institutionen, bei Komplizenschaft der nationalen Regierungen, gelenkt wird.« Die WSF-Parole: »Eine andere Welt ist möglich« scheint demnach die Entmachtung der »großen multinationalen Konzerne« vorauszusetzen. Eine andere Welt ist in der Tat nur vorstellbar ohne »Herrschaft des Kapitals«, das heißt auch ohne die Macht solcher Multis wie Microsoft, Deutsche Bank, Siemens, VW, Toyota, General Motors/Opel usw. - doch wie ist deren Macht jemals zu brechen? Welche Aufgaben stellen sich uns, den radikalen Linken, in Bezug auf die Konzernherrschaft und ihre Voraussetzungen? 3. Die in der Linken verbreitete Unterschätzung der Rolle der Produktionssphäre und damit der Produzierenden, ihrer Erfahrungen, ihrer Bewusstseinslage bewirkt, dass das für unser aller Leben grundlegende Feld der materiellen Reproduktion weitgehend der Aktivität und ideologisch-politischen Ausrichtung der Herrschenden überlassen bleibt. Ein Angriff auf die »Macht der Multis« muss auch von innen heraus entwickelt werden, von den Beschäftigten. Ihr Bewusstsein davon, ihre Produktions- und Lebenserfahrungen anders einsetzen zu wollen und zu können, wäre dabei eine wichtige Voraussetzung. Die Beschäftigten beispielsweise in der Autoindustrie produzieren weltweit eines der wichtigsten und ökologisch wie friedenspolitisch (»Krieg um Öl«) problematischsten Massenkonsumgüter. Im Verbund mit vielen Menschen in vor- und nachgelagerten Bereichen erarbeiten sie den Profit von einigen der stärksten und mächtigsten Multis der Erde und damit auch die Macht von politisch sehr einflussreichen Menschen, Managern, Aktionären. Sie sind folglich objektiv für den Erhalt der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung in den größten Industrieländern der Erde an wichtiger Stelle jede Woche rund 40 Stunden aktiv. 4. Zur Einschätzung ihrer Bewusstseinslage ist zu bedenken: Mehrheitlich ist die Sorge um die Erhaltung des status quo bei den KollegInnen in widersprüchlichster Weise eingebunden in die Ideologie der betriebswirtschaftlichen Erfordernisse von Kosteneinsparungen und »Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit« als anscheinend naturgegebener Grundbedingung des Überlebens. Daraus folgt: Unternehmer wie Staat können sich gerade in den wichtigsten multinationalen Betrieben auf Mehrheiten in den Belegschaften stützen, die - noch - relativ viele »Privilegien« zu verlieren haben und »ihren« Betrieb erhalten wollen. Ähnlich ist die Situation nach meiner Erfahrung in Osteuropa, ebenso in Brasilien, in Mexiko, in China, in den USA oder wo auch immer die Multis aktiv sind, einzuschätzen: Sollte ein Auto-Multi irgendwo Arbeitsplätze anbieten, drängeln sich die Leute massenhaft darum, und wer dort noch einen Arbeitsplatz hat, will ihn auf keinen Fall verlieren. Eine wirksame »linke Bewegung« gegen die Macht solcher Multis ist ohne Erarbeitung einer hoffnungsträchtigen Alternative unter Mitbeteiligung von großen Teilen der Beschäftigten und der gesamten Bevölkerung nicht vorstellbar. Was können wir tun, um solch eine Alternativen-Debatte voranzubringen? 5. Im Betrieb ist die Diskussion über eine »andere Welt« sicherlich schwierig zu initiieren. Weltweit herrscht in den allermeisten Autofabriken Angst. Gleichzeitig gehören aber alltägliche Schimpfereien, Aufregung über das betriebliche Geschehen wie über die gesellschaftliche und sogar die globale Entwicklung insgesamt zur normalen Atmosphäre im Produktionsalltag: »Man müsste es denen mal so richtig zeigen!« und »Die Gewerkschaften müssten ganz anders rangehen!