Ethos, Utopie und Ideologie der ‚lavoro autonomo‘

Thomas Seibert.

 

Ich werde der Frage nach Ethos, Utopie und Ideologie der Arbeit in ihrer historischen Aktualität nachgehen, und zwar hinsichtlich der Umwälzungen der Arbeitsverhältnisse im neoliberal globalisierten Kapitalismus.

Diese Umwälzungen beruhen auf der in den vergangenen zwanzig Jahren erreichten Internationalisierung der Produktion, mit der sich das Kapital aus seiner Bindung an nationalstaatliche Regulierungen befreit hat. Das damit verbundene sprunghafte Wachstum der Produktivität hat zu einer weltweiten strukturellen Massenarbeitslosigkeit geführt, mit der eine umfassende Neuzusammensetzung der Arbeit – und das heißt: der Klassen- und der Geschlechterverhältnisse – möglich wurde. Dabei wurde die Lohnarbeit und das mit ihr verbundene Normalarbeitsverhältnis tendenziell aus ihrer Zentralstellung verdrängt und durch eine Vielzahl anderer, z.T. bisher verdeckter, randständiger, historisch scheinbar überwundener oder aber gänzlich neuer Formen der Arbeit ersetzt. Diese reichen von verschiedenen Formen mit Erwerbslosigkeit wechselnder Teilzeitarbeit über Formen der Heimarbeit, der Leiharbeit zu erneuerten Formen der Subsistenzproduktion und schließlich zu Zwangsarbeitsverhältnissen, ja sogar zu neuen Formen von Sklavenarbeit. Letzteres gilt nicht etwa nur für die Schattenökonomien niederkonkurrierter Länder Asiens, Afrikas oder Lateinamerikas. Tatsächlich arbeiten heute mitten in den Metropolen Menschen unter sklavenhalterischen Bedingungen: Dies gilt beispielsweise für nicht wenige der polnischen oder portugiesischen Bauarbeiter oder der thailändischen oder russischen Prostituierten, die als Illegalisierte in Berlin leben und arbeiten müssen.

Bezeichnet man den Sektor der rechtlich und materiell relativ abgesicherten Lohnarbeit als den formalisierten Sektor der Produktion, so können sämtliche andere Arbeitsformen als informelle Arbeit bezeichnet werden. Die Ausbeutung der Arbeitskräfte des formellen Sektors setzt die Ausbeutung der Arbeitskräfte des informellen Sektors voraus oder wird durch sie ergänzt. Während in den Ländern der Peripherie die meisten Menschen im informellen Sektor arbeiten müssen, bildet dieser Bereich in den Metropolenländern eine allerdings rasant wachsende Randzone neben dem im selben Tempo schrumpfenden formellen Sektor. Der Tendenz nach wird allerdings auch hier in nicht allzuferner Zeit eine Arbeitselite sogenannter „Kernbelegschaften" einer Masse von Menschen gegenüberstehen, die in prekären, d. h. rechtlich und materiell ungeschützten Arbeitsverhältnissen existieren müssen wenn sie denn überhaupt noch in einem Arbeitsverhältnis stehen.

