Hinterm Arbeitshorizont geht’s weiter...

 

„Die Arbeitslosigkeit wird in den meisten Industrieländern dauerhaft zunehmen...Massengüter bis hin zu Autos werden ab 2014 komplett maschinell hergestellt. Die Fernwartung von Maschinen...spart weitere Stellen ein. Für Sekretärinnen fallen Aufgaben weg: Bis 2008 sind Computer, die auf Sprache reagieren, so verbreitet wie ihre heutigen Vorläufer... In zehn Jahren beschäftigen effiziente Firmen 40 Prozent der Arbeitnehmer nur noch befristet." ( Studie „Delphi ‘98", Stuttgarter Nachrichten, 18.12.98) Für immer mehr Menschen heißt das Arbeitslosigkeit, Teilzeitarbeit oder Billigjobs der übelsten Sorte, wie sie im „Wunderland" USA schon heute zu bestaunen sind. Statt uns weiter über die „Zukunft der Arbeit" in die Tasche zu lügen, sollten wir den Tatsachen endlich ins Gesicht sehen.

 

Die dreifache Krise der Arbeit

Ökonomisch ist das Wohl und Wehe der Arbeit, genau wie das des Kapitals, an ein unendlich steigendes Wirtschaftswachstum geknüpft. Doch selbst dieses vermag heute immer weniger Arbeit zu garantieren. Die mikroelektronische Produktivkraftrevolution seit Mitte der siebziger Jahre beinhaltet eine radikale Verkürzung der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit, eine massenhafte Einsparung menschlicher Arbeitskraft ohne historisches Beispiel. Die wenigen „neuen Arbeitsplätze" - soweit sie nicht von vornherein schon lediglich auf dem fiktiven Boden des bodenlos aufgeblähten Finanzsystems erblühen - stehen in keinem Verhältnis zur immer größer werdenden Masse der unwiederbringlich verlorenen. Alle Vorstellungen von einer „Rückkehr der Vollbeschäftigung" sind rückwärtsgewandte Wunschträume ohne ökonomische Basis. Die rasch umsichgreifende weltweite Krise des internationalen Finanzsystems mit dem Zusammenbruch ganzer Nationalökonomien unterstreicht das. Sie klopft überdies immer lauter an die Pforten der industriellen Zentren.

Ökologisch steht die Arbeit, genau wie das Kapital, für die fortschreitende Zerstörung der Lebensgrundlagen. Wie dem Kapital der Profit jedes Verbrechen heiligt, so der Arbeit der Arbeitsplatz. Die Arbeiterklasse muß um jeden Arbeitsplatz kämpfen, ganz gleichgültig, welche Katastrophen er verursacht. Daher das durchaus folgerichtige Schwärmen für Adolfs Autobahnen genauso wie der Kampf für Atomkraftwerke, welche Art Klassenkampf bekanntlich die ekelhaftesten Blüten treibt. Wir haben es mit einem gespaltenen Irresein der Gesellschaft als ganzes wie auch der Einzelnen zu tun. Ob ein Konzernboß verkündet: „Wir wissen zwar ganz genau, daß es viel zu viele Autos gibt, aber unser Problem ist, daß es zuwenig BMWs gibt.", oder ob Lieschen Müller erklärt: „Der Autoverkehr ist eine einzige Katastrophe, die unsere Lebensqualität untergräbt, aber zur Sicherung meiner Lebensqualität brauche ich mein Auto." - es ist die gleiche Zerrissenheit.

Der Gebrauchswert ist nichts Neutrales, Objektives. Der Wert einer Landmine in Geld ausgedrückt betrage 500 Mark, ihr Gebrauchswert besteht darin, Kinder, die damit spielen wollen, zu zerfetzen. Es wäre vollkommen danebengegriffen, wenn mensch die von der Megamaschine ausgespuckten Gebrauchswerte unbesehen gleichsetzen würde mit „wertvoll für den menschlichen Gebrauch".

In der beginnenden Debatte über Lebensqualität spricht sich langsam - wie auch sonst? - die Erkenntnis herum: „weniger, langsamer, schöner, besser". Allein schon unter diesem Gesichtspunkt steht ein Großteil der derzeit noch vorhandenen Arbeitsplätze zur Disposition: „Besser leben" - das hätte heute zumindest in den industriellen Zentren zur Voraussetzung: weniger Arbeit, schrumpfende Wirtschaft.

 

Glücklich?