«, sind typischer Ausdruck der Empörung. Doch gleichzeitig wollen die meisten unserer KollegInnen verständlicherweise eher möglichst schnelle Kompromisslösungen, ohne allzu viel riskieren zu müssen. Sicher gibt es immer wieder auch Abwehrkämpfe, kleine und größere Aktionen gegen die Angriffe auf die Arbeitsplätze, Einkommen und Arbeitsbedingungen. Andererseits kann jeder aus dem Arbeitsalltag endlos von opportunistischer Anbiederei bei den Vorgesetzten und konkurrenzlauerndem Karriereverhalten berichten. Kurzum: die Beschäftigten machen während etwa der Hälfte ihrer wachen Lebenszeit, die sie am Arbeitsplatz und in seinem Umfeld verbringen, ganz widersprüchliche Erfahrungen und bewegen sich ständig im Widerspruch zwischen der verlangten »corporate identity« und der immer wieder erforderlichen und praktizierten Solidarisierung im allgemeinsten Sinne des »Wir hier unten«. 6. Wer in dieser Situation Debatten über eine andere Gesellschaft führen will, kommt nicht daran vorbei, die Bedeutung der Gewerkschaften für das Bewusstsein der Beschäftigten zu analysieren. Insbesondere ist die politische und ideologische Macht der offiziellen Gewerkschaftspolitik im Produktionsalltag in den Blick zu nehmen. Die Gewerkschaft ist - zumindest in den Großbetrieben - tagtäglich in bestimmter Art und Weise unmittelbar »vor Ort« aktiv, prägt die Alltagsdebatten der KollegInnen ebenso mit wie ihre Suche nach Lösungen für die immer sorgenvoller diskutierten Probleme als Lohnabhängige. Bei jedem Alltagskonflikt am Arbeitsplatz erlebt man das gleiche Spiel: Man schimpft gemeinsam über schlechte Arbeitsbedingungen oder Lohnprobleme usw. und holt den gewerkschaftlichen Vertrauensmann hinzu. Der holt den Betriebsrat, den entscheidenden Gewerkschaftsrepräsentanten vor Ort. Er verspricht, sich um das Problem zu »kümmern« - und macht sich auf den geregelten Weg, die BR-Gremien einzuschalten. Bei harten Problemen geht die Debatte sogar bis hin zum Gesamt- oder gar Euro-BR, und am Ende dann zurück zu den Arbeitenden, zumeist mit einer Lösung: »Mehr war nicht drin« - ein Kompromiss, der nicht auf der Basis mobilisierter (und d.h. auch umfassend aufgeklärter) Gewerkschaftsmitglieder, deren Aktionsbereitschaft man sorgfältig abgefragt hätte, zustande gekommen ist, sondern auf der Basis von Verhandlungen von Experten, die in ihrer Mehrheit die Wettbewerbsfähigkeit »ihres« Unternehmens - sowie der so genannten »deutschen Wirtschaft« - nicht gefährden, sondern eher verbessern wollen. Dass für diese tagtägliche Bestätigung und Herstellung des Alltagsbewusstseins gerade die alltägliche gewerkschaftliche Politik vor Ort, sei es über die eingeübte Delegation der Interessen an die »Belegschaftsvertreter« oder die Hoffnung auf eine Konfliktlösung auf dem geregelten, gesetzlichen Weg, von wesentlicher Bedeutung ist, wird in der Linken weitgehend unterschätzt. 7. »Es gibt zu unserem Vorgehen keine Alternative!«, hören die KollegInnen von Seiten der allermeisten Interessenvertreter auch bei jedem großen Konflikt mit den Unternehmern. Gerade im Fall gesamtgesellschaftlicher Auseinandersetzungen wie z.B. im Kampf gegen den Sozialabbau, gegen Arbeitszeitverlängerung oder in Tarifrunden, hätte die Notwendigkeit einer Debatte über eine andere, nichtkapitalistische Welt ihren Ort und wäre für viele verständlich. Doch genau in solchen Situationen versperrt die gewerkschaftsoffizielle politische Linie geradezu die Eröffnung dieser Debatte. Stattdessen: »Es geht um die Hauptaufgabe der Gegenwart und die Schlüsselfrage der Zukunft: Wie, mit welchen Mitteln und zu welchem Ziel kann und muss der globale Kapitalismus politisch gestaltet und sozial reguliert werden? Im Mittelpunkt stehen nicht gesellschaftliche Visionen und politische Alternativen jenseits des Kapitalismus, sondern realistische Optionen und konkrete Projekte im Kapitalismus, die diesen verändern.