Um zu klären, was in diesem Prozess Ethos, Utopie und Ideologie der Arbeit sind, werde ich im folgenden auf den Begriff der lavoro autonomo, d.h. der „selbstständigen Arbeit" zurückgreifen, mit dem ein zentrales Moment in der Umwälzung der Arbeitsverhältnisse gefaßt wird. Der Begriff der selbstständigen Arbeit bezeichnet Arbeitsverhältnisse , in denen die Arbeiterin formell als Selbstständige auftritt, faktisch aber nicht anders als der Lohnarbeiter von der Verwertung ihrer Arbeitskraft abhängig ist. Dies gilt für alle sogenannten „scheinselbstständigen Arbeitsverhältnisse" – etwa die der polnischen oder portugiesischen Bauarbeiter, die formell freie Unternehmer, faktisch aber tendenziell Sklaven ihrer Kontraktoren sind. Es gilt aber auch für die Hundertausenden von selbständigen Produzentinnen und Kleinstunternehmern, die häufig von einem einzigen „Kunden" abhängen, ohne dessen Nachfrage sie sofort und umstandslos erwerbslos wären. Viele selbstständige Arbeiter sind hochqualifiziert und haben den Weg in die Selbstständigkeit gewählt, um sich von der Erwerbslosigkeit zu befreien, andere sind aus der Lohnarbeit in die selbstständige Arbeit geflohen. Selbstständige Arbeiter sind in der Regel all diejenigen, die im Besitz eines Produktionsmittels sind, das ihnen wie z.B. ein Macintosh-Computer eine Form der „kleinen Warenproduktion" oder aber wie ein Taxi eine Dienstleistungstätigkeit ermöglicht. Der Tendenz nach können allerdings auch die Lohnarbeiter als selbstständige Arbeiter bezeichnet werden, die innerhalb der vollständig flexibilisierten Fabrik ohne Anleitung eines Vorarbeiters im selbstbestimmten Team und nach selbstbestimmten Plänen operieren.

Das in der selbstständigen Arbeit wirksame Arbeitsethos ist das des freien Unternehmers und mithin das des autonomen Subjekts. Während der traditionelle Lohnarbeiter gezwungen war, seine Subjektivität aufzugeben, um in der Fabrik als „gelehriger Körper" bloßes „Anhängsel der Maschinerie" zu sein, muß die selbstständige Arbeiterin ihre Subjektivität zu ihrem ersten Produktionsmittel machen, muß ganz ausdrücklich das Subjekt ihrer Arbeit sein. Ebendeshalb werden entsprechende Ausbildungsprogramme als sog. „Empowermentprogramme" bezeichnet – als Programme der Ermächtigung und Selbstermächtigung zur selbstständigen Führung des eigenen Daseins. Aus demselben Grund nennt man ehemalige Lohnarbeiter oder Erwerbslose, die sich in die Prekarität der selbstständigen Arbeit begeben, „Existenzgründer" – ein Begriff, der unmittelbar der Existenzphilosophie und ihrer Ethik der individuellen Autonomie entnommen sein könnte.

Weil die Subjektivität das erste Produktionsmittel der selbstständigen Arbeit ist, dehnt sich die Arbeit auch auf die ganze Existenz der selbstständigen Arbeiter aus. Gilt für den Lohnarbeiter noch die strikte Trennung von Arbeitszeit und Freizeit, von Arbeitsplatz und privatem Raum, so ist die selbstständige Arbeiterin immer und überall „auf der Arbeit": Arbeit und Existenz werden deckungsgleich. Darin liegt dann auch, daß die Arbeit keine besondere Tätigkeit neben anderen Tätigkeiten mehr ist: alles ist produktiv, nicht bloß die einzelne Verrichtung oder Dienstleistung. Resultat der Arbeit ist dann auch nicht bloß das einzelne Produkt oder die einzelne Dienstleistung, sondern das Existenz-Unternehmen selbst und vor allem das Netzwerk von Beziehungen und Kommunikationen, in das es verspannt ist. Insofern lautet die erste Forderung, der sich der selbstständige Arbeiter unterwirft, nicht einfach: „Sei Subjekt", sondern genauer: „Sei Subjekt deiner Beziehungen, Subjekt deiner Kommunikationen und Kontakte".

