Aus: Jungle World, 30. September 1998

Karl-Heinz Roth 

"Neue Konzepte gegen prekäre Arbeit" 

 

Existenzgeld für alle, 1 500 Mark plus Warmmiete - mit dieser Forderung machen die Erwebsloseninitativen derzeit, wie zuletzt bei ihrem bundesweiten Aktionstag im September, mobil. Der Anspruch auf ein Einkommen unabhängig von Lohnarbeit wurde bereits in den siebziger Jahren im Kontext von Jugendbewegung und Arbeiterkämpfen in Italien erhoben. "Politischer Lohn ist die Möglichkeit, eigenständig für die Organisierung des Kampfes gegen die Arbeit zu arbeiten", verkündete damals der neo-marxistische Operaist Ferrucio Gambio. In Deutschland machte zuerst die sozialrevolutionäre Zeitschrift Autonomie. Neue Folge diese Forderung publik. Karl-Heinz Roth, Arzt und Mitarbeiter des Instituts für Sozialgeschichte in Hamburg, war Mitherausgeber der Autonomie. 

Bei den Erwerbsloseninitiativen ist die Forderung nach einem Existenzgeld wieder aktuell. In der Zeitschrift Autonomie haben Sie bereits Ende der siebziger Jahre ein garantiertes Einkommen verlangt. Halten Sie dieses Konzept immer noch für unterstützenswert? 

Die Autonomie bezog sich auf die Tradition des Kampfes gegen die fordistische Arbeit, also eine ganz bestimmte, historisch faßbare Form von Ausbeutungsverhältnissen. In diesem Kontext haben wir gesagt: Unsere Kämpfe müssen sich von den Arbeitsverhältnissen ablösen, und deshalb fordern wir im Kampf gegen die Arbeit ein garantieres Einkommen. Soweit ich mich erinnere, haben wir uns jedoch davor gehütet, konkrete Zahlen zu nennen. Das scheint mir auch der entscheidende Unterschied zu heute zu sein: Wir waren damals in einer sozialen Massenbewegung verankert und haben nach Kampfformen gesucht, die diese Bewegung vereinheitlichen und vorantreiben würden. Heute würde ich jede Übertragung dieser Parole ablehnen. 

Sie kritisierten schon vor einigen Jahren die "larmoyante Petitionspolitik" der Erwerbsloseninitiativen, die sich zunehmend an den sozialpolitischen Vorstellungen von Grünen und PDS orientierten. Deren Grundsicherungsmodelle seien durchaus mit den neuen Arbeitsverhältnissen kompatibel. 

Die Gefahr liegt in dem Versuch, eine reformistische Sozialpolitik von unten zu betreiben. Wir leben heute in einer völlig anderen strategischen Struktur von Ausbeutung als noch vor dreißig Jahren. Das Kapital betreibt mittlerweile weltweit eine Strategie der Unterbeschäftigung, d.h., es hat als Antwort auf die Revolten der siebziger Jahre die Vollbeschäftigungsutopie abgeschafft und völlig neue Ausbeutungsverhältnisse produziert: die ungarantierten Arbeitsverhältnisse auf der Basis von Niedriglöhnen, die durch eine industrielle Reservearmee abgesichert sind. 

Diese Entwicklung vernachlässigen die neuen Erwerbsloseninitiativen. Und wir haben damals in einem globalen Kontext agiert - heute bewegen sich diese Initiativen sehr stark in einem nationalstaatlichen Rahmen. Das erscheint mir doch sehr bedenklich. 

Dient eine Grundsicherung also nur dazu, um prekäre Jobs und Billiglohnarbeit zu subventionieren? Neoliberale Wirtschaftswissenschaftler schlagen z.B. vor, durch eine negative Einkommenssteuer eine niedrige Grundsicherung zu finanzieren, damit schlecht bezahlte Arbeit angenommen wird. 

Ich möchte den Erwerbsloseninitiativen nicht ihre Legitimation absprechen und in einer fatalen alten linken Tradition über sie herfallen. Das ist nicht mein Anliegen. Dennoch erscheint mir das Konzept theorielos. In Deutschland besteht die Möglichkeit, daß die Forderung nach einem Existenzgeld in ein sozialdemokratisch-grünes Projekt integriert wird. Dieses Projekt läuft grob gesagt auf einen neuen Innovationsschub für das Kapital hinaus, der mit Hilfe einer Energie- und Einkommenssteuer geschaffen werden soll. Mit Hilfe dieses Innovationsprozesses werden dann die neuen Arbeitsmärkte - und zwar im Niedriglohnbereich - finanziert. Das bedeutet eine neue Politik der Armut. 

Die neoliberalen Konzepte laufen auf tabula rasa hinaus; das möchten die Rot-Grünen natürlich auch nicht. Die neuen prekären Verhältnisse sollen im Sinne einer traditionellen Armutspolitik bzw. Wohlfahrtspolitik durch eine minimale Grundsicherung ergänzt werden. 

Die Erwerbsloseninitiativen verbinden das Grundsicherungsmodell jetzt mit der Forderung nach einem Mindestlohn. Sind Ihre Bedenken damit nicht ausreichend berücksichtigt? 

Diese neue Entwicklung geht teilweise auf Diskussionen zurück, an denen ich und auch die Wildcat-Initiative einen gewissen Anteil haben. Dennoch ist das linke Existenzgeldmodell realitätsfremd. Heute müssen alle mehr schuften und beziehen gleichzeitig weniger Einkommen als je zuvor. Die längerfristige Arbeitslosigkeit ist eigentlich eine Ausnahmesituation. Ein Existenzgeld ohne irgendeine Form von Minimallohn im Ausbeutungsprozeß ist völlig absurd. 