« [2] Mit dieser Ausrichtung der IG Metall-Führung für die gewerkschaftsoffizielle Zukunftsdebatte ist die offizielle Gewerkschaftspolitik nicht nur nicht gewillt, sondern auch gar nicht in der Lage, eine Debatte über eine nicht auf Verwertung ausgerichtete Produktionsweise zu initiieren. 8. Thesenhaft sei hier nur angedeutet, dass sich aus den aktuellen Positionen der Gewerkschaftsführungen auch für den offiziellen gewerkschaftlichen Internationalismus keine anderen Leitgedanken ergeben können als die von der IG Metall verbreiteten: »Decent work«, erträgliche Arbeit, als berechtigte Reformforderung nach humaner bezahlten und gestalteten Arbeitsplätzen bleibt ideologisch-politisch mit dem unhinterfragten Festhalten an Lohnarbeit verzahnt. »Verhaltensrichtlinien«, »Codes of Conduct« - z.B. Verbot von Kinderarbeit, Zulassung von Gewerkschaften usw. - als berechtigte Forderungen an die Multinationalen Konzerne bleiben an die Illusion von »fairem Wettbewerb« gebunden, und die berechtigte Forderung der Beschäftigten nach demokratischer Mitwirkung wird auf die »Mitbestimmung in Euro- und Welt-Betriebsräten« zugespitzt. Unterlegt ist dabei die Hoffnung auf eine beidseitig erträgliche und dauerhafte Regulierung des Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit, wobei - statt wirklicher Massendemokratie - mit den althergebrachten Interessenvertretungsgremien auch die Macht der Gewerkschaftsbürokratien erhalten bleiben soll. So bilden diese zentralen Forderungen auch gleichzeitig den anscheinend nicht zu sprengenden Rahmen für die gewerkschaftsoffizielle Vorstellung einer »anderen Welt« im Sinne eines »besseren« Kapitalismus. 9. Insgesamt ergibt sich für radikale Linke also die Aufgabe, die Wirksamkeit der gewerkschaftsoffiziellen Politik auf das Massenbewusstsein genauer in den Blick zu nehmen. Sinnlos erweist sich dann der immer wieder zu hörende, oft empörte oder auch fast flehentliche Appell an »die Gewerkschaften« im Stile von »Die Gewerkschaften müssen...«, oft auch noch mit einem historisch völlig unhinterfragten »wieder« (zu welcher Zeit will man da zurück?) versehen. Genauso naiv wäre es, Sommer, Peters und Co. aufzufordern, endlich die SPD zu verlassen, auf ihre satten Gehälter zu verzichten, konsequent gegen das Kapital zu kämpfen usw. Wer Anforderungen zur Veränderung an »die Gewerkschaften« richtet, ist gezwungen, jeweils genauer anzugeben, ob er oder sie die Führungsspitze meint, die hauptamtlich bei der Gewerkschaft ihr Einkommen verdienenden Funktionäre, die Gewerkschaftsrepräsentanten im Betrieb, speziell die mächtigen Betriebsratsfürsten, oder ob man sich auf die Aktiven an der Basis bezieht, auf aktive Vertrauensleute, aktive Linke, oder die an Interessendelegation gewöhnte, meist unbeachtete große Mehrheit der Mitglieder. Sinnvoll ist es zu fragen, was wir als postkapitalistisch orientierte, radikale Linke tun müssen. 10. In der Opel-Bochum-Betriebsgruppe GoG führen wir immer wieder Debatten über die Frage, wie eine nichtkapitalistische Gesellschaft vorangebracht werden könnte. Dazu ein Beispiel aus einem unserer GoG-Infos (Nr. 12, August 2001): »Die Schließung einer Fabrik muss nicht Not und Elend für Tausende bedeuten. Werden zu viele Produkte hergestellt oder die Produkte wegen technischer Fortschritte in immer kürzerer Zeit erarbeitet, könnte die Schließung einer Fabrik zur Umverteilung der Arbeit genutzt werden, indem alle eben weniger arbeiten. 