Die Ideologie der selbstständigen Arbeit liegt nun aber gerade in dieser ersten Forderung ihres Ethos. Zwar muß das zu sich selbst ermächtigte Subjekt in der Gründung und Erhaltung seiner Existenz ganz auf die eigene Autonomie bauen: Doch bleibt gerade diese Autonomie jederzeit unterworfene Autonomie. Während der traditionelle Lohnarbeiter dem Kommando der Fabrikdisziplin passiv unterworfen wird, muß der selbstständige Arbeiter jederzeit von sich aus aktiv sein und seine Tätigkeit selbst koordinieren – nur um sich in all‘ seiner Selbstbestimmung einem Produktionsprozeß einzuordnen, über den er nicht verfügen kann. Wie Maurizio Lazzarato richtig feststellt, ist der Aufruf ‚Sei Subjekt‘ „also ein Ordnungsruf, weit entfernt, den Antagonismus zwischen Hierarchie und Kooperation, zwischen Autonomie und Kommando auszulöschen. Statt dessen wird dieser Antagonismus auf höherer Ebene reproduziert, indem er die Persönlichkeit der individuellen Arbeiterin und des individuellen Arbeiters mobilisiert und sich ihr zugleich entgegenstemmt. In erster Linie begegnen wir hier einem autoritären Diskurs: Man muß sich ausdrücken und sich äußern, man muß kommunizieren und kooperieren. (...) ‚Seid Subjekte der Kommunikation‘, lautet also die Parole des Managements, (...) denn der Kapitalist zielt darauf, die Subjektivität und Persönlichkeit der Produzenten bei der Produktion des Werts zu vernutzen. Das Kommando soll im Subjekt und in der Kommunikation verankert werden. Die Arbeitenden stehen unter Selbstkontrolle und Selbstverantwortung (...), ohne das ein Vorarbeiter eingreifen müßte." (M. Lazzarato in Atzert (Hrsg.), S. 43f.). Und wenn der selbstständige Arbeiter der Spaltung zwischen Arbeitszeit und Lebenszeit und der Einsperrung in die Fabrik entkommen ist, so letztlich nur deshalb, weil die Fabrik die ganze Zeit und den ganzen Raum der Existenz durchdrungen hat, und zwar nicht nur der individuellen Existenz, sondern der sozialen Existenz. Insofern gilt das, was von der selbstständigen Arbeit im informellen Sektor gesagt werden kann, auch von der modernisierten Lohnarbeit: Auch hier wird das alte Kommando – der Ausschluß der Subjektivität unter der Disziplin der Maschinerie – abgelöst durch ein Kommando, das in die Subjekte selbst hineinverlegt wird: Auf dem Weg der Gruppenarbeit und ohne Vermittlung eines Vorarbeiters.

Wenn es eine Utopie der selbstständigen Arbeit gibt, dann kann sie nur im Widerstand dieser Arbeit gegen die Unterwerfung ihrer Autonomie entwickelt werden. Die selbstständige Arbeit hätte sich nicht so schnell ausbreiten können, wenn sie nicht einem mächtigen subjektiven Bedürfnis entspräche. Tatsächlich entspringt sie historisch den späten Revolten der Lohnarbeiter – jenen Sozialrevolten der sechziger und siebziger Jahre, in denen der Status des Lohnarbeiters nicht mehr angehoben und verbessert, sondern als solcher angegriffen und überwunden werden sollte. Hunderttausende rebellierten damals gegen die Einsperrung in die Fabrik, gegen die Einordnung in die Maschinerie, gegen die Spaltung von Arbeitszeit und Lebenszeit, von Arbeiten und Wohnen, gegen die Unterwerfung ihrer Existenz in das lebenslange Normalarbeitsverhältnis Montags bis Freitags von Acht bis Fünf. Die Einrichtung selbstständiger Arbeitsverhältnisse und die Umstellung der Produktion von der zentralisierten Fabrik in die Netzwerkunternehmen vom Typ Benetton, das massenhafte outsourcing von Teilproduktion in die Klein- und Kleinstunternehmen selbstständiger Arbeiter stellt nicht einfach nur die Gegenstrategie des Kapitals gegen die Revolten der Lohnarbeiter dar: sie wurden auch als Möglichkeiten ergriffen, der Lohnarbeit und dem Fabrikkommando zu entfliehen.