Leben unter der DiktatUhr. Vor dem Chef zittern. Mit Schwachsinnigem sein Geld verdienen. Ausgepowert sein. Absaufen im Alkohol. Vor der Glotze hängen. Angst vor der Leere. Überstunden ohne Ende. Dem Geld hinterherhetzen. Herzinfarkt mit fünfzig. Unfähig zur Liebe. Gewalt in der Familie. Haß auf alles Fremde. Von nichts mehr wissen wollen. „Man kann ja doch nichts ändern."

 

Politisch tendiert der Spielraum der Arbeit - und damit der Arbeiterbewegung - gegen Null. Alle Vorstellungen, die über die Verteidigung gewisser Standards und relativer Privilegien von immer kleiner werdenden Bevölkerungsteilen oder „Stammbelegschaften" hinausgehen, laufen in der Realität auf Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich hinaus. ( Beispiel Holland, Dänemark, USA... demnächst auch Beispiel Deutschland, denn genau das wird das Ergebnis des „Bündnisses für Arbeit" sein.) Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit für einen immer größer werdenden Teil der Menschen - das ist die realistische Zukunftsperspektive und nicht Wachstum der Massenkaufkraft und Vollbeschäftigung.

Abgesehen von der ökologischen Unverträglichkeit weiter wachsenden Massenkonsums: Keynesianistische Konzepte, die auf die Stärkung der Massenkaufkraft setzen, sind mittel- und langfristig zum Scheitern verurteilt, weil die radikale Verkürzung der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit in Verbindung mit dem Umstand, daß jedes Einzelkapital „bei Strafe des Untergangs" (Marx) den rücksichtslosesten Konkurrenzkampf führen muß, dafür keinen Spielraum hergibt. Anders gesagt: Die Gesetzmäßigkeiten der Ökonomie sind nicht politisch zu überlisten. Das abrupte Ende des lauwarmen Lafontainschen Winters der Nachfrageorientierung beweist im übrigen aktuell die Perspektivlosigkeit des politischen Keynesianismus.

Damit ist selbstredend nicht gesagt, daß auf gewerkschaftliche und politische Abwehrkämpfe verzichtet werden soll. Solche Kämpfe sind notwendig, aber sie werden nicht bewirken, daß das Wasser den Berg hinauf fließt. Von ihnen kann kein wesentlicher Schub in Richtung historischer Fortschritt bzw. Emanzipation des Menschen mehr ausgehen.

Gesellschaftlicher Fortschritt heute heißt: Aufhebung der Arbeit.

Es geht nicht nur um eine Krise der Lohnarbeit. Schon weil mit diesem Begriff ein Großteil der herrschenden Arbeit gar nicht zu fassen ist. Es geht um die Krise der Arbeit als gesellschaftlich wirksamer „Realabstraktion" (Alfred Sohn-Rethel). Was ist darunter zu verstehen? Nichts erscheint selbstverständlicher als die „Arbeit" und doch ist sie ein Kind historischer Verhältnisse. Dies zeigt schon die Herkunft des Wortes „Arbeit" in verschiedenen Sprachen aus „Last, Qual, Folter" usw. Daß Menschen sich schon immer ernähren, kleiden usw. mußten ist eine Binsenweisheit. Das hat sie jedoch lange Zeit nicht dazu bewogen, ihren vielfältigen Stoffwechselprozeß mit der Natur in den Begriff der „Arbeit" zu zwängen.

Eine solche Abstraktion macht erst dort Sinn, wo nicht mehr nur Produkte hergestellt, sondern Waren produziert werden. Die Warenform sorgt dafür, daß die gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen untereinander scheinbar die Form eines Verhältnisses von Dingen annehmen. Die Produkte ihrer „Privatarbeiten", die Waren eben, vergleichen sich untereinander nach dem Quantum der in ihnen geronnenen Verausgabung abstrakter menschlicher Arbeit, oder, kurz gesagt, nach dem „Wert". Die Verausgabung abstrakter menschlicher Arbeit, bar jeder qualitativen Bestimmtheit, ist die Basis des „Wertes". Erst wo der „Wert" als Form gesellschaftlicher Vermittlung benötigt wird, macht die „Arbeit" Sinn.

Die Warenproduktion entfaltet sich erst im Kapitalismus voll und wird erst dort zum allgemeinen gesellschaftlichen Verhältnis, jetzt wird - mit der Mehrwertproduktion - der Wert aus einem ursprünglich vermittelnden Medium zum Selbstzweck. Es entsteht ein geschlossenes System der Wertverwertung, das unaufhörlich abstrakte menschliche Arbeit in Wert ( bzw., was nur dessen allgemeine Erscheinungsform ist, in Geld) verwandelt.

Eben weil die herrschende Realabstraktion „Arbeit" der kapitalistischen, warenproduzierenden Produktionsweise immanent ist, taugt sie auch nicht zur Überwindung dieser Zustände.