6-Stunden-Tag bei vollem Lohn ist möglich, widerspricht natürlich total dem Profitinteresse der Unternehmer. Für unsere Interessen gemeinsam zu kämpfen, dafür sind die meisten in der Gewerkschaft. Die Führung von DGB, IG Metall usw. will die 'Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmer' verbessern helfen. Das heißt: sie wollen nicht, dass wir gemeinsam gegen die Unternehmer vorgehen. (...) Die Schließung einer Fabrik kann auch sinnvoll sein. Zum Beispiel wenn bei Bayer ein Medikament hergestellt wird, das sich als tödliches Gift entpuppt. Auch dann zittern Tausende um ihren Job, um ihre Existenzgrundlage. So pervers ist Kapitalismus. Sind Produkte unnötig, ungesund oder gar gefährlich, müsste man wieder mit Einstellung dieser Produktion und Arbeitsumverteilung, Arbeitszeitverkürzung reagieren.« Selbstkritisch ist festzustellen, dass wir hier nur Widersprüche deutlich machen, nicht aber eine Lösung auf gesamtgesellschaftlicher Ebene andiskutieren. Wir haben in der GoG bisher relativ wenige Schritte entwickelt, über das Anprangern von Kapitalangriffen, die Aufklärungsversuche über ihre Ursachen und die Mobilisierung der Gegenwehr hinaus die Debatte über eine nicht-kapitalistisch organisierte Gesellschaft anzustoßen. Aufgrund der aktuellen Problemerfahrungen im Betrieb und in der Gesellschaft insgesamt aber gibt es heute eine von radikalen Linken unbedingt zu nutzende Offenheit und Anerkennung für unsere Fragen und Überlegungen. 11. Die Debatte, die meines Erachtens am weitesten voran treibt, ist die über eine Arbeitszeitverkürzung, aber in einem sehr umfassenden Sinne: Wir verkürzen die Arbeitszeit bei jeder Arbeit zu Hause wie auch in der Fabrik: Wir verbessern den Arbeitsvorgang durch Anwendung von Maschinen, von Erfahrungstricks usw. und machen ihn bequemer, sparen Zeit. Am Anfang der Diskussion müsste also die folgende Überlegung stehen: Unser Interesse, täglich die Produktivität zu verbessern, ist auch etwas Vernünftiges, Rationales, etwas Gutes! Je weniger Zeit die Menschen für die Herstellung ihrer erforderlichen und gewünschten Produkte benötigen, desto mehr müsste doch übrig bleiben für allerhand anderen schönen Zeitvertreib! Doch der Zeitgewinn kommt den Produzierenden, der Masse der Menschen nicht zugute - im Gegenteil. Und damit rückt der Nervpunkt kapitalistischer Produktion in den Blick. Der Unternehmer will aus seinem eingesetzten Geld mehr Geld machen, und das muss er auch wollen, sonst machen ihn seine Konkurrenten fertig. Daher trifft der Kampf um Arbeitszeitverkürzung das Kapital auch am Lebensnerv. Insofern ist es nicht sinnvoll, die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung nur defensiv mit dem Kampf gegen Arbeitslosigkeit zu verbinden. Wir verkürzen die Arbeitszeit, die für das einzelne Produkt nötig ist, selbst ständig weiter. Unter dem kapitalistischen Zeit-Terror provozieren wir selber wieder neue »Arbeitslosigkeit«, wie der Esel seine schwere Karre immer weiter zieht, wenn er hinter der vorgehaltenen Möhre hertrabt. Wir können und müssen in unseren Debatten die Wut darüber schüren, dass ein menschenwürdiger Umgang mit der Zeit bei der Herstellung von Produkten wie Dienstleistungen unter kapitalistischen Bedingungen einfach unmöglich ist. Bleibt wieder die Frage: Wie kann man sich das auf gesellschaftlicher Ebene anders vorstellen? Ohne weiteres denkbar ist heute unter Einbeziehung »aller Arbeitswilligen« und Nutzung aller Zeitsparmöglichkeiten ein 4-Stunden-Tag als »normale« Arbeitszeit. Diese wäre sicherlich absolut leichter zu ertragen, selbst bei Nacht- und Schichtarbeit, die dann ebenfalls verkürzt wäre. Doch sich von der Verteidigungshaltung zu lösen, also Arbeitszeitverkürzung nicht nur zur Reduzierung der Massenarbeitslosigkeit oder zum Gewinn von »etwas mehr Lebenszeit« zu diskutieren, erfordert eine andere, umfassende Debatte über einen völlig anderen Arbeitstag, über die Ziele unserer gemeinsamen Arbeit, ihre Organisation und Gestaltung, ihre Auswirkungen etc. Ohne die Tatsache zu leugnen, dass auch in einer anderen Gesellschaft die Notwendigkeit unserer Reproduktion