Wenn es zu Revolten der selbstständigen Arbeiter und dabei auch zur Artikulation einer Utopie der selbstständigen Arbeit kommen wird, dann wird es darin nicht um die Forderungen und um die Utopien von Lohnarbeitern gehen. Es wird nicht um Lohnerhöhungen und nicht um die Regulation der Arbeitszeit gehen, sondern darum, sich der Aneignung der selbstständigen Arbeit durch das Kapital zu widersetzen. Die selbstständigen Arbeiter werden den „Ordnungsruf" ‚Sei Subjekt‘ gerade im Namen ihrer Subjektivität zurückweisen. Dies kann nur aus der Ambivalenz ihrer Situation heraus erfolgen:

Einerseits wollen sie sich durch ihr persönliches Eigentum an ihren Produktionsmitteln – sei es ein Macintosh, sei es ein Taxi – ein Arbeitsverhältnis ermöglichen, in dem sie sich in der Arbeit selbst bestimmen können, weil sie – beispielsweise – autonom über ihre Zeit entscheiden können: jenseits der Trennung von Arbeitszeit und Freizeit und frei von der Einsperrung in die Werkshalle oder das Büro, frei vom Kommando eines Vorarbeiters oder Abteilungsleiters.

Andererseits nimmt ihnen gerade ihre Selbstständigkeit die Möglichkeit, die erwünschte Autonomie zu realisieren: sie bleiben schutzlos dem „Kunden" oder „Auftraggeber" ausgeliefert, der gerade ihre Selbstständigkeit und das heißt: ihre Subjektivität, ihre der Möglichkeit nach autonome Existenz verwertet – oder eben nicht.

Soll diese Abhängigkeit gebrochen werden, muß sich die freigesetzte Subjektivität der selbstständigen Arbeit von dem Zwang befreien, sich verkaufen zu müssen, verwertbar sein zu müssen, nachgefragt werden zu müssen. Die Autonomie in der Arbeit muß zur Autonomie der Arbeit selbst radikalisiert werden – zu einer Autonomie, in der die Arbeit jede fremde Verfügung über sich zurückweist. Dies führt dann über die Revolten hinaus, in denen ‚nur‘ das Regime der Fabrik, die Macht der Hierarchie, die Spaltung von Arbeitszeit und Lebenszeit, von Produktion und Reproduktion zurückgewiesen wurde.

Ich glaube, daß eine so weit radikalisierte Autonomie der Arbeit der utopische Kern ist, der in der Forderung nach einem unbedingten Existenzgeld enthalten ist. Nicht zufällig taucht diese Forderung in den schon erwähnten Sozialrevolten der späten Lohnarbeiter und dann in den ersten Revolten der prekär Beschäftigten, der Jobberinnen und Erwerbslosen auf, d. h. in den Revolten derjenigen, die das soziale Feld der selbstständigen Arbeit bilden. In ihrer radikalen Form genommen – als Forderung nach einem Einkommen, das allen ohne Gegenleistung zusteht, ohne jede Verpflichtung zur Arbeit, in einer Höhe, die es erlaubt, zu leben ohne arbeiten zu müssen – zielt diese Forderung auf die Entkopplung von Lebensunterhalt und Erwerbstätigkeit und damit auf die Befreiung der Subjektivität zu den Tätigkeiten, in denen sie sich selbst und als solche, als freie Subjektivität, realisiert. Eine Utopie der Arbeit ist dies nur insoweit noch, als es eine Utopie der befreiten Existenz ist.

Selbstverständlich dürfen die Forderung und ihr utopischer Kern nicht verwechselt werden: Nicht auf die bloße Forderung kommt es an, sondern auf das Hervortreten von Subjekten, die sich praktisch aneignen, was mit der Forderung gemeint ist. Hier liegt die ganze Zweideutigkeit der massenhaften Ausbreitung selbstständiger Arbeit: Was zunächst nur die fortgeschrittenste Form der Unterwerfung der Arbeit ist – die Verlagerung des Kommandos in die Subjekte selbst - , kann zur Keimform ihrer Befreiung werden. Dies aber kann nicht als fortschreitende, kontinuierliche, gleichsam automatische Entwicklung gedacht werden, sondern nur als ein Bruch mit der Ideologie der Arbeit, der organisiert werden muß.

 

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