 

Geht’s uns gut?

Wer hat Zeit ? Wer atmet gute Luft? Wer lebt ohne Streß? Wer leidet nicht unter Lärm? Wer ist suchtfrei?

 

„Kapitalverhältnis nein, Warenproduktion und Arbeit ja"- das ist logisch und praktisch unmöglich, was nicht zuletzt die diversen Realsozialismen und ihr ruhmloser Abgang zur Genüge bewiesen haben.

Der Arbeiterbewegungs-Marxismus blieb immer auf dem Boden der Warenproduktion kleben. Seine Kritik beschränkte sich auf die Aneignung des Mehrwerts, während er den Wert selbst außerhalb der Kritik beließ. Wert, Ware, Geld, Arbeit wurden nicht hinterfragt, sollten nur - „nach der Revolution" - „positiv besetzt" werden. Heute stößt diese begrenzte, nicht radikale Kritik des Kapitalismus ihrerseits überall an ihre Grenzen.

 

Was ist Lebensqualität?

Das ist heute zu einer Frage mit enormer gesellschaftlicher Sprengkraft geworden. Sie erschöpft sich nicht in der Forderung nach „gerechter Verteilung des Kuchens", sie stellt die Frage nach der Beschaffenheit des angeblichen Kuchens selbst. Diese vielerorts aufbrechende Debatte kann in den so lange ersehnten und dringend erforderlichen emanzipatorischen gesellschaftlichen Umbruch münden, wenn es gelingt, sie mit der grundsätzlichen Infragestellung des Systems der blinden Wertverwertung, des Systems von Arbeit, Ware, Wert und Geld zu verbinden. Emanzipatorisches Potential entwickelt sich heute dort, wo der angebliche Reichtum der Waren- und Arbeitswelt als Armut, als Gefängnis, als Verhöhnung des Menschen erkannt wird.

Angesichts einer noch nicht greifbaren, überzeugenden Alternative mag der Ruf nach „Arbeit, Massenkaufkraft und Vollbeschäftigung" verständlich scheinen. Aber er führt nur weiter in die Wüste. Grundlegende gesellschaftliche Umwälzungen haben bekanntlich zur Voraussetzung, daß Massen von Menschen nicht mehr so weiterleben wollen als bisher. Und daß sie nicht der Illusion aufsitzen, man könne zurückkehren in längst vergangene Zeiten. Erst wenn wir uns - zunächst in unseren Köpfen - aus den Zwängen der Waren- und Arbeitsgesellschaft lösen, kann der Ruf nach dem Recht auf ein besseres Leben zum Ausgangspunkt wirklicher revolutionärer Veränderungen werden.

 

Ausstieg und Widerstand

Heute stellen sich vielfältige Aufgaben:

Auf der Ebene von Analyse und Theorieentwicklung geht es um die Aufhebung der bloßen Mehrwert-Kritik in einer Wert-Kritik.

Auf der Ebene der gesellschaftlichen Praxis ist die Organisierung und Auswertung vielfältiger neuer Ansätze und Erfahrungen angesagt. Wie können gewerkschaftliche Kämpfe heute aussehen? Welche Zwischenbilanz aus Alternativprojekten können wir ziehen? Wie verbinden wir Abwehrkämpfe mit Kämpfen um mehr Lebensqualität?

Programmatisch-strategische Vorstellungen sind neu zu entwickeln. In welchen Verhältnis stehen Widerstand und Ausstieg? Welchen Stellenwert hat die Frage der „politische Macht"? Wie stellt sich die Organisationsfrage heute? Wie können größere, stabile Vergesellschaftungsformen „jenseits der Arbeit" aussehen? ...

Eines steht fest: Das Ende der Arbeit heißt nicht, daß wir nichts mehr zu tun haben.

 

Reichtum?

Porno statt Liebe. Lärm statt Ruhe. Handies statt Gespräche. Gewalt statt Zärtlichkeit. Autos statt Kinder. Beton statt Grün. Glotze statt Glück. Plastik statt Natur. Ellenbogen statt Menschlichkeit. Last minute statt Erholung. Fern sehen statt nah leben.

 

Literatur: Manifest der Glücklichen Arbeitslosen; Krisis - beiträge zur kritik der warengesellschaft, Bad Honnef (www.magnet.at/krisis);

Streifzüge, Wien; Hans-Georg Backhaus: Dialektik der Wertform, Freiburg 1997; Michael Heinrich: Die Wissenschaft vom Wert, Hamburg 1999

Hans-georg Backhaus

Dies ist ein Werk der MONTAGSGRUPPE
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