durchaus mit mühsamen oder ungeliebten Tätigkeiten verbunden sein wird, würde doch unsere altgewohnte Trennung von Arbeit und Freizeit hinfällig. Die unter uns zu treffenden Absprachen über die Herstellungszeiten der gewünschten und benötigten Güter und Dienstleistungen bedeuten sicherlich eine große Herausforderung. Vieles ist nur gesamtgesellschaftlich planbar und erfordert sogar internationale Absprachen. Man stelle sich vor, wir würden uns in jeder Schicht, jeden Tag, bei vier Stunden Arbeitszeit, zwei weitere Stunden Zeit nehmen für Gruppengespräche und Versammlungen. Sicherlich würden wir sehr viel intensiver und umfassender als bisher darüber reden, was uns an unserer alltäglichen Arbeit gefällt und was nicht und wie wir lieber arbeiten würden. Sinnvoll im Blick auf eine andere Produktionsweise sind die Überlegungen zu organisiertem Erfahrungsaustausch ja nur, wenn wir uns vorstellen, auch in allen anderen Bereichen der Arbeit gäbe es genug Zeit für regelmäßige Team-Gespräche, Versammlungen und Besuche. Warum sollten Leute aus Auto- oder anderen Fabriken nicht die Gelegenheit begrüßen, die Arbeit in den Kindergärten und Schulen oder Universitäten näher kennen zu lernen, wo ihre eigenen Kinder ja genug Probleme haben und mit nach Hause bringen? Auch mit Menschen, die in Warenhäusern oder Krankenhäusern tätig sind oder auch in den städtischen und überörtlichen Verwaltungen, in der Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie oder im Wohnungsbau und der Städteplanung usw. hat man im Leben ja auch immer wieder direkt oder indirekt Kontakt, ohne die jeweilige Arbeit und die damit verbundenen Probleme gut zu verstehen. Und die dort Beschäftigten fänden es vielleicht auch gut und sinnvoll, genug Zeit zu Gruppengesprächen, Versammlungen und Austauschprogrammen zu haben und u.a. in die dann, in der »anderen Welt«, nicht mehr mit Privatzäunen und Werkswachen abgeschotteten Stätten der Produktion ihrer nötigen oder gewünschten Güter öfter mal genauer hineinsehen und mit den Beschäftigten hier reden zu können. Selbstverständliche Effekte einer solchen Ausweitung von Gruppengesprächen, Besuchen und Versammlungen wären zum Beispiel: Wir würden uns besser kennen lernen als Produzierende und Konsumierende und die gesamte gesellschaftliche Reproduktion besser verstehen. Wir würden über Sinn und Unsinn unserer Arbeit miteinander reden, über all das, was wir arbeiten, wie wir das tun und die Arbeit verteilen, und was wir an Nebeneffekten bewirken, an Umwelt- und Nachweltbelastung usw. Als Leute aus der Auto-Industrie würden wir zum Beispiel im Austausch mit Leuten aus den Bus-, Bahn- und Flugzeugunternehmen notwendigerweise das gesamte Verkehrssystem diskutieren und die gesamten Transportbedürfnisse der Gesellschaft in unsere Überlegungen einbeziehen. Je mehr Bereiche der gesellschaftlichen Arbeit wir kennen lernen, desto mehr wird sich das Bedürfnis entwickeln zu »rotieren«, nicht nur in der Kleingruppe am Fließband oder innerhalb der eigenen Abteilung. Man kann sich vorstellen, in seinem Leben zeitweilig in ganz unterschiedlichen Bereichen zu arbeiten. Die heutzutage als bedrohlich empfundene, aufgezwungene Flexibilität würde für viele Menschen zu einer attraktiven Möglichkeit, viele eigene Fähigkeiten und Interessen auszuprobieren und weiter zu entwickeln. Über selbständig organisierte Freizeitaktivitäten, sei es gemeinsamen Sport, Kegeltreffs oder Kulturveranstaltungen, lernen wir KollegInnen aus anderen Arbeitsbereichen kennen - dies entspringt einem sich aus Arbeitskontakten entwickelnden Bedürfnis. Schon jetzt erfährt man am Arbeitsplatz oder bei Kollegenbesuchen oft, welche Hobbies, künstlerischen Fähigkeiten, speziellen Kenntnisse einzelne von uns - oft