Diese Einsicht ist in Frankreich schon länger verbreitet als hier. Dort existiert ein neuer Gauchisme, eine neue radikale linke Unterströmung, die mit der alten Linken der sechziger Jahre gar nichts mehr zu tun hat und die deswegen auch sehr interessant ist. 

Das Problem besteht aber auch darin, daß wir in globalisierten Ausbeutungsverhältnissen leben, die sehr stark regional bestimmt sind, wie etwa die Euro- oder die Nafta-Zone. Und in diesem Kontext gibt es die Möglichkeit einer neuen internationalen Assoziation. Man könnte aus der sozialpolitischen Umklammerung des Sozialstaats, der den Ärmsten ein erbärmliches lntegrationsangebot unterbreitet, endlich ausbrechen und eine internationalistische Politik machen - das scheint mir das entscheidende Kriterium. 

Auf welche sozialen und ökonomischen Entwicklungen kann sich ein solches globales, universelles Konzept beziehen? Und beinhaltet dies nicht auch wieder die Gefahr einer falschen Homogenisierung? 

Es gibt einen sehr handfesten Bezug: Das globalisierte Kapital hat sich regional vernetzt. Es gibt heute eine Hierarchie von ungefähr 500 bis 600 regionalen Akkumulationszentren, um die herum die übrigen Territorien gruppiert werden. Gleichzeitig existiert ein Migrations- und Ausbeutungsgefälle, das durch die Politik der neuen Grenzen und der entstehenden Machtzentren mit verursacht wird. Diesen Prozeß dürfen wir im Gegensatz zu früher nicht mehr vernachlässigen. Obwohl das ein wichtiger Faktor ist, besteht der entscheidende Ansatzpunkt darin, daß wir in diesen regionalen Zentren die materielle Form des globalisierten Kapitalismus vor uns haben. 

Es müßte möglich sein, aus einer regionalen Verankerung heraus neue Positionen zu entwickeln, die aus den sozialen Kämpfen entstehen und in denen es vorrangig darum gehen sollte, ein minimales Grundeinkommen im Kampf gegen prekäre Arbeitsverhältnisse durchzusetzen. Natürlich sollten die Risiken des proletarisierten Daseins, wie Krankheit, Invalidität, Alter etc. miteinbezogen werden. 

Das wäre eine universelle Konzeption. Solche Parolen gibt es in den unterschiedlichsten Facetten auch auf den Philippinen, in Zentralamerika, teilweise auch in Ost- und Mitteleuropa. Hier bietet sich die Chance, eine neue Universalität im Sinne des Internationalismus herzustellen. Im Grund ist das eine sehr alte Erkenntnis: Daß Proletarierinnen und Proletarier kein Vaterland haben ... 

Diese Erkenntnis lassen insbesondere die deutschen Proletarier oft vermissen. Eine Vertreterin des Berliner Sozialbündnis, Ruth Fischer, sprach in diesem Zusammhang von dem "Bacillus teutonicus" (Jungle World, Nr. 37/98). Dabei handelt es sich wohl weniger um einen Bazillus, sondern um das Fundament der deutschen Geschichte. Steht dieses Erbe internationalistischen Vorstellungen nicht diametral entgegen? 

Zweifellos. Das ist die Geschichte der großen historischen Niederlagen: Die Niederlage der deutschen und der europäischen Arbeiterbewegung im August 1914, der Triumph der Konterrevolution von 1918/19, der historisch übrigens noch überhaupt nicht aufgearbeitet worden ist, dessen Fortsetzung in der Weimar Republik mit seiner ganzen Brutalisierung und auch in der anschließenden Generalisierung zum ethnisch begründeten Massenmord in der Nazi-Diktatur. Das sind ungeheure Hypotheken. Wir haben uns in den sechziger, siebziger Jahren sehr bewußt in einen internationalistischen Kontext begeben und dieses Phänomen vernachläßigt. Das können wir nicht abstreiten. 

Der Legalismus in der deutschen Arbeiterbewegung hat sich leider auch über die kommunistische Tradition etabliert. Daher sind wir hier mit einer besondere Gesichtslast konfrontiert - anders als in Ländern, die sich ganz oder zumindest partiell selbst von der Nazi-Herrschaft befreit haben. Wir kennen aber auch die altfaschistischen und pro-deutschen Restaurationsprozesse in Ost- und Mitteleuropa. Es gibt eine offene Wiederbelebung der Kollaboration mit der Nazi-Diktatur; wir sind heute in Europa mit einer neofaschistischen Option konfrontiert. Das ist ein neues Phänomen, das wir mitbedenken müssen. 

Dennoch sollte uns das nicht dazu verleiten, in alte Defensivpositionen, beispielsweise der Antifa-Politik, zu verfallen. Den größten Erfolg verspreche ich mir davon, wenn wir eine glaubwürdige, neue sozialrevolutionäre Politik aus einem regionalen Bezug heraus entwickeln könnten. Wenn wir diese Attraktivität erreichen, wenn wir aus unserer Ghettoisierung ausbrechen, wenn wir wieder Vitalität zeigen, dann werden wir auch gegen dieses lebensfeindliche, mörderische Prinzip des Tods, der ein Meister aus Deutschland ist, und das im Neofaschismus wieder lebendig wird, eine Alternative darstellen.