unerwarteter Weise - haben. Bekommt man mehr mit von der gesamten gesellschaftlichen Entwicklung und hat man mehr freie Zeit zur Verfügung, werden sich ein viel umfassenderer Austausch über kulturelle und Freizeit-Aktivitäten und ein Interesse am Ausprobieren entwickeln. Wenn wir uns eine ganz andere Organisation unserer Arbeit vorstellen, ohne Zwang zum Niederkonkurrieren anderer, bei massiv verkürzter und inhaltlich zum großen Teil ganz anders geprägter Arbeitszeit, ergäbe sich notwendigerweise auch ein ganz anderes Verhältnis zur Familie und zur Hausarbeit. Weniger Zeitdruck, weniger Existenzsorgen würden unser Zusammenleben in Familien und Wohnorten sowie unsere Beziehungen insgesamt untereinander verändern. Wir hätten die Chance, in der Politik, in der Organisation unseres Zusammenlebens überall mitreden zu können. Wir alle sind Mitglieder der Gesellschaft, leben auf lokaler, regionaler und globaler Ebene miteinander verbunden. Wir konsumieren alle, vom ersten Atemzug bis zum letzten. Wir erarbeiten die nötigen und gewünschten Güter und Dienstleistungen arbeitsteilig gemeinsam. Wir können unsere Erfahrungen, Interessen und Wünsche miteinander besprechen. Warum sollten wir mit Hilfe aller von uns erarbeiteten Techniken nicht in der Lage sein, planmäßig abzusprechen, was jeder und jede von uns benötigt und gerne bekommen möchte, so dass dann Geld eigentlich gar nicht nötig wäre? Was und wie können wir auf lokaler Ebene herstellen und verteilen, und welche Güter und Dienstleistungen erfordern Absprachen und Herstellung auf regionaler oder internationaler Ebene? Im Bewusstsein, gesellschaftlich zusammenzuleben, würden wir zu selbstbewussten »Politikerinnen und Politikern« werden. 12. Wollen wir herrschaftsfrei miteinander leben, müssen wir für die erforderlichen Absprachen viel Zeit investieren. Der Entwicklungsstand der Produktivkräfte erlaubt und verlangt das auch. Das Kapital fordert die Menschen heraus, sich einer Zukunftsdebatte zu stellen. Wie sollten wir diese voranbringen? »Die Wirtschaft muss für die Menschen da sein und nicht die Menschen für die Wirtschaft«, heißt eine von Linken oft verbreitete verständliche Forderung. Nur unterliegt man hiermit auch der Gefahr, einen Begriff von »Wirtschaft« zu transportieren, der diese außerhalb unseres Alltagsverhaltens verordnet. Wir machen doch selber durch unsere Arbeit »die Wirtschaft« jeden Tag - derzeit nur nicht in unserem Interesse. Wichtig ist doch, dass wir uns gemeinsam den gesamten gesellschaftlichen Produktionsprozess aneignen müssen, uns diesen in eigener Regie für machbar vorstellen müssen. So könnten wir die Herrschaft der Eliten von innen zersetzen, Wut und Interesse und Zuversicht schüren: Die Aneignung der Produktion und die Enteignung der Kapitalisten, die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln können uns eine »andere Welt«, das »Her mit dem schönen Leben« wirklich näher bringen. So können wir ein Stück wegkommen vom bloßen Anklagen und Entlarven der Mächtigen. Vom notwendigen Tageskampf für die Verteidigung des bisher Erreichten zur Attacke. Und wichtig ist, nicht nach Lösungen zu suchen, die die »normal« Arbeitenden und den gesellschaftlichen Reproduktionsprozess in der Regie der Konzerne und unter den Zwängen der Kapitalverwertung belassen und für die KritikerInnen einen mehr oder weniger bescheidenen Überlebensbereich daneben zu organisieren versuchen, und somit ungewollt eher das Elend verlängern. Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 4/06 (1) Vgl. www.labournet.de/diskussion/arbeit/prekaer/anderewelt.pdf (2) Vgl. Klaus Lang, Jupp Legrand, Zukunft igmetall.de. Hintergrund, Inhalte und Ziele der IGM-Zukunftsdebatte, in: Gewerkschaftliche Monats-Hefte 2/2001, S.76 |